Der Kern der Neutralität der Schweiz ist nicht ein Ignorieren fremder Konflikte, sondern ein sich Inachtnehmen und sich Heraushalten vor laufenden Konflikten durch bewusstes Einnehmen des neutralen Status. Dieser Neutralitätsbegriff ist deshalb umfassend, weil er bei der zu findenden Lösung ansetzt, in die jeder Konflikt letztlich münden muss. Lässt man sich zu Vorverurteilungen drängen, ist die Neutralität preisgegeben.
Gegen die Neutralität der Schweiz werden folgende Argumente und Fragen*) aufgeworfen, wie:
- Ist das Festhalten am Modell der «klassischen Neutralität» im heutigen geopolitischen Umfeld noch praktikabel?
- Was bedeutet Neutralität? Wäre sie bei Verstössen Dritter gegen das Völkerrecht aufzugeben?
- Die Aufforderung an die Schweiz und Österreich, «diese inhaltliche Diskussion intensiv zu führen»*).
Symposium der SVIL zum Thema «Die Neutralität und die Versorgungssicherheit der Schweiz». 29. November 2022, 10.30 bis 17.00 Uhr. Programm.
Mit alt-Bundesrat Christoph Blocher; Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie; Prof. Dr. Mathias Binswanger, FHNW u. Univ. St. Gallen; Prof. Dr. Alexandre Lambert, Geneva School of Diplomacy and International Relations; Dipl.-Ing. Paul F. Reichmann, Network of Global Security; Dipl. Ing. ETH Peter Bisang, Risk Management and Innovations Methodology. Zielpublikum: Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft.
Beurteilung
Diese Argumentation reduziert die Neutralität auf eine abstrakte Prinzipienfrage. Die Aufgabe der Neutralität wäre danach, Täter und Opfer im aus dem Kontext herausgelösten Einzelfall zu bestimmen.
Konflikte jedoch sind durchwegs das Ergebnis von Prozessen. Müsste dann nicht die Folgereihe der geopolitisch relevanten Aggressionen einzeln verurteilt werden?
Die Verurteilung des durch Framing herauspräparierten Einzelfalles endet zwingend bei der Parteinahme. Der Appell an die neutralen Staaten, «Position zu beziehen» und ‹der Koalition der Willigen› beizutreten, verkennt, dass Geopolitik der Ort der Austragung von Konflikten ist. Der geforderte Positionsbezug führt das Neutralitätsprinzip ad absurdum.
Für die Schweiz als exportorientierter Kleinstaat ist die Neutralität inmitten West/Mitteleuropas die Voraussetzung der wirtschaftlichen und staatlichen Eigenständigkeit. Um die Versorgung zu sichern, ist die Schweiz als rohstoffarmes Land gezwungen, ihre wirtschaftlichen Beziehungen auf ihren jeweiligen gegenseitigen Vorteil auszurichten.
Diese Haltung wird bei den Handelspartnern weltweit als Zuverlässigkeit der Schweizer KMU-Wirtschaft geschätzt. Diese Fähigkeit, beide Standpunkte zu sehen, schafft Vertrauen und hilft wirtschaftliche Beziehungen zu knüpfen. Deshalb ist die Neutralität ebenso die Grundlage wirtschaftlicher Prosperität und Versorgungssicherheit des Kleinstaates.
Gleichzeitig ist die Neutralität auch ein politisch anerkanntes Verhalten, wie der Kleinstaat unter den Grossmächten eigenständig bleiben kann.
Die Vorgeschichte
Die 1918 eingetretene Versorgungskrise im Bereich der Ernährung führte von Seiten namhafter schweizerischer Unternehmen zur Gründung der SVIL — Schweizerische Vereinigung für Innenkolonisation und industrielle Landwirtschaft, heute «Schweizerische Vereinigung Industrie + Landwirtschaft» (siehe dazu 100 Jahre SVIL auf www.svil.ch).
