Die guten Menschen von Subotica
Wie soll das gehen: von einer Liebe erzählen, die es nicht gäbe ohne das Leid und die Verzweiflung derer, die vertrieben wurden?
Zuzana bricht auf. Die Liebe ist traurig, doch voller Wunder.
Zuzana aus Bratislava steht verkatert in der Küche, als im Fernsehen über die Tausenden Geflüchteten am Budapester Bahnhof Keleti berichtet wird, sie stellt das Glas ab, dreht sich um, hört die Klagen der Mütter, hört die Flüche der Väter, sie sieht die Angst in den Augen der Kinder, vor allem der Kinder. Zuzana, dreissig Jahre, blondiert, lackierte Fingernägel, schüttelt sich.
Es ist der 3. September 2015 und in zwei Monaten wird ihr Leben ein anderes sein.
Als kleines Mädchen stieg sie oft in Keleti aus, um ihre Verwandten in Ungarn zu besuchen, ein grosser, heller, prächtiger Bahnhof, jetzt aber wollen ihr die Bilder der Geflüchteten nicht mehr aus dem Kopf, so mach doch was, Zuz, mach was! Sie telefoniert mit Freunden, postet auf Facebook, eine Woche später fährt sie mit zwölf Autos voller Hilfsgüter nach Budapest. Wieder zurück in Bratislava, zurück am Bürotisch, zurück in der Wohnung bei ihrem Freund, rumort es in ihr. Es ist Wochenende, also rauchen, tanzen, trinken – doch Zuzana will nicht mehr. Stattdessen liest sie in der Zeitung von einem Priester namens Tibor Varga und der redet von einem neuerlichen Flüchtlingsdrama, jetzt in Horgos, an der serbisch-ungarischen Grenze, Herrgott. Da packt sie ihre Tasche, 375 Kilometer sind es von Bratislava nach Horgos, die Landschaft ist wunderschön, doch Zuzana rast an ihr vorbei. Unterwegs hört sie, dass die Geflüchteten an die kroatische Grenze gebracht wurden, das Camp in Horgos sei endlich aufgelöst, alle weg, alles gut.
Zuzana fährt trotzdem hin, warum, das weiss sie bis heute nicht. Dort sie trifft auf eine Handvoll Helfer und dreihundert Verlorene, Verlumpte, Verzweifelte, Vergessene, die meisten mit Husten und ohne Geld, es ist der 17. September 2015, und heute sagt Zuzana: «Was ich an diesem Tag sah, veränderte mein Leben.»
Kristóf schaut hin. Hier oben, im Norden Serbiens, ist Kristóf ein Rockstar, Marke Kurt Cobain oder Nick Carter, Backstreet Boys, anno ’99. Zuerst hatte er Philosophie studiert, dann arbeitete er als Förster in den Wäldern an der serbisch-ungarischen Grenze, wo er, vielleicht zum ersten Mal, diese Gestalten im Unterholz sah, junge Männer aus Syrien, Afghanistan, Pakistan. «Hey, guck nicht so und mach deine Arbeit, Kristóf, das sind üble Typen», sagte sein Chef.
Aber Kristóf schaut hin und redet mit ihnen, immer wieder. Und er spürt diese Wut von damals, als Krieg in seinem Land war: 1992 bis 1994, ein fürchterlicher Krieg, und er, noch Bub, seine Eltern anschrie, immer wieder: so macht doch was, macht was! Jetzt aber fragt Kristóf seinen besten Freund, leise: «Wie kann ich helfen?», und David schickt ihn nach Horgos, dort wartet Tibor Varga am Grenzzaun, Davids Vater und gute Seele aller Armen im Land. Endlich seien die Flüchtlinge aus Horgos weg, berichten die Medien, Tibor aber schüttelt den Kopf, er blickt in die schwarzen Augen der dreihundert Elenden, und auch Kristof kann, was er an diesem Tag sieht, kaum fassen.
Es ist der 17. September 2015, später Nachmittag, und Kristóf steckt sich eine Zigarette an.
Von weitem hört er eine Frauenstimme und wie sie auf Tibor einredet: «Die Leute im Lager brauchen Wasser», und Kristóf ruft ihr zu: «Dann lass uns Wasser holen, ich fahre.» Unterwegs sagt er nur: «Ich heisse Kristóf und das ist meine Nummer», was soll ich damit, fragt sie sich, es beschleicht sie ein unbekanntes Gefühl, vielleicht ist es sogar ein warmes.
