Kolumne: Botschaften aus der Zukunft
Unsere Autorin hat eine geteilte Persönlichkeit – ein Teil befindet sich in der Vergangenheit, ein Teil im Heute und ein äusserst besserwisserischer Teil in der utopischen Zukunft. «Wir haben es geschafft», behauptet dieser dritte Teil. «Wir haben die friedliche Umwälzung erreicht – und ausgerechnet unser gemeinsamer Feind hat dabei geholfen.»
Manchmal wünschte ich, ich könnte Botschaften an mein jüngeres Selbst in die Vergangenheit senden. Zum Beispiel von hier, aus dem Wendland, das ich gerade besuche. Vor 42 Jahren habe ich ganz in der Nähe mit tausenden anderen jungen Menschen gegen das Atommüllendlager Gorleben protestiert. Ich erinnere mich an die nächtliche Bauplatzbesetzung, an Beton und Natozäune, an Polizeikohorten mit geschwärzten Gesichtern, die auf ihren Einsatzbefehl warteten. Damals machte die Polizei das Hüttendorf Freie Republik Wendland dem Boden gleich. Dieser wunderschöne Aufbruch von Hoffnung, Kreativität und gemeinschaftlichem Leben hatte nur 33 Tage gehalten. Das war bitter – so wie das Bewusstsein eines drohenden Atomtodes.
Auch die nahgelegene Elbe war damals ein Ort des kalten Krieges und des Todes. Gegenüber, auf dem anderen Ufer standen die bedrohlichen Grenztürme der DDR. Von dort aus wurden Menschen erschossen, die in den Westen fliehen wollten. Heute fliesst hier gemächlich ein in der Sonne golden glänzender Strom durch Wiesen und Wälder. Die früheren Wachtürme werden höchstens aus geschichtlichen Gründen erhalten. Die zu Abertausenden auffliegenden Blessgänse sind das einzige hier, was schreit. Von heute gesehen, hat gerade die Feindseligkeit der innerdeutschen Grenze dafür gesorgt, dass die Elbe hier nicht ausgebaut und befestigt wurde, sondern als seltene Flussauenlandschaft relativ naturbelassen erhalten wurde.
Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient nicht einmal einen flüchtigen Blick, denn sie lässt die Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird.
Oscar Wilde
Gegenkräfte bewirken also mitunter Wunder. Ähnliches erwies sich beim Atomthema: Erst vor einem Jahr wurde Gorleben die Absage als Atommüllendlager erteilt. Über 40 Jahre lang leisteten Ansässige und Zugezogene – also Bauern, Städter, Autonome, Intellektuelle, Künstler, Anthroposophen, Christen und Punks – Widerstand. Der gemeinsame Feind hatte aus ihnen eine nachhaltige Allianz geschmiedet. Bei aller Unterschiedlichkeit mussten sie sich mindestens einmal im Jahr, bei jedem Castro-Transport, aufeinander verlassen können. Mit der Zeit brachten sie eine Kulturlandschaft neuen Typs hervor – mit Gemeinschaften wie dem Michaelshof in Sammatz, neuen Siedlungen wie Hitzacker Dorf, touristischen Hüttendörfern wie Destinature – und vielem anderen, was Hoffnung macht. Sicher sind es auch Kinder damaliger Polizisten und Politiker, die heute dort Urlaub machen!
Wer hätte sich das damals träumen lassen! Nicht mein damaliges jüngeres Selbst, das da frierend, hoffnungslos und trotzig den Bauplatz besetzte! Ich möchte ihm eine Botschaft zurufen: Verschwende deine Energie nicht damit, deine Gegner zu hassen! Sie könnten genau der Faktor zum Erfolg sein. Wie viel Wärme, Mut und Hoffnung diese Utopie mir eingeflösst hätte! Wie unbeschwert, geradezu mitleidig, auf alle Fälle aber überlegen ich Polizisten und Politikern hätte begegnen können, immer auch im Gefühl des späteren Sieges.
Damit komme ich zur nächsten Frage: Was hätte ein zukünftiges Ich meinem heutigen zu sagen? Wie würde es aus der Perspektive von – sagen wir – 2064 sprechen? Wenn dann überhaupt noch jemand frei sprechen kann, dann doch sicher aus einer Position des Sieges: «Die friedliche Umwälzung ist gelungen! Wir haben den Krieg, die Naturzerstörung, die wachsende Armut, das Artensterben beendet und eine gerechte, nachhaltige Welt geschaffen.» Und wer, fragt sich mein heutiges Selbst, wird diesmal ungewollt mitgeholfen haben? Wer ist heute der grösste Feind friedlicher Transformation? Natürlich: Die Massenmedien! Sie werden genau das Gegenteil von dem bewirken, was sie wollen, das Wunder, das wir aus eigener Kraft nicht schaffen.
– – Massenmedien als Bündnispartner für Frieden und Wahrheit? Und schon, liebe Leser, sehe ich mich auf der Anklagebank sitzend. Euer Urteil über mich steht schon fest, es lautet: Hoffnungslos naiv! Na schön. Auch vor 42 Jahren hätten mich die Atomgenossen hoffnungslos naiv geschimpft, wenn ich den Botschaften meines zukünftigen Ichs geglaubt hätte. Jetzt frage ich die Zukunft weiter: Wie haben ausgerechnet die Massenmedien dabei geholfen, dass wir den Krieg beenden? – –
Die Zukunft schweigt. Ich muss also selbst meine utopische Fantasie anstrengen. Und siehe: Der Super-GAU der Kommunikationsindustrie ist nahe. Sie hat sich so weit von der Wahrheit entfernt, dass sie nicht einmal mehr als entfernter Indikator von Realität wahrgenommen wird. So beginnen die Menschen wieder, selbst zu denken. Sie hören einander zu, denn sie sind sich gegenseitig die wichtigsten Nachrichtenquellen. Und so entsteht eine ganz neue Medienwelt: Zeugnisse engagierter Menschen, Aktivisten, vernetzter Gruppen, zusammen mit Berichten von Journalisten, die es wirklich ernst meinen, haben die alte Medienindustrie abgelöst. Und Menschen, die sich vertrauen, die selbst denken und aufgrund wahrer Informationen handeln, haben - im Jahr 2064 - schließlich die friedliche Umwälzung geschafft.
Naiv? Vielleicht. Aber auch nicht mehr als vor 40 Jahren die Vorstellung gewesen wäre, dass es die jahrzehntelange Atomdrohung war, die eine so bunte und nachhaltige Alternativkultur im Wendland möglich machte.
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