Gefangen im eigenen Land
Vor fünfzig Jahren haben die Israelis das Westjordanland besetzt und mit der Besiedelung der palästinensischen Gebiete begonnen. Seit diesen Tagen fühlen sich die Menschen dort eingesperrt.
Khalid ist anders. «Alles wird gut, irgendwann, und dann werden wir unseren eigenen Staat haben, wir werden in unsere Häuser zurückkehren, unsere Felder bestellen und in Frieden leben, inschallah.» So reden die meisten hier. Khalid aber, der alte Mann aus Balata am Stadtrand von Nablus im Norden der Westbank, zupft an seinem Kopftuch und lächelt müde: «Nein, Habibi, Hoffnung habe ich keine mehr.»
«Sie begafften uns wie Tiere»
Das war im Herbst 2015. Palästina war wieder einmal in Aufruhr und in den Medien wurde über eine dritte Intifada spekuliert, über einen neuerlichen Aufstand der Bevölkerung gegen die israelische Besatzung. Schon damals schüttelte Khalid den Kopf. «Was wollen wir unsere Kinder in den Krieg schicken? Die Israelis sind übermächtig, unsere Regierung ist korrupt und wir haben schon wieder keinen Plan.»
Jetzt, eineinhalb Jahre später, zeichnet der Palästinenser ein nicht minder düsteres Bild. «Seit fünfzig Jahren sind wir Gefangene im eigenen Land. Und sie rücken immer näher und die Mauern werden immer höher.» Sie, das sind die jüdischen Siedler. Spätestens seit dem Sechstage-Krieg im Juni 1967, den Israel gegen Ägypten, Jordanien und Syrien gewann, nehmen sie das Westjordanland – von ihnen biblisch Samaria und Judäa genannt – systematisch in Anspruch. Khalid kann sich gut an den Sommer 1967 erinnern. «Plötzlich kamen die Juden in Scharen, sie waren zum ersten Mal in Ramallah, Jericho oder Nablus und begafften uns wie exotische Tiere.» Rund 300 000 Palästinenser mussten damals die Flucht nach Jordanien ergreifen. Viele von ihnen hatten bereits zwanzig Jahre zuvor ihre Heimat verloren. So auch Khalid. 1934 in Jaffa bei Tel Aviv geboren, musste er nach der Staatsgründung Israels im Mai 1948 zuerst nach Ramallah und wurde dann nach Nablus in das Flüchtlingslager Balata gebracht. Wie für alle Palästinenser ist die damalige Vertreibung von nahezu 80 Prozent der Bevölkerung auch für Khalid eine «Nakba», die alles umstürzende, unwiderrufliche Katastrophe – und dementsprechend der Sechstage-Krieg von 1967 eine «Naksa», ein Rückschlag.
Vierzig Kilometer und eine halbe Ewigkeit
Waren es in den Jahren nach 1967 weniger als 3000 Siedler, gibt es heute in Palästina bereits über 600 000. Und das, obwohl der Siedlungsbau in besetzten Gebieten gegen das Völkerrecht verstösst und bis heute weitherum als eines der grossen Hindernisse auf dem Weg zur Lösung des so genannten «Nahostkonfliktes» gilt. Die israelische Regierung kümmert das reichlich wenig. Ob Menachem Begin, Yitzhak Rabin, Ehud Barak, Ariel Sharon oder Benjamin Netanyahu: Israels Regierungschefs haben seit dem Sechstage-Krieg die Besiedelung des Westjordanlandes allesamt befürwortet und zur offiziellen Regierungspolitik erhoben.
Und mit den Siedlern kam das Militär, das sie vor Angriffen schützen sollte (und soll), und mit den Heerscharen von Soldaten kamen die Checkpoints, Umfahrungsstrassen, Zäune und Mauern, die das Westjordanland in hunderte Stücke zerteilen, in lauter kleine Punkte und Löcher auf einer Karte, die mit dem historischen Palästina nichts mehr gemein hat. «Mein Land sieht aus wie ein Schweizer Käse», sagt Khalid.
Wer durchs Westjordanland reist, weiss augenblicklich, was der Mann meint. Allein im Distrikt Nablus, wo Khalid lebt, gibt es sieben Checkpoints, sechsundzwanzig jüdische Aussenposten sowie vierzehn Siedlungen, darunter viele mit ultra-radikalen Nationalisten. Die Siedlungen sind untereinander durch Strassen verbunden, die nur von den Israelis benutzt werden dürfen. Wer dagegen mit einem palästinensischen Sammeltaxi von Nablus in die nächste grosse Stadt Ramallah fahren will – das sind keine vierzig Kilometer —, muss damit rechnen, dass er dafür einen Nachmittag braucht. Oder einen ganzen Tag. Denn gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass er an den Kontrollposten immer wieder durchsucht wird oder stundenlang an der prallen Sonne ausharren muss, nur weil die israelischen Soldaten es so wollen. Manchmal aber geht es ganz reibungslos und man ist in einer knappen Stunde am Ziel. Nur kann man nie voraussehen, wann dem so ist. Und ob überhaupt. Jede noch so alltägliche Verabredung – ein Rendezvous etwa oder ein Geschäftsessen – wird zu einer logistischen Herausforderung mit Hunderten Eventualitäten.
