Die Krise sind wir

Interview mit Bernhard Fricke (Bürgerinitiative «David gegen Goliath») über die kleinen Schritte mit grosser Perspektive, über Sonnenenergie, die Verbindung von Politik und Spiritualität und eine Arche in Zeiten politischer Sturmflut. (Interview: Oliver Bartsch)

(Erstveröffentlichung in "connection" www.connection.de)

1986 gründete der Rechtsanwalt Bernhard Fricke als Reaktion auf die Atomkatastrophe von Tschernobyl die Umweltorganisation «David gegen Goliath (DaGG)». Von einer reinen Anti-Atomkraftbewegung entwickelte sie sich immer mehr zu einer «Pro Sonnen-Energie Bewegung» bis hin zu einer Organisation, die die Verbindung von Politik und Spiritualität propagiert. Fantasievoll, gewaltfrei und konsequent macht DaGG in besonderen Aktionen immer wieder auf ökologische, ökonomische und soziale Missstände aufmerksam und regt zu einem grundlegenden Umdenken auf allen inneren und äußeren Ebenen an.

Frage: Der Weg des Menschen auf dieser Welt, das scheint der Weg der kleinen Schritte gegen Widerstände zu sein, sowohl im Äußeren als auch im Inneren?

Fricke: Die politische Arbeit, wie ich sie seit Jahrzehnten erlebt und aktiv mitgestaltet habe, erschöpft sich nur zu oft im rein Reaktiven. Ob es sich dabei um den Protest gegen ein neues Atomkraftwerk, eine neue Schiessanlage oder eine neue Startbahn gehandelt hat, das Strukturmuster ist das Selbe: Der Protest formierte sich, aber nur von den Menschen, die sich unmittelbar von der Maßnahme bedroht gefühlt haben, und immer nur solange, bis das Problem vorbei war und dann kehrte wieder der Alltag ein. Diese Proteste waren zumeist nur punktuell und auf eine Region bezogen.

Der Lernprozess der DaGG bestand darin, dass man sich bei dem Protest gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf (WAA), aus dem Symptomatischen hinausbewegt hin zu einer ganzheitlichen Bewegung, die die Schöpfung bewahrt. Es geht um die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen als Ganzes. Wenn du weisst, dass du mit deinem Protest Teil einer viel grösseren Bewegung bist, die durch gemeinsame Ziele und Wertvorstellungen untereinander verbunden ist, gibt das viel mehr Kraft und Durchhaltevermögen bei absehbaren Enttäuschungen. Dann ist das viel nachhaltiger, und die vielen kleinen regionalen Proteste machen mehr Sinn, denn du kannst dich ja immer nur punktuell engagieren, weil deine Kapazitäten begrenzt sind.
Unser Davidsweg der kleinen Schritte mit grosser Perspektive bedeutet sich zu fragen: Was haben die Dinge, die wir im Außen tun, mit unserer inneren Grundhaltung zu tun?

Wenn ich gegen die Startbahn West protestiere, aber im gleichen Atemzug einen Billigflieger besteige, um von A nach B zu gelangen, dann habe ich immer noch angepasste Anteile in mir, die meiner Achtsamkeit bedürfen. Es geht also darum, unsere Wahrnehmung zu schulen bei allen Handlungen, die wir vornehmen. Wann trägt meine Handlung dazu bei, dass Dinge aus dem Gleichgewicht geraten? Wann erlebe ich kleine oder grosse Missstände, die ich einfach nicht hinnehmen kann.

Dann heisst es sofort handeln mit heissem Herzen und klarem Verstand.
Mit unseren Aktionen – wie der Besetzung von Bäumen in der Münchner Innenstadt, wo wir erreicht haben, dass für alle gefällten Bäume neue Bäume gepflanzt werden mussten – wollen wir Menschen Mut machen, sich für die Erhaltung ihrer Lebensgrundlagen einzusetzen. Wir haben heute bei unseren Protestaktionen den großen Vorteil, dass wir den Schutz einer rechtsstaatlichen Ordnung geniessen und nicht um unser Leben fürchten müssen, wenn wir protestieren. Der alte Kampfruf der Anti-Atom-Bewegung «lieber aktiv als radioaktiv» beziehungsweise der Kernsatz unseres alten Freundes und Ehrenmitglieds Robert Jungk «Widerstand macht gesund» haben nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Wir müssen lernen, Sand im Getriebe einer automatisierten Megamaschine zu werden, die dabei ist uns zu verschlingen.

Frage: Warum gehören Politik und Spiritualität zusammen?