Der damalige Ernährungsnotstand am Ende des Ersten Weltkrieges war die Folge, dass der Nahrungsmittelimport kriegsbedingt massiv eingebrochen war.
Die Schweiz war schon damals im 19. Jahrhundert und anfangs des 20. Jahrhunderts bereits das freihändlerischste Land Europas.
Wegen der Knappheit an eigenen Ressourcen nutzte die Schweiz zum eigenen wirtschaftlichen Aufbau die internationale Arbeitsteilung. Immer mehr verarbeitete Produkte wurden exportiert, um im Gegenzug die fehlenden Rohstoffe und Nahrungsmittel (vor der Einführung des Grenzschutzes zur Erhöhung der Selbstversorgung) frei importieren zu können.
Dabei spielte schon damals die Neutralität der Schweiz als Kleinstaat für den ungehinderten Zutritt auf den sich entwickelnden Welt- Märkten eine wesentliche Rolle.
Schon seit dem Westfälischen Frieden hat sich die Eidgenossenschaft als selbständiger Kleinstaat zwischen grossen Nationen, Sprach- und Kulturräumen behauptet. Noch vor dem Wiener Kongress hat Napoleon 1802 der eidgenössischen Konsulta in St.Cloud die Neutralität bestätigt und die Eidgenossenschaft geradezu dazu ermutigt, sich Machtspielen zu enthalten und stattdessen ihrer Industrie nachzugehen.
«Je mehr ich über die Beschaffenheit eures Landes nachgedacht habe, desto stärker ergab sich für mich aus der Verschiedenheit seiner Bestandteile die Überzeugung der Unmöglichkeit, es einer Gleichförmigkeit zu unterwerfen. Alles führt euch zum Föderalismus hin… Die Schweiz kann keine bedeutende Rolle mehr unter den Staaten Europas spielen. Wie zu der Zeit, wo keine großen Nachbarn neben ihr standen, wo Frankreich in 60, Italien in 40 Herrschaften eingeteilt war… Ihr sollt keine tätige Rolle in Europa spielen. Ihr bedürft der Ruhe, der Unabhängigkeit und einer von allen euch umringenden Mächten anerkannten Neutralität.»
(Wilhelm Oechsli, Quellenbuch zur Schweizer Geschichte, Aus der Ansprache Bonapartes an den Ausschuß der helvetischen Consulta zu St. Cloud, 12. Dezember 1802, S. 472 f.).
Tatsächlich bedingt der grenzüberschreitende Freihandel für einen Kleinstaat eine neutrale Haltung gegenüber den unterschiedlichen Interessen grosser Territorialstaaten. Die neutrale Haltung liegt im Interesse beider Handelspartner. Der Vorwurf, die neutrale Haltung sei die Position eines ‹Trittbrettfahrers›, verkennt, dass Grossstaaten die stabilisierende Funktion neutraler Staaten vielfach schätzen.
Denn ein neutraler Partner beteiligt sich nicht an Handelskriegen. Er wird den gegenseitigen Vorteil bei seinen grenzüberschreitenden Aktivitäten pflegen und entwickeln. Der immer wieder vorgebrachte Einwand, die Neutralität diene zur Umgehung von Massnahmen im Rahmen eines Handelskriegs, ist durch Beibehalten des Courant normal des neutralen Staates mehr als entkräftet.
Mit der in der internationalen Arbeitsteilung erworbenen Kaufkraft war für die Schweiz der Import der fehlenden Rohstoffe ohne Gewalt und Übergriffe wirtschaftlich gesichert. Denn damals hatte die Schweiz grossmehrheitlich auch die Nahrungsmittelproduktion durch den Import ersetzt, wozu die Kaufkraft durchaus vorhanden war.
Die Konfiskation jedoch bereits bezahlten Getreides durch die Entente 1917 in Genua unterbrach diese Lieferketten unerwartet und verstärkte die kriegsbedingte Nahrungsmittelknappheit in der Schweiz.
