Gewaltfreiheit bedeutet, eine Zukunft zu schaffen, die keine Reaktion auf die Vergangenheit ist

Am 29.11. ist der Internationaler Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Wir lassen aus diesem Anlass einen Palästinenser zu Wort kommen, dessen Familie Gewalt und Vertreibung erlebt hat – der sich aber nicht dadurch definieren lassen will. Seine Frage lautet: Wie sieht das Palästina nach dem Ende der Besatzung aus?

(C) Olivenernte mit Einheimischen und Internationalen in Palästina - Foto: Holylandtrust

Palästina ist eine Region, die viel Gewalt erlebt hat. Mein Grossvater wurde vor über siebzig Jahren von der israelischen Armee getötet. Er hatte sieben Kinder zwischen zwölf Jahren und zwei Monaten. Durch sein Opfer konnte er verhindern, dass sie getötet wurden. Aber eine Woche nach seinem Tod kam die israelische Armee in das Viertel, in dem seine Familie lebte, und warf die Familie aus ihrem Haus.

Bis heute haben wir unsere Heimatstadt nicht mehr betreten. Wir kennen unser Haus in Jerusalem, es steht immer noch da. Aber wir sind nie dorthin zurückgekehrt. Mein Vater, seine Geschwister und ihre Mutter hatten ein sehr schweres Leben. Die meisten von ihnen wuchsen in Waisenhäusern auf. An vielen Tagen bekamen sie nichts zu essen. In vielen kalten Nächten hatten sie nicht genug Decken, um sich zuzudecken. Mein Vater erzählt, dass er nur ein Paar Schuhe hatte, in denen er fünf Jahre lang leben musste. Aber schliesslich kam eine Familie aus den USA und sah dieses kleine, dünne Kind in der Ecke des Waisenhauses sitzen. Sie adoptierten ihn. Mein Vater studierte in den USA und kam zurück nach Palästina. 

Dort fand er diese sehr schöne, attraktive junge Frau, verliebte sich in sie und machte ihr einen Heiratsantrag, worauf sie sagte: «Du bist verrückt.» Sie kannte ihn nicht, aber er liess nicht locker, und schliesslich gab sie auf und heiratete ihn. Und ein Jahr später wurde ich in den Vereinigten Staaten geboren, wo mein Vater arbeitete. Aber wir kehrten nach Palästina zurück, als ich sechs Monate alt war, und ich wuchs dort unter schwierigen Bedingungen auf.

SamiSami Awad kommt aus einer christlich-palästinensischen Familie in Jerusalem, die durch den Krieg 1948 vertrieben wurde. Einer seiner Vorbilder war sein Onkel Mubarak Awad, Lehrer für Gewaltfreiheit im Geiste Gandhis. In der ersten Intifada schloss sich Sami noch als Jugendlicher dem gewaltfreien Widerstand an. Mehrmals entkam er in letzter Sekunde der Inhaftierung, musste das Land aber dennoch bald verlassen und ging in die USA. Dort studierte er Friedensforschung und Konfliktlösung. Zurück in Palästina gründete er den Holy Land Trust in Bethlehem, eine Schule für Gewaltfreiheit.

Wir lebten unter militärischen Gesetzen und Befehlen und der israelischen Besatzung. Die israelische Armee kontrollierte unser Leben, was wir taten, wohin wir zogen, wo wir zur Schule gingen, ob wir reisten oder nicht, welche Steuern wir zahlten. 

Es ist einfach zu wissen, dass das falsch ist. Es ist einfach, etwas dagegen zu tun. Und es ist sehr einfach, sich für Gewalt zu entscheiden, um damit fertig zu werden. Aber ich wurde auch von einem Onkel beeinflusst, der ebenfalls aus den Vereinigten Staaten nach Palästina zurückkam. Er unterrichtete die Palästinenser, wie man sich der Besatzung mit Gewaltlosigkeit widersetzen kann. Diese Idee gefiel mir sehr, denn ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem es sich nicht richtig anfühlte, jemanden zu verletzen. Aber gleichzeitig konnte ich nicht schweigen und zusehen, wie diese Ungerechtigkeit fortgesetzt wurde.