Zuzana braucht Hilfe. Noch nie hat sie jemanden um Hilfe gebeten, und immer hat sie geholfen. Jetzt, am Abend des 17. September, mit sich allein im Flüchtlingslager von Horgos, mit diesen Bildern im Kopf, jetzt wählt Zuzana Kristófs Nummer, Hol mich weg von hier, bitte!, und Kristóf bringt sie bei einem Freund unter, am nächsten Tag treffen sich alle in Subotica, der letzten grossen Stadt vor der ungarischen Grenze, David ist da, Kristóf, seine Freundin, auch Zuzana kommt, sie ist müde, vielleicht auch traurig, und irgendwann an diesem Abend setzt sich Kristóf zu ihr und legt ihren Kopf in seine Hand, einfach so, es ist wie ein Wunder, und Zuzana sagt zu Kristóf: «Ich könnte ewig hier bleiben», und Kristóf sagt: «Dann bleib.»
Im Morgengrauen nimmt Zuzana den Zug nach Bratislava, sie weiss, das Leben dort ist zu Ende. Sie verlässt ihren Freund, nimmt Lucy, den Hund, sie wohnt für einige Tage bei Bekannten und hat bei allem, was sie tut und denkt und fühlt, ihn vor Augen.
Ich war in der Hölle und bin einem Engel begegnet, schrieb Zuzana an eine Freundin, als sie noch in Horgos war und dieser Mann mit der Zigarette im Mund ihr zurief: «Dann lass uns Wasser holen!»
Sie hat ihn gefunden und er sie. Ob sie sich damals in ihn verliebt hat? «Es war viel mehr als das», sagt Zuzana. «Ich hatte ja alles: Geld, einen guten Job, Liebhaber, Freunde, Partys, tolle Klamotten, und doch...» Etwas fehlte, aber sie wusste nicht was. Bis die Verzweiflung in den Augen der Geflüchteten ihr den Atem nahm, und sie wusste: ich muss helfen. Und sie diesem Mann begegnete, und sie erkannte: ich darf mir helfen lassen.
«Ich fand in Kristóf, was ich bei mir selbst vermisst hatte», sagt Zuzana und legt ihren Arm um den Mann mit der Zigarette im Mund.
«Ich fand in Zuzana, was ich bei mir selbst vermisst hatte», sagt Kristóf und zerteilt das Huhn auf dem Holzbrett.
Mein zu dein und dein zu mein.
Kristóf sitzt mit Zuzana in der Küche seiner Eltern, es ist Mitte Oktober 2015, und als die Mutter Suppe auftischt, sagen die beiden: «Wir sind wie Zwillinge.»
Anderntags kehrt Zuzana noch einmal nach Bratislava zurück und kündigt ihre Arbeit und Kristóf findet in Subotica eine Wohnung und zwei Wochen später, am 1. November 2015, ziehen sie ein.
Warum tut ihr das? Frühling 2016, die Balkanroute wird geschlossen und an der serbisch-ungarischen Grenze staut sich wieder einmal das Elend der Vertriebenen. Sie können nicht weiter, sie können nicht zurück, aber sie hoffen. Auf die Güte der Menschen, auf Europas Wohlwollen, auf Gott allein.
Schon viele Monate zuvor liess Ungarns Premier Viktor Orbán verlauten, dass diese Fremden, diese Anderen, diese Kriminellen uns überschwemmen werden und überall Schrecken und Schmutz verbreiten. Dann zieht er an der Grenze zu Serbien einen Zaun, 175 Kilometer lang, drei Meter hoch, darüber ein NATO-Draht, und kaum einer im Land protestiert. Es wird Sommer, es wird Herbst. Viele Geflüchtete wollen sich nicht in Serbien registrieren lassen aus Angst, sie könnten abgeschoben werden. Dann kommt der Winter, der in diesem Jahr noch eisiger ist als sonst, und zu Hunderten fliegen Journalisten und Fotografen aus aller Welt nach Serbien, sie reden von einem «neuen Griechenland», einem «Slum der Heimatlosen mitten in Europa» und so fort.
Auch Zuzana fragt sich: Wie kann einer ein guter Mensch werden, wenn alles um ihn herum verrottet?
Zweimal die Woche, jeden Donnerstag und jeden Samstag, stehen sie in ihrer kleinen Küche, sie schneidet Kartoffeln, Rüben, Zwiebeln, Lauch, und Kristóf zerteilt auf dem Holzbrett das Huhn: 90 Liter Eintopf für zweihundert Geflüchtete, die seit Monaten in einer verlassenen Ziegelei nahe von Subotica leben, im Durchzug und im Dreck, allein mit ihren Geschichten, die zu verblassen drohen.