Die Schweiz als kleines Land mit beschränkter Ressourcenbasis steigerte daraufhin die landwirtschaftliche Selbstversorgung im Bereich der Ernährung durch die sog. innere Kolonisation und ebenso auch die Energieversorgung durch den Ausbau der Wasserkraft. Gleichzeitig entwickelte die Schweiz den Freihandel nach aussen auf der Basis des gegenseitigen Vorteils.
Der Schutz der Landwirtschaft sowie der Ausbau der Elektrizität im Inland und der grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen sind die praktischen Grundelemente der Souveränität der Schweiz.
Seit 1918 war der Anspruch nach Versorgungssicherheit der Staaten für eine eigene produktive Landwirtschaft bis in die 70er Jahre unbestritten. Seit den 80er Jahren wurde versucht, den Freihandel auch auf die Landwirtschaft auszudehnen. In der UNCTAD, der Vorläuferorganisation der WTO, war die Landwirtschaft noch klar vom Freihandel ausgenommen.
Seit der Uruguay-Runde wird der Schutz der eigenen Landwirtschaft kritisiert, trotz der historischen Erfahrung mit der Versorgungskrise 1918 und den Anstrengungen während des Zweiten Weltkriegs zur Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln nun wiederum als fragwürdiger Wohlstandsverlust.
Diese Kritik wurde zusätzlich auf die Umweltbelastungen durch die inländische Landwirtschaft ausgedehnt. Die Belastung durch ein übermässiges Siedlungswachstum infolge der unverhältnismässigen Einwanderung wurde ausschliesslich der Landwirtschaft angelastet, um nicht zuletzt auch eine weitere Liberalisierung des Nahrungsmittelimportes durchzusetzen.
Dabei wird völlig übersehen, dass — um den Selbstversorgungsgrad über 50 Prozent zu halten — die Landwirtschaft bei steigender Einwohnerzahl auch immer mehr produzieren muss. Seit der Nichtumsetzung der Masseneinwanderungsinitiative verschärft sich dieser Konflikt zu Lasten der Versorgungssicherheit. Der erodierende Charakter dieser nicht gelösten Ungleichgewichte auf die Souveränität und die Neutralität der Schweiz ist nicht zu verkennen.
Die Versorgungssicherheit heute
Nun stehen uns trotz allen Verheissungen bezüglich Marktöffnungen und Liberalisierung massive Versorgungskrisen im Bereich Ernährung und Energie wieder ins Haus.
Die Liberalisierung des Strom- und Gasmarktes hat, wie damals verkündet, nicht zu einer noch sichereren Versorgung geführt!
Die Sicherung lebensnotwendiger Versorgung vor allem für die produzierende Wirtschaft ist eine hoheitliche Aufgabe. Häfen, Marktplätze, Versorgungs- und Verkehrsinfrastrukturen waren in Europa immer Republikeigentum. Ganz einfach, weil solche Anlagen nicht gleichzeitig Gegenstand von Versorgungssicherheit und der gewinnbringenden Spekulation sein können.
So zeigt sich nun, dass Strombörsen und der liberalisierte Elektrizitäts- und Gasmarkt offensichtlich nicht der Versorgungssicherheit dienen, sondern sich nach finanziellen Interessen von im Hintergrund agierenden Investoren ausrichten müssen.
Damit Infrastrukturen auch leisten, wozu sie erstellt werden, muss heute der Staat eingreifen. Frau Bundesrätin Sommaruga kommentierte diesen Richtungswechsel am 6. September mit den Worten: «Sicherheit kostet».
Diese späte Einsicht des Bundesrates möchten wir wie folgt kommentieren:
Bereits vor 21 Jahren warnte die SVIL davor, dass der durch die Energiemarktöffnung anvisierte Import von polnischem Kohlestrom den Ausbau u.a. der schweizerischen Wasserkraftwerke hindern werde. Auch die Umwandlung öffentlicher Werke in Aktiengesellschaften schränkte die Konkurrenzfähigkeit weiter ein. Dagegen verlautete das Bundesamt für Energie deutlich, «wir werden im Energiesektor keinen Heimatschutz betreiben».
