Vaterkrise
«Und wie geht es Ihnen wirklich?» Der Psychiater meines Sohnes schaut mich mit forschendem Blick an. Meine vorherige Antwort, dass es mir eigentlich gut gehe, zwar streng halt und stressbedingt zu wenig Schlaf, scheint ihn nicht befriedigt zu haben. Zu tief meine Augenringe, zu unruhig das Ziehen an der Zigarette. Kolumne.
Ja, eigentlich geht es mir gerade recht mies. Seit fünf Wochen wohnt mein Sohn wieder halb bei mir, halb bei seiner Mutter. Vorher war er etwa ein Jahr in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Von einem Tag auf den anderen landete er wieder zu Hause, ohne vorherige Absprache.
Die ständige Verantwortung für meinen latent bis aktiv psychotischen Sohn zehrt an meinen Nerven. Ich mache mir grosse Sorgen um ihn, versuche herauszufinden, was er braucht, und entsprechende Angebote und Unterstützung zu organisieren. Die vielen Termine mit Psychiater, Psychologen, KESB, Beiständin und all den anderen Stellen braucht unglaublich viel Zeit und Energie. Ich schlafe wenig und meist schlecht.
Tagsüber kann ich mich nicht konzentrieren. Die Gedanken kreisen, ich bin erschöpft. Zunehmend gelingt es mir schlechter, mich zu überwinden und zu fokussieren. Meine vielfältigen Pendenzen bleiben liegen. Ich fühle mich blockiert, und bin es oft auch. Und das belastet mich zusätzlich.
Ja, ich habe eine Krise. Eine Vaterkrise.
Hier geht es für einmal nicht um die Väterkrise. Nicht um die abwesenden oder plötzlich verschwindenden Väter, die bei ihren Kindern oft tiefe Wunden hinterlassen. Mir scheint, wir als Gesellschaft sind auf gutem Weg, diese kollektive Väterkrise zu überwinden.
Hier geht es um meine persönliche Krise. Ich schäme mich dafür, von der aktuellen Situation überfordert zu sein. Ich bin am Anschlag – und eigentlich drüber hinaus. Ich kann mit der aktuellen Herausforderung nicht souverän umgehen. Lasse all meine hilfreichen Tools, meine Achtsamkeitspraxis, Yoga und Sport liegen. Strecke kaum mehr meine Hand aus, um Freunde anzurufen und meine Befindlichkeit zu teilen und mich zu entlasten. Dafür betäube ich mich gerade wieder intensiv mit Tabak und Video-Streams und bei Gelegenheit auch mit Cannabis.
Doch warum teile ich dies hier mit? Möchte ich Mitgefühl, Mitleid oder Anerkennung?
Nein. Aber ich möchte Verständnis für psychische Krisen wecken. Das Bewusstsein fördern, dass es alle und jeden treffen kann. Dass es nicht hilft, dies zu verschweigen. Ich will meine eigene Scham und meinen Stolz überwinden. Und aufzeigen, dass wir als Gesellschaft nicht sehr kompetent im Umgang mit psychischen Krisen und Krankheiten sind.
Psychische Krankheiten werden in unserer Gesellschaft tabuisiert, abgewertet und ausgegrenzt. Niemand macht dir einen Vorwurf, wenn du dir das Bein brichst – im Gegenteil, man wünscht dir Glück, fragt nach dem Unfallhergang etc. Aber wenn du depressiv, suchtkrank, neurotisch oder psychotisch oder mehreres miteinander bist, wird weggeschaut, geschwiegen, getuschelt und verurteilt. Selbst schuld, zu schwach oder zu zerbrechlich, heisst es dann, hinter deinem Rücken.
Ich bin gerade mit drei Krisen der psychischen Gesundheit konfrontiert: der meines Sohnes, meiner eigenen und der kollektiven. Und alle hängen zusammen – und sind tabuisiert.
Eigentlich möchte ich meinem Sohn hier auch schützen und nicht zu viel über ihn und seine Krankengeschichte Preis geben. Doch zu offensichtlich ist sein Zustand. Und ja, manchmal schäme ich mich für ihn, besonders, wenn er ungepflegt und mit auffälligen Verhaltensweisen durchs Dorf und die Gegend zieht. Und es gab auch eine Phase, da machte ich mir Vorwürfe, dachte, wenn ich dies oder jenes anders, besser gemacht hätte, hätte ich ihn vor seiner Krankheit bewahren können…
Ich durfte viele und meist erschreckende Einblicke in die psychiatrische Gesundheitsversorgung gewinnen. Zuletzt in Graubünden: Monatelang wurden seitens Klinik unsere Versuche, auf eine adäquate Betreuung, mehr Einbezug des Familiensystems und die Möglichkeit, einer sinnvollen Beschäftigung – durch uns organisiert – abgewehrt. Die Psychiatrie setzt nach wie vor viel zu häufig und zu lange ausschliesslich auf medikamentöse Symptombehandlung.
Auf ein ganzheitliches Gesundheitsverständnis, wonach ein Mensch ein gutes Umfeld, tragfähige soziale Bindungen und sinnstiftende Betätigung braucht, um gesund zu bleiben, und vor allem zu werden, hoffte ich vergebens. Die Möglichkeit, einen Menschen ambulant in seinem familiären Umfeld zu behandeln, besteht nicht. Das fehlende Verständnis der behandelnden Fachpersonen ist das eine, die Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit der verschiedenen Fachstellen und Kostenträger das andere.
Es gibt viel zu tun. Sprechen wir darüber. Das hilft.
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Nicolas Zogg (40) ist Vater, Hausmann, Landschaftsgärtner, Umweltingenieur, Feuerwehroffizier, Universal-Amateur, Feminist sowie prozessorientierter Coach und Väterberater. Er lebt mit seinen beiden Kindern in Graubünden. www.nicolaszogg.ch
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Wo gehobelt wird, da fallen Späne
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