«Ich bin so froh, dass ich kein Studium ergriff»

November 1972. Was mir ein Soldat von der Armee erzählte, was ich von den Studenten hielt – und warum ich die Damen mit ihren Hündchen so schlimm fand. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #54.

«Meine Leidenschaft für die Natur war im Grunde spirituell.» (Landschaftsbild aus dem 19. Jahrhundert: Robert Zünd «Die Ernte» 1860)

Kaum dem Korsett der Schule entronnen, näherte sich meiner frischgewonnenen Freiheit neues Kettengerassel: der Militärdienst. Noch war ich erst 18, doch in einem Jahr würde auch ich mich entscheiden müssen. Einrücken – oder verweigern und dafür ins Gefängnis wandern? Das Thema beschäftigte mich, und es erhielt neue Nahrung, als mich beim Autostoppen ein junger Mann mitnahm, der wie ich das Wirtschaftsgymnasium besucht und gerade erst die Rekrutenschule absolviert hatte. Eingeteilt war er in einer Elitetruppe. Im Tagebuch notierte ich in Stichworten, was er dort durchgemacht hatte:

«48 Stunden Nonstopdrill mit 4 Stunden Schlaf, nächtelang Wache stehen in der Kälte, unzählige Konditionsübungen tagsüber – und 25-Kilometer-Läufe bergab und bergauf, bis auch der letzte Rekrut, total erledigt, als ‹tote Fliege› am Boden lag.»

«Zwei Rekruten begannen zu rebellieren, nachdem sie zwei Wochen lang Nacht für Nacht aus den Betten geholt worden waren, um Schuhe und Jeeps zu reinigen, da sie die Arbeit tagsüber einige Male nicht vorschriftsmässig verrichtet hatten.»

Sie wurden in den Arrest abgeführt, und was das bedeutete, bekam auch der junge Mann, der mich im Auto mitnahm, zu spüren. «Er selbst», fuhr ich fort, «ein an sich bürgerlicher Typ mit Wohlstandsbart, Topkleidung und schnellem Auto wagte es nach vielen Schikanen, den Feldweibel anzufluchen. Dafür erhielt er fünf Tage scharfen Arrest: Er durfte nichts lesen, nichts schreiben, nicht einmal etwas arbeiten – Einzelhaft ohne jeden Kontakt, ohne Post, fünf Tage Grübeln und Grollen, nur unterbrochen durch dreimal tägliche Essensverteilung und den Besuch des Pfarrers am dritten Tag, auf den er sich ‹wie ein kleines Kind› freute.»

Nach weiteren Schikanen, so erzählte er mir, sei die ganze Truppe in einen Hungerstreik getreten – «worauf die Offiziere zwar den gestellten Forderungen etwas nachgaben, dafür aber den Hebel anderswo umso mehr anzogen – durch körperlichen Drill während des Hungerstreiks».

Heute, 50 Jahre danach, wäre eine solche Züchtigung undenkbar. Aber damals war die Armee noch eine nach aussen abgeschlossene Welt mit ihren eigenen Gesetzen und Ritualen. In der Absicht, die Truppe abzuhärten, schindeten und schikanierten die Vorgesetzten nach Herzenslust.

Doch nachdem die 68er-Bewegung jede gesellschaftliche Institution in Frage gestellt hatte, blieb auch die heiligste aller Kühe im Land nicht von der Kritik der Neuen Linken verschont. Eine Debatte entstand, ob es sinnvoller sei, sich dem Militär zu entziehen oder innerhalb der Armee für die Rechte der Soldaten zu kämpfen.

Nach der Begegnung beim Autostoppen machte auch ich mir Gedanken darüber. Bisher war ich entschlossen gewesen, den Dienst zu verweigern. «Aber müsste ich gemäss der These der Linken nicht doch Militärdienst leisten? Damit ich in der Armee agitieren und meine Dienstkameraden politisch beeinflussen könnte? Doch was würde geschehen, wenn ich in eine eher demokratische Truppe gelangen würde? Dann hätte meine Agitation wenig Wirkung. Verweigere ich hingegen den Dienst, kann ich durch meine Aktivität ausserhalb der Armee politisch viel mehr erreichen.»

