Mit Bürgerräten die Demokratie revitalisieren? - oder: Demokratiestärkung als Teil des Empörungsmanagements
Bürgerräte sind kein Allheilmittel für Demokratiedefizite und dürfen nicht dafür missbraucht werden, berechtigte Kritik und Empörung auszubremsen.
Bundeskanzler Scholz fand in seinem Sommerinterview den Vorschlag mit den «Bürgerräten» am «sympathischsten» für die Corona-Aufarbeitung. Der Vorteil von Bürgerräten sei, so Scholz, dass dort nicht nur Experten und Abgeordnete dabei seien, «sondern eben auch Bürgerinnen und Bürger». Die Bürgerräte als eine Art demokratischer Extra-Raum, in dem die Bürger ihre Meinung äussern «dürfen», gewinnen in der deutschen Politik demnach immer mehr Sympathisanten. Sie gelten als demokratische Innovation und sollen dieIdeen, Perspektiven und das kreative Potenzial der Bürgerschaft mit einbinden.
Auffallend: Politik und Stiftungen setzen auf Bürgerräte
Bürgerräte sind Versammlungen von 30 bis 200 per Los in einer «Bürgerlotterie» ausgewählten Bürgern, die bei mehreren Terminen gemeinsam und in Kleingruppen ein vorgegebenes Thema diskutieren und der Politik ihre Handlungsempfehlungen als Bürgergutachten übergeben. Etliche Berichte und Dokumente zum ersten offiziellen Bürgerrat des Bundestags mit dem Thema Ernährung dokumentieren sehr ansprechend den Ablauf und die Ergebnisse desselben und sind auf den Seiten des Bundestags zu finden.
Unter anderem auch ein motivierender Imagefilm, in dem Bundestagspräsidentin Bärbel Bas persönlich zu den ausgewählten Teilnehmern des Bürgerrats spricht. Auch die Ausgewählten selbst kommen zu Wort.
Ein solcher Bürgerrat erwartet ohne Zweifel einbeachtliches Engagement vom Einzelnen. Es gibt Treffen, zu denen man fahren muss, eventuelle Übernachtungen, die zu bezahlen sind, Freizeit oder Urlaub, die man opfern muss. Wichtig sei, so Bärbel Bas, dass jeder der beteiligten Bürger sagen könne: «Ich konnte mich einbringen. Meine Meinung wurde gehört.»
Bas weiter:
«Wir werden uns sehr ernsthaft mit Ihren Vorschlägen auseinandersetzen und freuen uns schon sehr, wenn wir im Februar das Bürgergutachten bekommen, um unsmit Ihren Vorschlägen in den Fachausschüssen und im Parlament auseinanderzusetzen.»
Sehr ernsthaft auseinandersetzen – ob das den Bürgern reicht? Sie können jedenfalls auf der Internetseite des Bürgerrats nachlesen, welchen Einfluss ihre neun Empfehlungen zur Ernährungspolitik an den Bundestag haben.
Im Abschlussbericht des IDPF, der den Bürgerrat wissenschaftlich evaluierte, wird jedoch deutlich, dass man die Bürgerempfehlungen nicht wirklich einkalkuliert hatte:
Die «Ernährungsstrategie» der Bundesregierung lief zeitlich parallel und sie wurde kurz nach Veröffentlichung der Empfehlungen des Bürgerrates verabschiedet. Dieses Nebeneinander ist nicht auf Anhieb plausibel und erzeugt mindestens zusätzlichen Erklärungsbedarf; um nicht das Gefühl der Selbstwirksamkeit, die allgemeine Zufriedenheit und das Vertrauen in den Bürgerrat zu schwächen.
Ein weiterer Stolperstein für die Erarbeitung und Umsetzungschancen der Bürgervorschläge zum Thema Ernährung war laut IDPF die unzureichende Transparenz «in diesem teilweise europäisierten, teilweise föderalen Politikfeld.»
Das Thema war schwer ab- und einzugrenzen. War der ganze demokratische Bürgerrat trotz enormem Aufwand an Manpower und Geld doch nicht so überlegt und kompatibel?
