Gewalt gewährleistet niemals Sicherheit

In einem Interview von dieser Woche findet der frühere französische Aussenminister Dominique de Villepin klare Worte zum Nahost-Konflikt und das Versagen der israelischen Regierung. Wir haben die wichtigsten Aussagen zusammengefasst.

Dominique de Villepin
Dominique de Villepin, Screenshot vom Interview

Auszüge aus dem Interview mit Dominique de Villepin vom 7. November 2023 in France Info:

Die israelische Regierung, Benjamin Netanjahu, hat am 7. Oktober versagt, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens in ihrer Fähigkeit, den Schutz des israelischen Volkes zu gewährleisten, indem sie verabscheuungswürdige Massaker zuliess. Netanjahu trägt die direkte Verantwortung für das, was geschehen ist. Sein zweites Versagen besteht darin, dass er eine Politik der Besatzung und Kolonisierung gefördert hat, die im Westjordanland weitergeht und eine weitere Bedrohung für Israel darstellt, wenn eine zweite Front im Westjordanland eröffnet wird.

Gewalt gewährleistet niemals die Sicherheit eines Volkes! Das ist es, was alle Israelis heute verstehen müssen. Die israelische Regierung hat seit dem 7. Oktober die Entscheidung getroffen, die Gewalt zu eskalieren. Doch weder Gewalt noch Rache bringen Frieden und Sicherheit. Was für Frieden und Sicherheit sorgt, ist Gerechtigkeit! Und für Gerechtigkeit tut die israelische Regierung nichts.

Die Begründung für die Bombardierungen von Gaza lautet: «Wir zielen auf Terroristen, und leider trifft es auch die Zivilbevölkerung». In der Militärsprache wird das euphemistisch «Kollateralschaden» genannt. Doch diese Kollateralschäden sind nicht zufällig. Sie sind vorhersehbar und werden voll akzeptiert. Die gesamte internationale Gemeinschaft kann das falsche Spiel sehen.

Moderator: «Aber die Verantwortung liegt nicht allein bei Israel.»

Hören wir auf, nach der Verantwortung zu fragen. Sehen wir uns an, was vor Ort passiert! Die Schuldzuweisung sollten wir den Historikern überlassen. Wir wollen ein Ende der Gewalt, ein Ende der Massaker. Israel bringt sich mit seiner Art der Kriegsführung und seinen Angriffen selbst in Gefahr, heute mehr denn je.

Im Wesentlichen ist es eine Rachepolitik der Netanjahu-Regierung. Israel hat wie jedes Land das Recht auf Selbstverteidigung. Aber Selbstverteidigung gibt niemandem das Recht, wahllos Zivilisten zu töten. Wenn man einen Krankenwagen beschiesst, dann kann es sein, dass sich darin ein Terrorist befand – oder auch nicht. Aber in jedem Fall sterben Kinder und Frauen. Und für jedes getötete Kind und jede getötete Frau werden mehr Terroristen aufstehen. Das, was Israel damit erreicht, ist das Gegenteil von dem, was es sich wünscht. Es ist an der Zeit, diese Logik zu ändern und zu einer vernünftigen Strategie zurückzukehren.

Benjamin Netanjahu führt diesen Krieg, damit die politische Lösung nicht auf den Tisch kommt.

Zum Thema der Geiseln: Es muss alles getan werden, um ihre Freilassung zu erreichen. Aber vergessen wir nicht: Auch das palästinensische Volk wird als Geisel genommen. Und zwar sowohl von der Hamas als auch von Israel. Die Hamas, das wissen wir alle, kümmert sich wenig um das palästinensische Volk. 
Wenn man also der Hamas sagt: «Wir werden die Belagerung nicht aufheben, wir werden keinen humanitären Waffenstillstand haben, solange die Geiseln nicht freigelassen werden» – dann könnten wir auch mit Taubstummen verhandeln.

Benjamin Netanjahu führt diesen Krieg, damit die politische Lösung nicht auf den Tisch kommt. Und hier müssen die internationale Gemeinschaft – vor allem Europa und die USA – Benjamin Netanjahu sagen, dass sie diesen Krieg nicht akzeptieren. Der Krieg ist nicht akzeptabel, weil er zur Eskalation führt. Wenn er nicht gestoppt wird, wird es von der Hamas zum Iran übergehen, vom Iran zu anderen Zielen – und dann kommen wir in den Kampf der Kulturen. Wenn Benjamin Netanjahu sagt, dass auf der einen Seite die Menschen des Lichts und auf der anderen Seite die Menschen der Finsternis stehen, erkennen wir, in welche Spirale wir geraten.

Noch nie wurde ein so genannter Krieg gegen den Terrorismus gewonnen.

Alle Kriege der letzten zwanzig Jahren sind endlose, eingefrorene Konflikte. Wir scheinen zu wissen, wie man einen Krieg beginnt, aber nicht, wie man ihn beendet. Auch wenn Benjamin Netanjahu den Gazastreifen kontrollieren würde, ändert das nichts: Es wird weiterhin Terroranschläge geben, die Israelis werden weiterhin in Angst leben. 

Da müssen wir herauskommen. Noch nie wurde ein so genannter Krieg gegen den Terrorismus gewonnen. Denn Gewalt ist nicht die Antwort. Rache ist nicht die Antwort. Die Antwort ist Gerechtigkeit. Und alle Völker der Welt, alle, die heute das Geschehen beobachten, rufen nach Gerechtigkeit.

Wir müssen Benjamin Netanjahu daran hindern, seine selbstmörderische Logik fortzusetzen. Sie wird Israel sonst zu einem belagerten Staat machen. Und werden wir bald wieder einen befriedeten Diskurs mit Saudi-Arabien und den arabischen Staaten haben und die Situation normalisieren? Nein! Die Wunden der Geschichte sind wieder aufgebrochen.


Dominique de Villepin (*1953) war französischer Aussenminister 2002-2004, Innenminister (2004-2005) und Premierminister (2005-2007). Weltweit Aufsehen erregte er durch seinen Widerstand gegen den Irak-Krieg.




 


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