Heute muss der Bundesrat Energieaktiengesellschaften mit Geld aushelfen, um Fehlbeträge zu stopfen, wobei nicht klar ist, ob die Leihgabe sicher zurückbezahlt wird, da die Bücher nicht einsehbar sind und folglich der Bundesrat nicht genau weiss, wofür er bezahlt.
Heute soll also der Staat zahlen, obwohl ungewiss ist, ob diese und künftige Kredite zurückgezahlt werden können. Deshalb ist auch die Begründung der staatlichen Hilfszahlung, dass die Kraftwerke ja immer noch mehrheitlich im Besitz der Kantone seien — eher ein Hinweis dafür, dass das von Brüssel gedeckte Geldhedging an der sogenannten Energiebörse von Leipzig immer noch nicht verstanden wird.
In dieser Finanzierungskrise der Energie muss nun der Umstand, dass die Aktien der Werke noch mehrheitlich in Staatsbesitz sind, dafür herhalten, dass Spekulationsverluste und damit letztlich die Gewinne unbekannter Nutzniesser an der Strombörse mit Steuergeldern zu finanzieren sind.
Wenn Staaten gezwungenermassen einspringen müssen, um fremdes und unbekanntes Geldvermögen abzusichern, werden sie tributpflichtig und sind nicht mehr souverän. In welche Richtung es gehen kann, zeigt der Vorschlag, dass nun die Kantone mit ihrem Aktienvermögen haften sollen. Wozu dann die Energieversorgung privatisieren, wenn am Schluss doch der Staat, bzw. der Steuerzahler für die Spekulationsverluste aufzukommen hat?
Übrigens ist der Ausspruch «too big to fail» nichts anderes als eine ausweichende Formulierung für das bisher sogenannte «öffentliche Interesse», das nun bei den Versorgungsinfrastrukturen wieder zum Tragen kommt!
Droht nach dem Goldverkauf nun auch noch der Verkauf des in Aktien umgewandelten ehemaligen Realvermögens der Kantone als letzter Schritt der Privatisierung der ehemals öffentlichen Kraftwerke und Leitungsnetze?
Die Bedeutung der Neutralität im heutigen politischen und wirtschaftlichen Umfeld
Sind diese Implikationen nun reines Marktgeschehen oder ist das ein Ergebnis einer Strategie, wirtschaftliche Vorherrschaft auszudehnen? Diese Entwicklung rührt an der staatlichen Souveränität der Schweiz.
Starke Finanzkräfte, die das Volumen der europäischen Nationalstaaten um ein Mehrfaches übersteigen, suchen angestrengt nach Anlagen. Sie treiben wirtschaftliche Entwicklungen auf eine Art und Weise voran, welche die politische Struktur und Ordnung souveräner Staaten aufzulösen beginnen. Das führte folgerichtig zur «Privatisierung» bisheriger öffentlicher Aufgaben. Damit werden die nationalen immer weiter zurückgedrängt und das Konzept der Investitionsplanung entfremdet sich in übernationale Strukturen.
In Nordeuropa ist ein Prozess im Gang, der als Abschied vom «Kleinstaatenrealismus» apostrophiert wird. Auch in der Schweiz vertreten einzelne Parteien die Auffassung, die Schweiz müsse sich diesem Lauf der Dinge anpassen und sich verstärkt in Strukturen wie jene der EU und der NATO einbinden.
Welches sind jedoch in diesen Ländern die Gründe für diesen Richtungswechsel, die Neutralität preiszugeben? Weichen diese Staaten dem Druck der Eingliederung Osteuropas (ohne Russland) in einen Wirtschafts- und Investitionsgrossraum, in welchem der Sanktionsdruck als Waffe im Wirtschaftskrieg eine politische Neutralität gar nicht mehr erlauben will?