Stiftungen finden Bürgerräte sympathisch. So setzt sich beispielsweise die Bertelsmann-Stiftung, die als Politikberaterin auftritt und soziale Innovationen anstossen möchte, für Bürgerräte ein. Durch ihr Projekt New Democracy möchte sie Demokratien resilienter machen und «besser schützen gegen populistische Gefährdungen von innen und systemische Angriffe von aussen.» Und sich zugleich «für neue partizipative und inklusive Formen der Demokratie und deren Integration in die reguläre Politikgestaltung» einsetzen.
Ziel der Bürgerräte: Sich gut vertreten «fühlen»?
Sollen die Bürger sich – wie es bei Bertelsmann formuliert wird – durch Bürgerräte «möglichst gut vertreten fühlen»? Oderwerden sie dadurch wirklich gut vertreten? Geht es um authentische demokratische Auseinandersetzung oder um eine Demokratie-Show?
Dieser Frage ging Susanne Gaschke bereits 2023 in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) nach.
Es gebe durchaus Gründe dafür, die politische Stimmung zu verbessern, konstatiert die Journalistin anfangs. Aber die erwachsenen Staatsbürger in den Bürgerräten dürfen sich die Themen, die sie diskutieren und bearbeiten sollen, nicht einmal selbst aussuchen, sondern bekämen diese vorgegeben.
So ist zum Bürgerrat Ernährung auf der Seite des Bundestags zu lesen:
Am 10. Mai 2023 haben die Abgeordneten beschlossen, dass sich der erste Bürgerrat des Deutschen Bundestages mit dem Thema «Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben» befasst.
Die Organisation der Bürgerräte,das Prozessmanagement wird teilweise oder ganz an professionelle Anbieter outgesourct.
«Der Bundestagsverwaltung fehle es an «spezifischer Fachkenntnis», um diese Formate selbst zu betreuen, hiess es auf Anfrage», schreibt Gaschke. Die Bürger organisieren ihren Rat also nicht selbst, sondern werden zu vorstrukturierten Abläufen eingeladen.
So wurde das Programm des Bürgerrats«Ernährung im Wandel» unter der Federführung des Vereins«Mehr Demokratie e. V.», der sich selbst als «grösste Nicht-Regierungsorganisation für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung» bezeichnet, gestaltet. In den vorliegenden Berichten über den «Prozessablauf» ist neutral vom «Durchführungsteam» die Rede.
Wie unabhängig sind die Experten?
Für ihre Arbeit erhalten die Bürger in den Räten Hintergrundinformationen von Experten und zusätzlich unterstützt ein neutrales Moderationsteam die Diskussion. Die Auswahl der Experten nimmt der Wissenschaftliche Beirat vor, der von den Fraktionen im Deutschen Bundestag benannt wurde.
Er bestand beim Bürgerrat Ernährung aus elf Wissenschaftlern von Hochschulen oder staatlich anerkannten Einrichtungen. Wie neutral ist die externe Expertise in den Bürgerräten?
Frech gefragt durch die RKI-Files-Brille: Sind die diversen Fachleute genauso neutral und unabhängig wie die Coronaexperten, die die Regierung 2020 bis 2022 bezüglich der Corona-Massnahmen beraten haben? Die Zielsetzung des nationalen Klima-Bürgerrats im Jahr 2021 etwa liess jedenfalls keine Grundsatzdiskussionen zu:
Somit muss Deutschland einen gerechten Beitrag dazu zu leisten, den globalen Temperaturanstieg deutlich unter 2 Grad und möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen. Zu erarbeiten wie dieses Ziel auf eine Weise erreicht werden kann, dass die deutsche Bevölkerung es politisch mittragen würde, war Aufgabe unseres Klimabürger*innenrats.
«Neutralität» kann sehr abhängig von dem sein, der sie definiert, stellt Gaschke in ihrem NZZ-Artikel zu Recht fest.
Umfragen zeigen gute Ergebnisse für das Format Bürgerrat
Laut dem Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF) der Bergischen Universität Wuppertal und Verian kam der Bürgerrat Ernährung bei zwei zeitversetzten repräsentativen Umfragen in der Bevölkerung gut an.