Ein einzelner Mann! Ein Friedensaktivist! Damals erkannte ich: Da steckt etwas sehr Mächtiges drin.

Im Jahr 1988, als ich sechzehn Jahre alt war, liess die israelische Regierung meinen Onkel verhaften. Das israelische Gericht entschied, ihn wegen seiner gewaltfreien Arbeit aus dem Land zu werfen. Er wurde als Bedrohung für die nationale Sicherheit Israels eingestuft.

Mauer

Ein einzelner Mann! Ein Friedensaktivist! Damals erkannte ich: «Da steckt etwas sehr Mächtiges drin.» Und ich beschloss, mein Leben dem Studium und der Praxis der Gewaltlosigkeit zu widmen. Ich war sechzehn Jahre alt und wurde sehr, sehr aktiv und provozierte täglich das Militär und die Besatzer mit gewagten Aktionen. Mehrmals wurde ich fast verhaftet. Aber noch eine andere Autoritätsperson als die Armee machte sich Sorgen: mein Vater. Um mich zu schützen, schickte er mich in die USA, um Gewaltlosigkeit und Konfliktlösung zu studieren. Acht Jahre später, 1996, kam ich zurück. 

Inzwischen hatte ein Friedensprozess begonnen. Die israelische Regierung und die palästinensische Führung hatten sich gegenseitig anerkannt und gesagt: «Setzen wir uns zusammen und reden wir über Frieden.»

Viele Menschen auf beiden Seiten waren glücklich. Aber mir wurde bald klar, dass das keinen wirklichen Frieden bringen würde. Die Führer verhandelten, als wären sie auf dem Markt und nicht, als ginge es um unser Leben und das Leben der Israelis. Es war kein Prozess, der die Menschen zusammenbrachte, um sich wirklich zu versöhnen und ihre Konflikte zu lösen. Der Osloer Friedensprozess hat das Leben der Palästinenser schwerer gemacht hat, als es vor dem Friedensschluss war. Wieder hatten wir unser Vertrauen umsonst in die Politiker gesetzt. Inzwischen wissen wir, welche Katastrophen dabei herauskommen. 

1998 gründete ich den Holy Land Trust in Bethlehem. Ich möchte damit die Gemeinschaft in die Lage versetzen, aktiv mitzuentscheiden, wie ihre Zukunft aussehen soll. Wir wollen der Mehrheit der Menschen eine Stimme geben. Sie sind der Meinung, dass Frieden herrschen sollte. Aber sie haben keinen politischen Einfluss. Das wollen wir ändern. Und unser zentraler Wert ist die Gewaltlosigkeit, wir lehren gewaltfreien Widerstand und unterstützen Friedensinitiativen, Frauengruppen, Bauern, Kulturinitiativen in der palästinensischen Bevölkerung.

 

So. Das ist meine Geschichte. Eine Geschichte voller Gewalt und Vertreibung. Wo aber stehen wir jetzt? Was ist unsere Zukunft? Denn das ist die eigentliche Herausforderung. Leben wir unsere Geschichte weiter? Oder fangen wir an, Entscheidungen für eine bessere Zukunft zu treffen? Werden wir weiterhin Opfer der Situation um uns herum sein? Oder schaffen wir Möglichkeiten, sie zu ändern? Schaffen wir die Zukunft, die wir uns wünschen? 

Für mich bedeutet Gewaltfreiheit, eine Zukunft zu schaffen, die keine Reaktion auf die Vergangenheit ist. Es bedeutet, die Vergangenheit dort abzulegen, wo sie hingehört. Respektieren wir die Vergangenheit, ehren wir die Vergangenheit, lernen wir aus der Vergangenheit! Aber erlauben wir nicht, dass die Vergangenheit die Brille ist, durch die wir die Gegenwart und die Zukunft betrachten.

