Verloren in der Ödnis der sozialen Medien
Sobald wir die «digitale Sichtbarkeit» zur Hauptquelle unserer Identität, unseres Status und unserer Selbstachtung gemacht haben, sind wir dazu verdammt, ohne Kompass in einer riesigen künstlichen Einöde umherzuwandern.
Dass die sozialen Medien süchtig machen, liegt auf der Hand. Die Versuchung, immer weiter zu scrollen, ist ebenso grenzenlos wie die riesige Einöde der Inhalte.
Der zerstörerische Charakter dieser Sucht liegt ebenfalls auf der Hand: Das Ergebnis dieser Sucht sind Depressionen, Angstzustände und steigende Raten von Selbstverletzungen und Selbstmord.
Die immense Rentabilität der Sucht nach Bildschirmen und sozialen Medien schafft die Anreize für Unternehmen, deren Suchtkraft weiter zu steigern – und Versuche zu vereiteln, diese profitable Macht zu begrenzen. Wen interessieren schon Selbstverletzungen und Depressionen, wenn es um den Shareholder Value geht?
Obwohl die sozialen Medien als etwas angepriesen werden, das uns alle verbindet, geht es in Wirklichkeit um Kontrolle: Die Plattformen kontrollieren den Fluss der von den Nutzern erstellten Inhalte, sie kontrollieren die Suchtmechanismen sowie nicht zuletzt auch die Monetarisierung des Engagements der Nutzer.
Weniger offensichtlich ist der Anreiz für die Nutzer, immer neue Inhalte zu erstellen, welche die Technologieplattformen zu Geld machen können. Das ist natürlich die grosse «Innovation» der sozialen Medien: Nutzer dazu zu verleiten, Inhalte zu erstellen, damit das Unternehmen all diese Inhalte kostenlos erhält. Die zweite «Innovation» besteht darin, die Aufmerksamkeit bzw. das «Engagement» der Nutzer zu monetarisieren, und zwar in zweifacher Hinsicht: erst die von den Nutzern kostenlos erstellten Inhalte zu monetarisieren und dann die süchtigen Nutzer, die nicht aufhören können zu scrollen.
Der Anreiz für die Nutzer liegt in der menschlichen Natur begründet: Wir alle wollen Anerkennung und Respekt gewinnen. Wir beobachten den enormen Status und Respekt, der all denjenigen mit hoher digitaler Sichtbarkeit auf den Bildschirmen zuteil wird, und das entfacht unser sogenanntes mimetisches Verlangen – das, was andere offensichtlich wollen, wollen wir auch; wir wertschätzen das, was andere begehren –, unsere eigene digitale Sichtbarkeit zu erhöhen, damit auch wir etwas von dem Status und Respekt geniessen können, mit dem diejenigen mit Bildschirmpräsenz überhäuft werden.
Parallel zum Aufstieg der digitalen Sichtbarkeit als Hauptquelle für Status und Respekt ist der Rückgang anderer sozialer Mittel zur Erlangung von Status und Respekt zu verzeichnen. Die Wirtschaft legt grossen Wert auf die Mobilität von Kapital und Arbeitskräften, so dass Arbeitskräfte und Wohngegenden in ständigem Wandel begriffen sind. Im Gegensatz zum früheren Wirtschaftsmodell mit stabilen Arbeitsverhältnissen, bei dem die Menschen jahrzehntelang für dasselbe Unternehmen arbeiteten, gibt es heute keine stabile Gemeinschaft am Arbeitsplatz, die für soziale Bindungen und Respekt sorgen könnte: Jeder ist ein atomisiertes, frei schwebendes Individuum.
Sicher, wir können Abzüge unserer Selfies an berühmten Orten an unsere gestressten, heute hier und morgen dort arbeitenden Kollegen weitergeben, aber wen interessiert das schon? Wie viel Status und Respekt können wir in den begrenzten, instabilen Kreisen von Arbeit und Nachbarschaft überhaupt erlangen? Sehr wenig.
Das Gleiche gilt für Nachbarschaften: heute hier, morgen weg. In der realen Welt gibt es keine stabile soziale Ordnung mehr, die jedem Menschen die Anerkennung und den Respekt verschafft, die er braucht. Also wenden wir uns der künstlichen Medienwelt der Bildschirme und sozialen Medien zu.