Auf der Seite des Bundestages ist zu lesen:
Zu beiden Befragungszeitpunkten fand die grosse Bevölkerungsmehrheit von vier Fünfteln …, da ss es eine sehr gute oder gute Idee war, den Bürgerrat einzusetzen. Diese positive Einstellung zum Bürgerrat zieht sich quer durch alle Bevölkerungsgruppen, unabhängig von Alter, Bildung, Einkommen, Wohnort oder politischem Vertrauen.
Auch für die Fortführung von Bürgerräten gab es eine hohe Zustimmung. Die grosse Bevölkerungsmehrheit von vier Fünftel der Befragten empfiehlt, dass der Deutsche Bundestag in Zukunft weitere Bürgerräte auch zu anderen Themen einberuft. Es gab aber auch kritische Stimmen, Ablehnung und Probleme, auf die im IDPF-Bericht eingegangen wird.
Markt für Demokratiestärkung
Bürgerräte sind vor rund 50 Jahren als Instrument der «dialogischen Bürgerbeteiligung» entstanden und sollten ursprünglich die gesetzlich vorgeschriebene Bürgerbeteiligung im kommunalen Bereich effektiver machen. Mittlerweile werden sie auch auf nationaler Ebene eingesetzt, z.B. in Deutschland bei Themen wie Ernährung oder Klima .
Bürgerräte werden je nach Thema und Zuständigkeit durch Bund, Land, Gemeinde oder Europäische Union finanziert. Für den Bürgerrat Ernährung veranschlagte die Bundestagsverwaltung Kosten von bis zu drei Millionen Euro.
Ein Blick hinter die Kulissen zeigt: Der Verein «Mehr Demokratiee.V.», der den Bürgerrat Ernährung umsetzte, netzwerkt mit der Bertelsmann-Stiftung. Diese setzte sich im September 2022 in einer jährlich stattfindenden Konferenz intensiv für die Institutionalisierung deliberativer Demokratie ein, also für die Teilhabe von Bürgern an öffentlicher Kommunikation.
Das Jahrestreffen 2022 wurde vom australischen Democracy R&D-Netzwerk in Zusammenarbeit mit folgenden deutschen Partnern organisiert: Bertelsmann Stiftung, nexus institute, Mehr Demokratie e.V. und Technische Universität Berlin. Die Open Society Foundations von George Soros unterstützten finanziell Anreise und Unterkunft. Die Bertelsmann Stiftung war für die Registrierung und Verwaltung der Teilnehmer zuständig. Die Homepage des Vereins Mehr Demokratie e.v., aber auch das Programm der Konferenz 2022 auf der Seite der Bertelsmann-Stiftung zeigen, was für ein florierender und verflochtener Markt die Demokratiestärkung doch ist. Die Konferenz wird denn auch als eine «grosse Messe der deliberativen Demokratie» beschrieben .
2024 findet diese Konferenz im September in Vancouver/Kanada statt. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung investiert in Demokratie. Hierzu Gaschke:
100 Millionen Euro im Jahr gibt sie für politische Bildung aus, 212 Millionen (und damit mehr als die gesamte Parteienfinanzierung) das beim Familienministerium angesiedelte Programm «Demokratie leben». Es soll mit antirassistischen und antisexistischen Projekten ebenfalls die Demokratie stärken. Die Bürgerräte wären nun ein weiteres Projekt ohne empirisch bestimmbare Wirksamkeit.
Den wenigsten Bürgern – auch nicht den Teilnehmern in den Räten - dürfte klar sein, wie sehr ihr Demokratiebewusstsein gezielt und kontinuierlich moduliert, moderiert und mit Steuergeldern gestaltet wird. Weitere Bürgerräte sind schon in Vorbereitung: Der Deutsche Bundestag will bis Ende 2025 drei zufällig geloste Bürgerräte zu bundespolitischen Themen einberufen. Und die Finanzierung ist bereits gesichert!