Warum tut ihr das?, fragen ihre Freunde, die Nachbarn, die Leute auf der Strasse, alle schütteln sie den Kopf
und wenden sich ab, es fehlt uns doch selbst am Nötigsten, an Arbeit, Geld und Hoffnung und an einem bisschen Freude!
Wie einem anderen das Selbstverständliche erklären? Wie ihm beibringen, dass einander helfen und sich helfen lassen so ist wie atmen, träumen, trauern? Wie von dieser Liebe erzählen, die es nicht gäbe ohne das Leid und die Verzweiflung derer, die aus ihren Ländern vertrieben wurden? Und wie sich nicht schämen dafür?
Zuzana und Kristóf hatten es versucht, es ging nicht. Vielleicht zogen sie auch deshalb im letzten Mai von Subotica weg nach Orom aufs Land, pachteten eine gottverlassene Farm, schufteten Tag und Nacht bis in den Herbst und froren, wie die jungen Männer in der Ziegelei, gemeinsam durch den Winter.
Ein Frühling kommt. «Einfach war es nie», sagt Zuzana an diesem Tag im Februar 2017, das Blond in ihrem Haar ist längst verschwunden. Eineinhalb Jahre ist es her, als sie in den Nachrichten von den Geflüchteten am Keleti Bahnhof in Budapest hörte und sich aufmachte zu einem anderen Leben.
Ein anderes Leben.
Ob sie wohl glücklich ist?
Es sei alles voller Wunder, sagt Zuzana, ihre Liebe zu Kristóf, die Kraft der Verzweiflung, die Trauer, die sich mit einem Mal in Freude verwandelt, der Wind über den Feldern, das unverdiente Glück, der Frühling, der nun doch noch ins Land kommt. Gottseidank. Vorbei die Kälte, die Nässe, vorbei wieder einmal alle Tränen.
Es ist ein Donnerstag, Zuzana und Kristóf steigen in ihren Wagen und fahren hinaus zur Ziegelei. Dieses Jahr werden sie endlich ihr eigenes Gemüse anpflanzen und Kristóf wird den Hühnerstall herrichten.
Zuzana aus Bratislava steht verkatert in der Küche, als im Fernsehen über die Tausenden Geflüchteten am Budapester Bahnhof Keleti berichtet wird, sie stellt das Glas ab, dreht sich um, hört die Klagen der Mütter, hört die Flüche der Väter, sie sieht die Angst in den Augen der Kinder, vor allem der Kinder. Zuzana, dreissig Jahre, blondiert, lackierte Fingernägel, schüttelt sich.
Es ist der 3. September 2015 und in zwei Monaten wird ihr Leben ein anderes sein.
Als kleines Mädchen stieg sie oft in Keleti aus, um ihre Verwandten in Ungarn zu besuchen, ein grosser, heller, prächtiger Bahnhof, jetzt aber wollen ihr die Bilder der Geflüchteten nicht mehr aus dem Kopf, so mach doch was, Zuz, mach was! Sie telefoniert mit Freunden, postet auf Facebook, eine Woche später fährt sie mit zwölf Autos voller Hilfsgüter nach Budapest. Wieder zurück in Bratislava, zurück am Bürotisch, zurück in der Wohnung bei ihrem Freund, rumort es in ihr. Es ist Wochenende, also rauchen, tanzen, trinken – doch Zuzana will nicht mehr. Stattdessen liest sie in der Zeitung von einem Priester namens Tibor Varga und der redet von einem neuerlichen Flüchtlingsdrama, jetzt in Horgos, an der serbisch-ungarischen Grenze, Herrgott. Da packt sie ihre Tasche, 375 Kilometer sind es von Bratislava nach Horgos, die Landschaft ist wunderschön, doch Zuzana rast an ihr vorbei. Unterwegs hört sie, dass die Geflüchteten an die kroatische Grenze gebracht wurden, das Camp in Horgos sei endlich aufgelöst, alle weg, alles gut.
Zuzana fährt trotzdem hin, warum, das weiss sie bis heute nicht. Dort sie trifft auf eine Handvoll Helfer und dreihundert Verlorene, Verlumpte, Verzweifelte, Vergessene, die meisten mit Husten und ohne Geld, es ist der 17. September 2015, und heute sagt Zuzana: «Was ich an diesem Tag sah, veränderte mein Leben.»