Fricke: Ich habe mich schon seit der Schulzeit politisch engagiert, habe eine Schülerzeitung gemacht und damit Preise gewonnen, habe die erste Schülervollversammlung organisiert, die mehr Mitbestimmungsrechte für Schüler durchgesetzt hat und als Schülervertreter erstmalig an der Lehrerkonferenz teilgenommen und damit in unserer Schule eine kleine Kulturrevolution ausgelöst. Ich hatte also in der Schulzeit viele persönliche Erfolgserlebnisse, was mein politisches Engagement anging. Die Studentenzeit habe ich dann mehr meiner persönlichen Entwicklung gewidmet, indem ich ausgedehnte Reisen nach Asien und Südamerika unternahm und auch in einem Kibuz am See Genezareth gearbeitet habe. Dabei habe ich als «Free Lancer» für den bayerischen Rundfunk, Südwestfunk und den saarländischen Rundfunk gearbeitet. Ich habe viel von Erhard Eppler gelernt, für den ich arbeiten durfte, und mit dem ich heute auch noch befreundet bin. Er prägte unter anderem den Begriff der Welt-Innenpolitik, das heisst er setzte sich für eine Politik des Ausgleichs und der Nachhaltigkeit ein in Verbindung mit konkretem Tun im Äusseren, dass wir eine Politik machen, die die Bedürfnisse aller befriedigen sollte, nicht nur die Bedürfnisse der Industriestaaten.

Dann kam das Schlüsselerlebnis, das einen Wendepunkt in meinem Leben markiert hat. Als 1986 der Atom-Reaktor in Tschernobyl explodierte und eine Katastrophe für die Menschheit auslöste, wurde ich mir bewusst, dass jeder einzelne eine Verantwortung für das Ganze hat. Solange der Mensch aber diese Verantwortung nicht wahrnimmt, steuern wir unweigerlich in die Katastrophe.
Das ukrainische Wort Tschernobyl, bedeutet übersetzt «bitteres Wasser», ist für mich eine Anspielung auf die Apokalypse des Johannes und ist als letzte Warnung der himmlischen Mächte an die Menschheit zu verstehen, eine grundlegende Kurskorrektur vorzunehmen.

Mit meinen Möglichkeiten habe ich versucht, diesen Entwicklungen gegenzusteuern. Ich will mir nicht von nachfolgenden Generationen vorwerfen lassen, nicht nach meinen Erkenntnissen gehandelt zu haben, wie wir es unseren Eltern wegen ihres in der Regel ignoranten Verhaltens in der Nazizeit vorgeworfen haben.

Zunächst sind wir den ausserparlamentarischen Weg der Gründung einer Bürgerinitiative gegangen, nachdem unsere vielfältigen Aktionen nicht zu dem gewünschten Bewusstseins- und Verhaltenswandel beigetragen haben. Deshalb haben wir zusätzlich auch noch versucht, durch die Gründung einer eigenen Partei unsere Ziele zu verwirklichen. Dabei mussten wir feststellen, dass es nicht möglich ist genügend Wählerstimmen für eine grundlegende Kurskorrektur zu bekommen. Offensichtlich geht es uns immer noch zu gut, weil sich die meisten angekündigten Katastrophen noch nicht verwirklicht haben.
Dann habe ich erkannt: Es kommt entscheidend auf die innere Entwicklung an, die zu einem verantwortlichen Tun im Äußeren führen soll. Zur Konkretisierung haben wir die Aktion Umwelt konkret für eine lebenswerte Zukunft kreiert zu den zehn wesentlichen Umweltproblemen. Die Aktion «Umwelt konkret - 11 Gebote» liefert einen Leitfaden. Zu den zehn wesentlichen Umweltproblemfeldern sind jeweils drei Handlungsaufforderungen formuliert, die ohne besonderen finanziellen Aufwand und ohne neue Gesetze sofort im Alltag umgesetzt werden können.

Die «11 Umwelt-Gebote» sind inzwischen in 17 Sprachen übersetzt und haben eine Auflage von 1.000.000 Exemplaren erzielt. Sie waren und sind Gegenstand von Gottesdiensten, Seminaren und Unterrichtsgesprächen und werden heute nach wie vor bei «David gegen Goliath»- Veranstaltungen gerne entgegengenommen.

Die Politik hat bis jetzt keine Antwort auf die globalen Herausforderungen unserer Zeit geben können, weil es nicht genügend Politiker gibt, die aus einer spirituellen Einstellung heraus handeln. Diese Einstellung beinhaltet die Liebe zur Schöpfung Gottes - egal ob er Allah oder Buddha oder Mohammed oder Jesus heisst - und das tiefe Verlangen, diese Schöpfung zum Wohle aller Menschen bewahren zu wollen. Die heutige Politik des reaktiven und perspektiven «muddle through» (des täglich perspektivenlosen Durchwurstelns) ist in keiner Weise geeignet, die drängenden Überlebensprobleme der heutigen Menschheit zufriedenstellend zu lösen.

Frage: Gibt es bereits Projekte, wo ein Zusammenspiel von Politik und Spiritualität vorhanden ist?

Fricke: Das Projekt, bei dem das Zusammenspiel von Politik und Spiritualität seinen konkretesten Niederschlag gefunden hat, ist die Sonnen-Arche. Vor acht Jahren haben wir das Projekt im Chiemgau ins Leben gerufen: Hier lebt das berühmte Schaf Seraphin mit über 130 weiteren Tieren in einer artgerechten Umgebung und freuen sich des Lebens. In der Sonnen-Arche wird eine lebenstaugliche Spiritualität durch einen liebevollen und achtsamen Umgang mit Menschen, Tieren und Pflanzen gelebt. Die Sonne steht dabei für die göttliche Energie, der wir unser Leben verdanken, und die Arche steht für einen Ort des Schutzes und der Regeneration für Menschen und Tiere. Wenn ich sehe, wie gross das Vertrauen und die Freude ist, die uns unsere Tiere entgegenbringen, dann bin ich einfach nur glücklich.