Mit diesen werbewirksamen Aussagen verkauft «Bürgerrat» alias «Mehr Demokratie!» sein Produkt Bürgerrat: Bürgerbeteiligung beuge der Entwicklung von Konflikten vor und stärke die Identifikation der Menschen mit ihrem politischen System, das dadurch gleich doppelt profitiere. Ein weiterer Vorteil sei die dauerhafte Aktivierung von Bürgerrat-Teilnehmern, die sich auch nach Ende der Losversammlung zumindest teilweise weiter für Demokratie und Gemeinwohl engagierten. Sie hätten in Bürgerräten erlebt, dass sie politisch kompetent seien, ihnen zugehört würde und ihr Beitrag dort Wirksamkeit entfalte. Erfahrungen, die die meisten Menschen auf diese Weise in ihrem Leben sonst nicht machen. Diese Erfahrung präge.
Das wirft die Frage auf: Ist es wirklich die Grunderfahrung von Bürgern, dass ihnen ausserhalb etwaiger Räte nicht zugehört wird?
Demokratiearbeit wird von der Politik selbst konterkariert
Gaschke moniert die widersprüchliche Vorgehensweise der Politik, die «mit 160 Zufallsbürgern die Demokratie stärken will, während sie gleichzeitig für eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre plädiert. »
Gesetze im Schnellverfahren, ohne ausreichende Beratungszeit und ohne die vorgesehenen Expertenanhörungen, durch den Bundestagzutreiben, sei ausserdem eine Unart der Ampelregierung, die in der Coronazeiteingerissen sei.
Selbst Bundestagspräsidentin Bärbel Bas warnt: «Wir dürfen nicht zulassen, dass der Deutsche Bundestag als zentrales Verfassungsorgan und damit auch das Vertrauen in die Demokratie geschwächt wird.»
Ein deutliches Demokratiedefizit, diagnostiziert Gaschke. Man müsse ihrer Ansicht nach eher die Regelangebote der Demokratie stärken: «Mehr Offenheit bei der Personalrekrutierung abverlangen, höhere Anforderungen an ihre Amts- und Mandatsträger stellen und auf die Qualität der parlamentarischen Debatten achten.» DieBürgerräte sieht die Journalistin eher als Beschäftigungstherapie und paternalistische «Gesprächsangebote».
Wut soll kanalisiert werden
Tobias Riegel von den NachDenkSeiten kommentiert den Vorschlag des Bundeskanzlers, die Bürger sollten die Corona-Aufarbeitung in Bürgerräten selbst übernehmen, folgendermassen:
Das ist als Versuch zu bezeichnen, die falsche Politik eben nicht systematisch aufzuarbeiten, sondern nur die Wut über diese Politik in folgenlosen Bürgerrunden zu kanalisieren.
Riegel zitiert ausserdem «Die Welt»: «Der Vorschlag ist eine Frechheit. Statt die Pandemie-Politik systematisch mit Wissenschaftlern im Parlament aufzuarbeiten, soll diese komplexe Aufgabe kurzerhand an eine kleine Gruppe Bürger delegiert werden. Diese müsste dann auf Grundlage persönlicher Anekdoten bewerten, welche Massnahmen wann verhältnismässig gewesen sind. Eine schlicht absurde Idee, die zeigt, wie sehr die SPD eine ernsthafte Aufarbeitung fürchtet und versucht, jegliche Verantwortung von sich zu schieben.»
In den Augen der Politikredakteurin Kaja Klapsa von «Die Welt» ist nur eines richtig: «Statt einer symbolischen Alibiveranstaltung muss die Ampel dafür sorgen, dass die Aufarbeitung im Parlament stattfindet.»
Bürgerräte sind eben kein Allheilmittel für Demokratiedefizite und dürfen nicht dafür missbraucht werden, berechtigte Kritik und Empörung auszubremsen. Frei nach dem Motto: «Corona-Aufarbeitung? Haben wir gemacht. Da gab’s doch einen Bürgerrat. Abschlussbericht können Sie sich von der Bundestagsseite herunterladen. Steht alles drin. Habenuns«sehr ernstdamit auseinandergesetzt.»
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Terra-Nova-Podcast: Die Spaltung überwinden - ein Gespräch mit Roman Huber
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