In einer politischen Situation, in welcher die USA Deutschland verbieten, Erdgas aus Russland zu beziehen, sind auch andere durch die geographische Lage bedingte wirtschaftliche Ostkontakte der Nordischen Länder unter diesem Aspekt zu betrachten. Die Ostsee ist in der Folge nicht länger offener Verbindungskorridor von Deutschland direkt nach Russland sondern nun NATO-Meer.
Der Meinungsumschwung der Öffentlichkeit in Schweden und Finnland fand so schnell und ohne politische Diskussion statt, weil zum Beispiel der Georgienkrieg und der Krieg in der Ukraine nicht im Entstehungszusammenhang korrekt dargestellt werden, was jedoch die unabdingbare Voraussetzung der Lösung der Konflikte sein müsste. Vielmehr ist die Art der Darstellung des Konfliktes – worin die Medien eine zentrale Rolle spielen – Teil des Konfliktprozesses. Dies musste auch der Bundesrat erfahren.
Kaum hatte in den Medien das sogenannte Narrativ gegriffen, das die Toten des Bürgerkrieges vom 2014 bis 2021 mit den völkerrechtswidrigen Übergriffen auf die russisch sprechende Ostukraine unterschlug und den Konflikt erst ab dem 24. Februar 2022 losgehen liess, wurde die Schweiz gedrängt, gegen Russland als «den einzigen Aggressor», der ‹angefangen hat›, Stellung zu beziehen.
Sofort bestätigte der Präsident der USA vor der Weltöffentlichkeit, dass die Schweiz die Neutralität aufgegeben und sich den Sanktionen angeschlossen habe. Wie das Beispiel der nordischen Staaten zeigt, implodiert die Neutralität, wenn Hergang und Prozess des Konfliktes nicht überblickt oder durch die Übernahme medial gelenkter Konfliktdarstellung einer Partei ersetzt werden.
Damit rückt der einleitend erwähnte Zusammenhang zwischen der Existenz unseres Kleinstaates und seiner Neutralität ins Zentrum!
Bei der Sicherheit der Ernährung und der Stromversorgung hat die Schweiz als Kleinstaat stets auf hohe Selbstversorgung gesetzt. Die beschränkte eigene Ressourcenbasis an Land und Lagerstätten wird nun zunehmend durch eine zu hohe Zuwanderung belastet.
Für eine allumfassende Neutralität
Die Neutralität verbietet, dass ihre bisherigen Wirtschaftsbeziehungen der Sanktionspolitik einer Kriegspartei unterworfen werden.
Aber auch für die Konfliktparteien bietet die neutrale Position eine Plattform zur Konfliktlösung. Auch aus diesem Gesichtspunkt ist eine Schwächung der Neutralität ein Widerspruch.
Der Konflikt zwischen Kriegsparteien setzt Kleinstaaten mit beschränkter Ressourcenbasis der Gefahr einer sich weiter verknappenden Ressourcenbasis aus.
Der Schutz der Ernährungs- und der Energieproduktion im Inland ist eine wirtschaftliche Voraussetzung zur Aufrechterhaltung der Neutralität – und umgekehrt schafft die Neutralität die Voraussetzungen für Freihandel im Bereich von Industrie und Dienstleistung. Die Neutralität der Schweiz hängt mit der starken Exporttätigkeit seiner KMU zusammen.
Die Wirtschaft eines Kleinstaates ist als Folge des begrenzten eigenen Territoriums intensiver mit dem Freihandel verbunden als andere Länder. Die Schweiz ist ein Beispiel, dass die Staatlichkeit sich nicht zwingend auf einer reichlich vorhandenen Ressourcengrundlage entwickelt bzw. eine solche zur Voraussetzung hat. Die Schweiz erarbeitet und organisiert sich die Eigenständigkeit durch die Entwicklung exterritorialer Wirtschaftsbeziehungen, wobei der neutrale Standpunkt den vielfältigen Auslandsbeziehungen die notwendige Stabilität verleiht.