Ein weiteres Projekt, das ich mit Kindern hier auf dem Gelände der Sonnen-Arche plane, heisst «Pinocchio». Der Kinderzirkus unter diesem Namen «Pinocchio» hat im jugoslawischen Bürgerkrieg, wo schreckliche Greueltaten verübt wurden, kroatische, bosnische und serbische Kinder zusammen gebracht, und damit einen Grundstein für eine friedliche Zukunft gelegt. Ich durfte diese tolle Arbeit in Sarajevo kennen lernen und habe seit dem die Vision, dass zunächst Kinder aus der Region, und später einmal Kinder aus der ganzen Welt, auch aus Krisengebieten hierher kommen, um in einem Projekt der Versöhnung ein intensives Gemeinschaftsgefühl entwickeln und sich gegenseitig lieben und achten lernen. Dazu gehört für mich nicht nur der achtsame Umgang mit Menschen und Tieren, sondern mit der Natur an sich. Ich möchte die Kinder auch sensibel machen für die Schönheit der Schöpfung.

Frage: Wie kann man den Kreislauf der kollektiven Gewaltexzesse durchbrechen?

Fricke: Der von mir sehr geschätzte indische Weisheitslehrer Krishnamurti glaubte, dass alle menschlichen Konflikte nur Auswirkungen unseres inneren Zustandes, unserer Konditionierungen sind: Die Krise sind wir. Nicht an die Beseitigung dieser äußeren Missstände ist zu aller erst zu denken, sondern parallel an eine Transformation des Menschen in seinem Inneren. Eine radikale Umwandlung des Bewusstseins , was nichts mit einer neuen Weltanschauung oder Religion zu tun hat, ist notwendig. Offensichtlich ist der Mensch konditioniert durch Traditionen und Vorurteile von Volk, Rasse, Geschlecht und anderem. Befriede ich mein eigenes Inneres, befriede ich die Welt.
Dem kann ich nur zustimmen. Die Veränderung kann sich nur in jedem einzelnen Menschen vollziehen. Der Mensch steht auf der Schwelle zum «Homo Superior», er steht vor einem Bewusstseinssprung zum kosmischen Weltbürger, wo er seine Konditionierungen transformieren kann und ein Gefühl der Verbundenheit mit allem Lebendigen entwickeln kann. Der «Homo Superior» fühlt sich angesichts der Grösse des Universums klein wie ein Staubkorn am Meer und gleichzeitig durchdrungen von dem Bewusstsein, dass er ein wesentlicher und unverzichtbarer Teil der Schöpfung Gottes ist, denn sonst wäre er ja nicht geboren. Der Wandel vollzieht sich bei jedem Menschen, auch an mir kann ich diesen, teilweise schwierigen, Prozess beobachten. Für mich habe ich herausgefunden: Ohne Meditation und Achtsamkeit geht es nicht. In der Meditation werde ich mir der Quelle der Schönheit bewusst, die die Natur uns jeden Tag bietet, und bin dankbar dafür, dass ich sie erleben darf. Nur in der Achtsamkeit kann ich den Samen der Freude in mir heranreifen lassen, der es mir möglich macht, die Schöpfung Gottes zu lieben, zu achten und zu heiligen.

Frage: Wie gehen Sie persönlich mit ihrer Konditionierung um?

Fricke: Meine Verzweiflung darüber, dass die Kräfte der Gewalt, von Zerstörung, Hass und Intoleranz so stark sind, dass sie scheinbar stärker sind als die Kräfte der Liebe, Toleranz und Harmonie, erlebe ich auch bei mir selbst. Ich muss leider feststellen, dass auch ich mich nicht immer an meine eigenen Grundsätze halte. Ich predige Toleranz, handle aber intolerant, verurteile Menschen, verletzte Menschen mit unbedachten Äußerungen. Es gibt auch noch destruktive Kräfte in mir. Der gute Teil daran: Ich nehme dies nun schneller wahr. Ich sage mir: Diese Aufgabe ist mir heute nicht gut gelungen, aber mit Gottes Hilfe kann ich sie morgen besser bewältigen. Ich gehe diesen Weg der Selbstbeobachtung mit Konsequenz, aber nicht mit Verbissenheit. Ich bin nachsichtig mit mir selbst und verzeihe mir meine Fehler und weiß: Gott gibt mir die Kraft, morgen einen neuen Anlauf zu nehmen und dann habe ich auch den Mut weiterzumachen und auf weitere Erleuchtungserlebnisse noch zu diesen Lebzeiten im Vertrauen auf Gottes immer währende Hilfe zu hoffen – und dann kann aus jeder Krise eine Chance werden.

Links:
Der Verein David gegen Goliath
www.davidgegengoliath.de
10. September 2009
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