Ich begann bereits taktisch zu überlegen – lange bevor ich das Aufgebot für die Armee erhielt. Und dann fasste ich erstaunlicherweise bereits in Worte, was mich zehn Jahre später dazu bewegte, die «Gruppe für eine Schweiz ohne Armee» mitzubegründen:

«Ich gelange überdies immer mehr zur Erkenntnis, dass die Armee völlig sinnlos ist und abgeschafft werden sollte. Brauche ich die Gründe dafür zu wiederholen? Man stelle sich vor, wie viel Geld, Material und Arbeitskräfte nach einer Abschaffung der Armee zur Verfügung ständen!»

Die Vorstellung einer Schweiz ohne Armee war damals noch undenkbar. Aber das Undenkbare zu denken und auszusprechen, war für mich nie ein Problem, auch wenn es mich immer wieder in Teufels Küche brachte, wie sich noch zeigen würde. Ich beendete meine Ausführung mit dem Satz: «Besser könnte unserem Land nicht gedient werden.» Papier ist geduldig. Und Tagebuchblätter sind es erst recht. Sie mussten von mir viel Pathos schlucken.

***

Obwohl ich meine Zukunft nicht in der Sozialarbeit sah, war ich derweil immer noch in der Auffangstation tätig. Ich wurde sogar zum festangestellten Praktikanten befördert und erhielt einen Lohn. Gemessen der aufgewendeten Stundenzahl verdiente ich zwar viel weniger, als wenn ich für den «Tages-Anzeiger» schrieb, doch ich fühlte mich wohl in der Auffangstation. Dort zu arbeiten, war für mich wie ein erster Schritt weg vom Elternhaus. Dasselbe Motiv hatten auch viele Besucher der Notschlafstelle, die nicht mehr zurück zu den Eltern wollten. Ich aber gehörte zum Team. Ich war der Betreuende, nicht der Betreute. Diese Rolle gefiel mir. So überspielte ich meine mangelnde menschliche Reife mit der Rolle des Therapeuten, der ich nicht war.

Doch vor allem gab mir die Auffangstation die schöne Gewissheit, keine politischen Theorien zu wälzen, sondern praktisch tätig zu sein. Ich fand meinen Einsatz notwendig und sinnvoll, und den Studenten, die gelegentlich für ihr Studium bei uns erschienen, fühlte ich mich überlegen.

«Heute Abend», notierte ich im Tagebuch, «kam ein Psychologiestudent im ersten Semester zu uns, um im Rahmen seiner Semesterarbeit mit unseren Besuchern zu reden und die Ergebnisse danach auszuwerten. So sind die Studenten. Sie begeben sich nach der Matur an die Uni und geraten in ein völlig akademisches Denken hinein, dem sie sich freiwillig unterwerfen, weil es ihnen durch das leichte Studentenleben versüsst wird.» 

«Um den Bezug ihrer Theorien zur Realität nicht ganz zu vernachlässigen, kommen sie einige Male jährlich ins Volk hinab, um ihre Thesen und Statistiken bestätigt zu sehen. Doch das Volk, das ihr Studienmaterial ist, bleibt ihnen fremd. Sie haben eine andere Sprache, andere Umgangsformen und eine andere Art, zu denken. Ich bin so froh, dass ich kein Studium ergriff. Wieviel wertvoller ist meine Arbeit in der Auffangstation!»

Während meine Eltern bereits geschluckt hatten, dass ich kein Student werden wollte, zeigte sich meine Grossmutter ernsthaft besorgt über mein Desinteresse an einer akademischen Laufbahn. Sie bat mich zu sich und offerierte mir, mein Studium finanzieren zu wollen. Für andere Schulabgänger wäre ein solches Angebot sicher verlockend gewesen. Aber nicht für mich. Ich konnte ihr ihren Wunsch nicht erfüllen und ich habe tatsächlich nie studiert. Das Leben – um es etwas großspurig auszudrücken – interessierte mich mehr.