Ein kleines Kind weiss noch nicht, dass ein Ofen heiss ist. Also legt es seine Hand auf den Ofen und zieht sie schnell zurück, weil es wehtut. Unmittelbar wird dieses Lernen zu Vergangenheit. Wenn es jetzt einen Ofen sieht, weiss es, was zu tun ist. Das ist unser Lernsystem: Wir machen Erfahrungen, und die helfen uns, mit Situationen umzugehen. Aber in sehr schwierigen Situationen, so wie wir sie an vielen Orten der Welt heute erleben, versagt dieses Lernsystem. 

Ich bin ein spiritueller Mensch. Ich glaube, dass die Götter und Mutter Erde den Weg für uns geebnet haben. Sie sagen uns: «Gestaltet eine Zukunft, die nicht einfach eine Folge der Vergangenheit ist. Wenn ihr es nicht tut, werden wir einen Heilungsprozess einleiten, der für diese Erde sehr schmerzhaft sein wird.»

Unsere Erde braucht eine globale Revolution. Wir sind alle Teil davon, und wir sind alle verantwortlich für sie. Es ist eine Revolution, in deren Kern die Liebe steht. Ich verstehe mehr und mehr, dass meine Arbeit in Palästina Teil eines globalen Vorgangs ist, der uns alle verbindet. Wir wollen tatsächlich die Welt verändern. Ich bin in der ganzen Welt zu Hause, aber Palästina ist meine Adresse. Und eines ist klar: Eines Tages, früher oder später wird die Besatzung vorbei sein. Ich will nicht mehr meine ganze Energie darauf richten, wie ich die Besatzung beenden kann. Ich will mich aber auch nicht einfach mit ihr abfinden. Statt dessen frage ich alle, mit denen ich arbeite: Wofür setzt du dich ein - wie sieht Palästina nach dem Ende der Besatzung aus? 

In manchen Momenten habe ich eine starke Vision vom Heiligen Land, von Israel-Palästina. Das ist keine Fantasie, kein Land in den Wolken, sondern das Land von heute, die Menschen von heute. In dieser Vision liegt aber über allem eine Aura von Ruhe und Frieden: über den Bergen, den Blumen, den Menschen. Es gibt keine Trennung von Israelis oder Palästinensern, von Juden, Muslims oder Christen. Es gibt nur Menschen. Ich glaube, wir alle kommen aus einer ursprünglichen Einheit. Wir alle werden an den Punkt kommen, wo wir wieder eins sein werden. Keine Nationalitäten werden zwischen uns stehen. Keine Religionen werden zwischen uns stehen. 

Die Kraft, die diese Veränderung möglich macht, ist die Kraft der Gewaltfreiheit. Durch die Kraft der Gewaltfreiheit zeigen wir unsere Solidarität, unser Mitgefühl, unsere Fähigkeit, gegen Ungerechtigkeit Widerstand zu leisten. 

Die Antwort auf all diese Fragen führt uns zu der Kraft, die in uns liegt und mit der wir Berge versetzen können. 

Ich liebe diesen Mann, der vor 2000 Jahren auf der Erde herumlief und unglaubliche Dinge tat. Er heilte die Kranken, er lief über das Wasser, er machte Blinde sehend. Man kann es glauben oder nicht, aber das sind die Geschichten, die man erzählt. Dieser Mann sagte: «Wenn ihr glaubt, könnt ihr grössere Dinge tun als ich.» 

Wenn du glaubst, kannst du grössere Dinge tun als Jesus. Diese Aussage zeugt von Bescheidenheit, Liebe und Vertrauen in den Menschen, in die menschliche Kraft, die wir in uns haben. Wir können grössere Dinge tun als die Propheten, als die heiligen Männer. Wenn wir glauben. Und das ist die Frage: Woran glaube ich? Woran glaubst du? Was ist das Beste in mir? Was ist das Beste in euch? Was verbindet uns? Was macht es möglich, dass wir die Welt verändern? 

Die Antwort auf all diese Fragen führt uns zu der Kraft, die in uns liegt und mit der wir Berge versetzen können. 

27. November 2022
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