Was zeichnet die Medien aus? Dass sie inszeniert, gescriptet, verstärkt, bearbeitet, künstlich sind. Fernsehsendungen sind künstliche Darstellungen des wirklichen Lebens, sie sind nicht das wirkliche Leben: Die langweiligen Stellen wurden herausgeschnitten, die Dramatik verstärkt, die Schauspieler erfunden und die Szenen inszeniert.
Das wirkliche Leben kann mit dieser sorgfältig bearbeiteten, destillierten, verbesserten Simulation des wirklichen Lebens nicht mithalten. Wir sind uns dessen bewusst, und deshalb ist es unser Ziel, unser reales Leben in den sozialen Medien zu inszenieren, zu skripten und zu bearbeiten, um ein verbessertes künstliches Faksimile zu schaffen, das einen höheren Status verdient als unser nicht-inszeniertes reales Leben.
Selbst wenn wir eine überfüllte Wohnung mit fünf anderen schlecht bezahlten Arbeitern teilen, posten wir Fotos von uns in Luxusbars mit 20-Dollar-Cocktails. Das ist jedoch nur die halbe Miete für die digitale Sichtbarkeit; die andere Hälfte besteht darin, ein Publikum aufzubauen, damit unsere Sichtbarkeit zunimmt. In dem Masse, wie unsere Sichtbarkeit zunimmt, steigt auch der Status und unser Ansehen.
Während in der realen Welt die Möglichkeiten, Status und Respekt zu erlangen, abgenommen haben, ist das Potenzial, unseren Status in der digitalen Welt zu erhöhen, in die Höhe geschnellt. Das ist der Unterschied zu den alten Medien: In den Zeiten von Fernsehen und Printmedien konnten wir nur passive Beobachter sein, da es extrem schwierig war, an all den Torwächtern vorbei zu kommen, um tatsächlich in diesen Bereichen aktiv mitzuspielen.
In den sozialen Medien kann nun jeder auf den Bildschirm beziehungsweise auf die Seite gelangen. Es gibt drei Milliarden Ich-Kanäle, und so besteht der darwinistische Kampf darin, den eigenen Kanal zu inszenieren, zu bearbeiten und zu verbessern, um irgendwie ansprechender und überzeugender zu werden als die Abermillionen konkurrierender Kanäle.
Dies erzeugt eine weitere süchtig machende Dynamik: Hat jemand meinen letzten Beitrag oder Kommentar «gemocht»? Der Wunsch nach einem Publikum führt zu einer höheren emotionalen Verwundbarkeit: Wir wollen den höheren Status, der mit einem grösseren Publikum einhergeht, und so werden wir besessen davon, unsere «Likes» und Klickzahlen zu überwachen. Damit sind wir dann eine leichte Zielscheibe für Trolle, die es geniessen, die Hoffnungen und die Stimmung derjenigen zu zerstören, die versuchen, alle anderen dabei zu übertreffen, die eigene digitale Sichtbarkeit zu erhöhen.
Dies ist die Ursache für einen Grossteil der Depressionen, Ängste und Selbstverletzungen, welche die psychische Gesundheit der jüngeren Generationen beeinträchtigen. Sobald wir die digitale Sichtbarkeit zur Hauptquelle unserer Identität, unseres Status und unserer Selbstachtung gemacht haben, sind wir dazu verdammt, ohne Kompass in einer riesigen künstlichen Einöde umherzuirren.
Um unsere Selbstzerstörung zu vermeiden, gilt es, das Wesen der sozialen Medien zu verstehen – dass sie nämlich sorgfältig entwickelt wurden, um uns süchtig zu machen – und uns von der Illusion zu befreien, dass eine verbesserte digitale Selbstdarstellung eine würdige Grundlage für unsere Identität, unseren sozialen Status und unsere Selbstachtung sein kann.
Die künstliche digitale Welt ist kein Ersatz für das wirkliche Leben, und auch der in den sozialen Medien erlangte «Status» ist kein Ersatz für eine authentische Identität und Selbstachtung. Wir greifen durch den Bildschirm nach dem dargebotenen Festmahl und sind umso ausgehungerter, wenn wir den Bildschirm schliesslich ausschalten.
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