Nariman, einer der fünf Söhne Khalids, kann davon viele Lieder singen. Er arbeitet seit Jahren als Mechaniker in Ramallah. Anfangs pendelte er zwei- oder dreimal die Woche nach Nablus zu seinen Eltern. Inzwischen ist ihm das zu kompliziert geworden, er hat sich eine Wohnung in Jifna aus-serhalb von Ramallah genommen. Nach Balata kehrt er nur noch an Festtagen zurück, wenn überhaupt. Khalid hat Verständnis, doch er ist auch voller Zorn, denn für ihn hat das Ganze ein System: «Die Israelis zerstückeln mit ihren Siedlungen unser Land, sie entzweien unsere Familien, stehlen unsere Äcker und unser Wasser, sie legen uns überall Steine in den Weg. Und wozu? Damit wir träge werden, müde und dumpf.»
Permanenter Widerstand
Doch Khalid weiss auch, dass in einem Land wie Palästina plötzlich alles anders sein kann. Wie damals, im Dezember vor dreissig Jahren, als aus einem Begräbnis in Gaza eine Demonstration wurde und aus dieser Demonstration ein Widerstand, der sich wie ein Lauffeuer auch über das ganze Westjordanland ausbreitete.
Zu Beginn ein spontaner Volksaufstand, wurde diese erste Intifada – zu Deutsch: Erhebung – unter der Führung des späteren Palästinenser-Präsidenten Yassir Arafat und seiner 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO schon bald zu einem symbolträchtigen Widerstandskampf: hier die Steine werfenden Kinder Palästinas, dort die schwerbewaffneten Soldaten Israels. Auch Nariman, damals um die zwanzig, ging auf die Strasse. Als sich beide Parteien im Rahmen der Osloer-Abkommen 1993 und 1995 annäherten und den Palästinensern seit 1967 erstmals territoriale Zugeständnisse gemacht wurden – sie durften gerade einmal drei Prozent der gesamten Westbank autonom regieren –, hofften nicht wenige auf baldigen Frieden. So auch Nariman, wie er rückblickend sagt. Doch sollte sein Vater recht behalten: «Die wollen uns doch bloss wieder hinhalten!»
Wenn Nariman von jenen Jahren erzählt, kommt dieses Wort immer wieder vor: «Wut». Er war wütig über die Besatzung, die ihm seine Jugend raubte, wütig über die PLO, die bloss schwafelte, wütig über seine Eltern, die sich all diese Demütigungen gefallen liessen, tagein tagaus. Als dann im Dezember 2000 der israelische Oppositionsführer und spätere Premierminister Ariel Sharon den Tempelberg in Jerusalem besteigt – eine der heiligen Stätten des Islams –, läuft das Fass über. Die zweite Intifada beginnt, nur werden dieses Mal nicht bloss Steine geworfen, sondern Bomben gezündet. Und einmal mehr geht der Aufstand von Balata aus. Für die Israelis ist das Camp längst ein Hort voller Terroristen, für viele Palästinenser wird Balata schon bald zur Stätte der mutigsten Märtyrer. Tatsache ist: Das Lager ist mit 25 000 Menschen auf nur einem Viertel Quadratkilometer hoffnungslos überfüllt, Gewalt und Not gehören zum Alltag, zwei Drittel der Bewohner sind unter dreissig Jahre und fast 70 Prozent ohne Arbeit. «Damals wurden viele von uns politisch radikalisiert», erinnert sich Nariman. Wie die meisten seiner Freunde aus Balata wurde auch er während der zweiten Intifada inhaftiert und gefoltert. Darüber reden will er nicht.
Die Mauer im Kopf
Stattdessen sagt Nariman: «Die Mauer um Palästina wird auch dann noch da sein, wenn die Israelis längst weg sind. Denn inzwischen ist sie in unseren Köpfen. Solange sie dort ist, sind wir gefangen. Und solange werden wir dagegen ankämpfen. Auch wenn es umsonst ist. Deshalb müssen wir sie aus unseren Köpfen kriegen. Und das tun wir am besten, indem wir sie einfach vergessen.» Khalid schüttelt den Kopf, er wundert sich über seinen Sohn. «Vergessen? Die Israelis haben mich vertrieben, sie haben mir mein Land gestohlen, sie haben mir meinen Frieden genommen. Ich kann nicht vergessen, das geht nicht.»
Von seinem Häuschen in Balata bis zu den Stränden Jaffas sind es Luftlinie gute fünfzig Kilometer. Wenn die Tage heiter sind und die Sonne schräg steht und die Luft nicht zu sehr flirrt und wenn er seine Augen ein wenig zukneift, dann bildet sich Khalid ein, er könne das Meer sehen. Oder auch nicht.
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