Kristóf schaut hin. Hier oben, im Norden Serbiens, ist Kristóf ein Rockstar, Marke Kurt Cobain oder Nick Carter, Backstreet Boys, anno ’99. Zuerst hatte er Philosophie studiert, dann arbeitete er als Förster in den Wäldern an der serbisch-ungarischen Grenze, wo er, vielleicht zum ersten Mal, diese Gestalten im Unterholz sah, junge Männer aus Syrien, Afghanistan, Pakistan. «Hey, guck nicht so und mach deine Arbeit, Kristóf, das sind üble Typen», sagte sein Chef.
Aber Kristóf schaut hin und redet mit ihnen, immer wieder. Und er spürt diese Wut von damals, als Krieg in seinem Land war: 1992 bis 1994, ein fürchterlicher Krieg, und er, noch Bub, seine Eltern anschrie, immer wieder: so macht doch was, macht was! Jetzt aber fragt Kristóf seinen besten Freund, leise: «Wie kann ich helfen?», und David schickt ihn nach Horgos, dort wartet Tibor Varga am Grenzzaun, Davids Vater und gute Seele aller Armen im Land. Endlich seien die Flüchtlinge aus Horgos weg, berichten die Medien, Tibor aber schüttelt den Kopf, er blickt in die schwarzen Augen der dreihundert Elenden, und auch Kristof kann, was er an diesem Tag sieht, kaum fassen.
Es ist der 17. September 2015, später Nachmittag, und Kristóf steckt sich eine Zigarette an.
Von weitem hört er eine Frauenstimme und wie sie auf Tibor einredet: «Die Leute im Lager brauchen Wasser», und Kristóf ruft ihr zu: «Dann lass uns Wasser holen, ich fahre.» Unterwegs sagt er nur: «Ich heisse Kristóf und das ist meine Nummer», was soll ich damit, fragt sie sich, es beschleicht sie ein unbekanntes Gefühl, vielleicht ist es sogar ein warmes.
Zuzana braucht Hilfe. Noch nie hat sie jemanden um Hilfe gebeten, und immer hat sie geholfen. Jetzt, am Abend des 17. September, mit sich allein im Flüchtlingslager von Horgos, mit diesen Bildern im Kopf, jetzt wählt Zuzana Kristófs Nummer, Hol mich weg von hier, bitte!, und Kristóf bringt sie bei einem Freund unter, am nächsten Tag treffen sich alle in Subotica, der letzten grossen Stadt vor der ungarischen Grenze, David ist da, Kristóf, seine Freundin, auch Zuzana kommt, sie ist müde, vielleicht auch traurig, und irgendwann an diesem Abend setzt sich Kristóf zu ihr und legt ihren Kopf in seine Hand, einfach so, es ist wie ein Wunder, und Zuzana sagt zu Kristóf: «Ich könnte ewig hier bleiben», und Kristóf sagt: «Dann bleib.»
Im Morgengrauen nimmt Zuzana den Zug nach Bratislava, sie weiss, das Leben dort ist zu Ende. Sie verlässt ihren Freund, nimmt Lucy, den Hund, sie wohnt für einige Tage bei Bekannten und hat bei allem, was sie tut und denkt und fühlt, ihn vor Augen.
Ich war in der Hölle und bin einem Engel begegnet, schrieb Zuzana an eine Freundin, als sie noch in Horgos war und dieser Mann mit der Zigarette im Mund ihr zurief: «Dann lass uns Wasser holen!»
Sie hat ihn gefunden und er sie. Ob sie sich damals in ihn verliebt hat? «Es war viel mehr als das», sagt Zuzana. «Ich hatte ja alles: Geld, einen guten Job, Liebhaber, Freunde, Partys, tolle Klamotten, und doch...» Etwas fehlte, aber sie wusste nicht was. Bis die Verzweiflung in den Augen der Geflüchteten ihr den Atem nahm, und sie wusste: ich muss helfen. Und sie diesem Mann begegnete, und sie erkannte: ich darf mir helfen lassen.
«Ich fand in Kristóf, was ich bei mir selbst vermisst hatte», sagt Zuzana und legt ihren Arm um den Mann mit der Zigarette im Mund.
«Ich fand in Zuzana, was ich bei mir selbst vermisst hatte», sagt Kristóf und zerteilt das Huhn auf dem Holzbrett.