Es geht also um die Versorgungssicherheit der vitalen Bereiche Ernährung und Energie aus dem eigenen hoheitlich selbstbestimmten Lebensraum. Auch wenn inzwischen die Bevölkerungszahl wegen einer verfehlten Einwanderungspolitik zu hoch ist, was den Importanteil von Lebensmitteln zwingend erhöht, darf das Postulat der Ernährungssicherheit nicht preisgegeben werden.
Die Kritiker der auf einen hohen Eigenversorgungsanteil ausgerichteten Agrarpolitik haben den Agrarschutz als Sünde wider die Marktwirtschaft gegeisselt. In Anbetracht der aktuellen eskalierenden Versorgungskrise ist diese Kritik verstummt. Dies ebenfalls unter dem Druck der Energieversorgungskrise. Zugleich lässt man zur Liberalisierungs- und Deregulierungspolitik des Elektrizitäts-und Gasmarktes der letzten Jahrzehnte kaum etwas verlauten. Umso entschiedener lässt nun die Politik staatliches Notrecht durchwinken.
Auch im Energiebereich ist es unumgänglich, die Notwendigkeit der eigenen Versorgung aufgrund der internationalen Preisentwicklung neu zu beurteilen. Ernährung und Energie aus dem eigenen Wirtschaftsraum sind feste Pfeiler der staatlichen Hoheit über das eigene Land. Ergänzungen durch Importe sind — wenn sie letztlich nicht in die einseitige Abhängigkeit führen sollen — auf der Basis des gegenseitigen Vorteils auszubauen. Durch dieses neue Verständnis, – dass der Nutzen gegenseitig sein muss –, können die Entwicklungsmuster der wirtschaftlichen und militärisch begleiteten Vorherrschaft überwunden werden.
Die Neutralität der Schweiz lebt dabei bereits diesen Multilateralismus in einer multipolaren Welt. Anstatt die Neutralität preiszugeben, ist die Neutralität der souverän eingegangenen bilateralen und multilateralen Wirtschaftsbeziehungen die Lösung aus der Krise. Denn nur eine globale Wirtschaftsordnung, in welcher alle Staaten aus der internationalen Arbeitsteilung und Verflechtung auf der Basis des gegenseitigen Vorteils partizipieren, kann das alte Modell der globalen Vorherrschaft und deren nicht endenden Konflikte ablösen.**)
Fussnoten:
*) Sonntags-Blick, 10. September 2022
«Die Schweiz beteiligt sich an den Sanktionen gegen Russland, aber sie hält an der klassischen Neutralität fest. Eine Lockerung hat der Bundesrat soeben verworfen. Ist das im heutigen geopolitischen Umfeld noch praktikabel? Was bedeutet Neutralität? Das kann heissen, dass ein Land sich gleichgültig gegenüber Richtig und Falsch verhält. Es kann aber auch bedeuten, auf der Seite neutraler Prinzipien wie dem Völkerrecht zu stehen. Diese neutrale Ordnung zu verteidigen, hiesse, Position zu beziehen gegen einen Aggressor wie Russland und für ein Opfer wie die Ukraine. Mich verwundert, dass Länder wie die Schweiz oder Österreich diese inhaltliche Diskussion nicht intensiver führen.»
Von Peter R. Neumann (47) (D), Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, leitete von 2008 bis 2018 das International Center for the Study of Radicalisation (ICSR). 2014 Berater der USA bei den Vereinten Nationen, 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
**) Spitteler, Carl: Unser Schweizer Standpunkt. In: Ders.: Gesammelte Werke. Achter Band: Land und Volk. Zürich: Artemis 1947, S. 577-594. Siehe separaten Link.
Hans Bieri: Die Neutralität und die Versorgungssicherheit der Schweiz - 19. September 2022