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Wo aber war das von mir so erstrebte Leben am echtesten, am wahrhaftigsten? In der Natur. An ihr labte ich mich, und wo ihre Unschuld gefährdet war, litt ich mit ihr. «Zürich und überhaupt alle Städte», schrieb ich ins Tagebuch, «sind wenigstens ehrlich. Die Zivilisation dominiert in den Städten total, die Natur dagegen hat Ausgehverbot, und das ist gut so. Weil ich auf diese Weise den für mich so schmerzlichen Konflikt zwischen moderner Zivilisation und Natur gar nicht wahrnehmen muss. Denn wo die Zivilisation in die Natur einbricht, erweist sich die Natur als die Schwächere. Wird in einem Bergdorf nur schon ein einziger Block gebaut, liegen Abfälle, achtlos hingeworfen, auf einem Waldweg herum oder tauchen mitten im wilden Gebirge komfortabel ausgerüstete Wanderer auf – dann hat die Zivilisation schon gewonnen.» 

«Letzthin bin ich durch den Herbstwald gegangen, habe meine Umgebung in ihrem schönsten Licht erfahren und mich darüber gefreut – als zwei Damen des Weges kamen und in feiner Stadtkleidung ihre geschniegelten Pudel spazierenführten. Das holte mich zurück in die Realität. Die Einheit der mich umgebenden Natur war damit zerstört, ein Fremdkörper, vom natürlichen Leben entfremdet, drang in den Wald und in meine Gefühle ein, und ich flüchtete weg von den Damen und ihren Hündchen. Natürlich dürfen sich  andere Menschen genauso wie ich an der Natur erfreuen, aber haben sie noch eine echte Beziehung zu ihr?»

Da ich wie so viele andere junge Menschen nicht mehr an den Kirchengott glauben konnte, suchte ich das Göttliche in der Natur. «Das Eintreten in die reine Natur» schrieb ich, «ist für mich wie ein Zurückfinden, ein sich Besinnen auf die Grundlagen unseres Lebens. In der Natur fühle ich mich nicht entfremdet, und die Natur verlangt nichts von mir: Ich darf sie erleben, entdecken und preisen, wann immer ich mich nach ihr sehne.»

Obwohl ich sie nicht so beschrieb, war die Natur für mich heilig. Um so schmerzvoller fand ich jede Störung und jede Verschmutzung ihrer natürlichen Harmonie. In diesem seelischen Schmerz liegen die frühen Wurzeln der damals entstehenden Umweltbewegung. Dass die Gesellschaft mit ihrer Konsumwut, ihrem Leistungsdenken verdorben war, wussten wir längst, und wir lebten damit. Doch die Entheiligung und Vergewaltigung der Natur war viel schlimmer. Man musste sie schützen. Man musste sie vor der Menschheit retten.

Trotz meiner Liebe zur Natur hatte ich jedoch nie das Bedürfnis, mich der  Umweltbewegung anzuschliessen. Bei den «Grünen» wurde ich mit meiner Liebe nicht heimisch. Sie machten aus dem Ökosystem ein Politikum. Sie operierten mit Zahlen und Facts, um den Raubbau an der Natur zu entlarven. Das war notwendig und wichtig, und die Umwelt hat allen Grund, den späteren «Grünen» dankbar zu sein. Was die Ökobewegung erreicht hat, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dennoch liess sie mich unberührt. Meine Leidenschaft für die Natur beruhte lediglich auf Empfindungen. Sie war im Grunde spirituell. Nur wusste ich das damals noch nicht.

«Eine Sensibilität für die Natur», erkannte ich nüchtern, «können die Menschen in dieser Gesellschaft nicht mehr entwickeln – zu sehr sind sie gefangen in ihrem System. Aber die junge Generation könnte man noch erreichen. Man könnte sie dazu anleiten, kreativ und natürlich zu leben. Leider sind wir von diesem Weg weit entfernt. Wer zur Natur und damit zu sich selbst finden will, muss auf eigene Faust dahin gelangen.» So ist es noch heute, 50 Jahre danach. Auch die heutige junge Generation findet das Göttliche in der Natur nicht bei den «Grünen». Sie muss sich selbst auf die Suche machen.

***

«Gestern», schrieb ich am 17. November 1972, «hat es zum ersten Mal geschneit – doch heute morgen bläst der Föhn wie im Frühling. Die Sonne scheint, ich gehe hinaus mit dem Hund und beachte nicht mehr die kahlen Bäume, nicht mehr die Blätter am Boden. Der starke warme Föhn weht mir entgegen, und ich spüre, wie ich zum Leben immer dieses Begrüssen des Tages brauchen werde: das Hinausgehen in die Natur, wo immer ich mich befinde.»

Fortsetzung folgt am Sonntag 6. August