Mein zu dein und dein zu mein.
Kristóf sitzt mit Zuzana in der Küche seiner Eltern, es ist Mitte Oktober 2015, und als die Mutter Suppe auftischt, sagen die beiden: «Wir sind wie Zwillinge.»
Anderntags kehrt Zuzana noch einmal nach Bratislava zurück und kündigt ihre Arbeit und Kristóf findet in Subotica eine Wohnung und zwei Wochen später, am 1. November 2015, ziehen sie ein.
Warum tut ihr das? Frühling 2016, die Balkanroute wird geschlossen und an der serbisch-ungarischen Grenze staut sich wieder einmal das Elend der Vertriebenen. Sie können nicht weiter, sie können nicht zurück, aber sie hoffen. Auf die Güte der Menschen, auf Europas Wohlwollen, auf Gott allein.
Schon viele Monate zuvor liess Ungarns Premier Viktor Orbán verlauten, dass diese Fremden, diese Anderen, diese Kriminellen uns überschwemmen werden und überall Schrecken und Schmutz verbreiten. Dann zieht er an der Grenze zu Serbien einen Zaun, 175 Kilometer lang, drei Meter hoch, darüber ein NATO-Draht, und kaum einer im Land protestiert. Es wird Sommer, es wird Herbst. Viele Geflüchtete wollen sich nicht in Serbien registrieren lassen aus Angst, sie könnten abgeschoben werden. Dann kommt der Winter, der in diesem Jahr noch eisiger ist als sonst, und zu Hunderten fliegen Journalisten und Fotografen aus aller Welt nach Serbien, sie reden von einem «neuen Griechenland», einem «Slum der Heimatlosen mitten in Europa» und so fort.
Auch Zuzana fragt sich: Wie kann einer ein guter Mensch werden, wenn alles um ihn herum verrottet?
Zweimal die Woche, jeden Donnerstag und jeden Samstag, stehen sie in ihrer kleinen Küche, sie schneidet Kartoffeln, Rüben, Zwiebeln, Lauch, und Kristóf zerteilt auf dem Holzbrett das Huhn: 90 Liter Eintopf für zweihundert Geflüchtete, die seit Monaten in einer verlassenen Ziegelei nahe von Subotica leben, im Durchzug und im Dreck, allein mit ihren Geschichten, die zu verblassen drohen.
Warum tut ihr das?, fragen ihre Freunde, die Nachbarn, die Leute auf der Strasse, alle schütteln sie den Kopf
und wenden sich ab, es fehlt uns doch selbst am Nötigsten, an Arbeit, Geld und Hoffnung und an einem bisschen Freude!
Wie einem anderen das Selbstverständliche erklären? Wie ihm beibringen, dass einander helfen und sich helfen lassen so ist wie atmen, träumen, trauern? Wie von dieser Liebe erzählen, die es nicht gäbe ohne das Leid und die Verzweiflung derer, die aus ihren Ländern vertrieben wurden? Und wie sich nicht schämen dafür?
Zuzana und Kristóf hatten es versucht, es ging nicht. Vielleicht zogen sie auch deshalb im letzten Mai von Subotica weg nach Orom aufs Land, pachteten eine gottverlassene Farm, schufteten Tag und Nacht bis in den Herbst und froren, wie die jungen Männer in der Ziegelei, gemeinsam durch den Winter.
Ein Frühling kommt. «Einfach war es nie», sagt Zuzana an diesem Tag im Februar 2017, das Blond in ihrem Haar ist längst verschwunden. Eineinhalb Jahre ist es her, als sie in den Nachrichten von den Geflüchteten am Keleti Bahnhof in Budapest hörte und sich aufmachte zu einem anderen Leben.
Ein anderes Leben.
Ob sie wohl glücklich ist?
Es sei alles voller Wunder, sagt Zuzana, ihre Liebe zu Kristóf, die Kraft der Verzweiflung, die Trauer, die sich mit einem Mal in Freude verwandelt, der Wind über den Feldern, das unverdiente Glück, der Frühling, der nun doch noch ins Land kommt. Gottseidank. Vorbei die Kälte, die Nässe, vorbei wieder einmal alle Tränen.
Es ist ein Donnerstag, Zuzana und Kristóf steigen in ihren Wagen und fahren hinaus zur Ziegelei. Dieses Jahr werden sie endlich ihr eigenes Gemüse anpflanzen und Kristóf wird den Hühnerstall herrichten.
08. Mai 2017
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