Eine Aktie zum zwölften Geburtstag
Dass meine Welt eine andere ist, zeigte sich schon, als ich zwölf war und Marcel, mein Mitschüler, mich auf dem Nachhauseweg von der Schule fragte, ob ich auch eine Aktie hätte.
Mit dem Stolz des Besitzers erklärte er mir, sein Grossvater habe ihm eine geschenkt, zum Geburtstag. Jetzt warte er, Marcel, bis der Kurs der Aktie gestiegen sei. Dann werde er sie mit Gewinn verkaufen, um sich entweder etwas leisten zu können oder aber das Geld – was ihn fast noch mehr reizen würde – in eine neue Aktie zu investieren.
Ich erinnere mich, dass ich beeindruckt war, obwohl ich es natürlich nicht zugab. Wie das funktionierte mit einer Aktie, durchschaute ich nicht; ich wusste nur, sie bedeutete Geld, möglicherweise viel Geld, und so war ich sicher ein wenig neidisch auf Marcel, den Aktionär.
Bis Ende August hat die 5-Minuten-Podcast-Kolumne von Nicolas Lindt Sommerpause. Damit wir nicht auf seine Texte verzichten müssen, veröffentlicht der Zeitpunkt jeden Donnerstag ein Kapitel aus seinem Buch «Im Schulzimmer des Lebens».
Trotzdem wäre es mir nie eingefallen, meine Eltern zu bitten, mir zu meinem nächsten Geburtstag ebenfalls eine Aktie zu schenken. Und hätte ich unaufgefordert eine bekommen, ich hätte sie nicht zu schätzen gewusst. Mein einziges Interesse wäre gewesen, sie umzusetzen in klingende Münze. Mit oder ohne Kursverlust.
Die Weichen stellten sich damals schon. Marcel, obwohl wir uns mochten und täglich zusammen zur Schule gingen, war nicht so wie ich. Am Ende des letzten Schultags trennten sich unsere Wege, und sie führten in verschiedene Himmelsrichtungen. Während aus mir ein Schriftsteller und Geschichtenerzähler wurde, ist Marcel heute ein Mann der Wirtschaft. Ein Topmanager.
Seine Welt ist die Welt des Cash-flow, des Out-sorcings und der Options, während meine Welt immer noch eher deutschsprachig ist. Seine Welt ist die Welt, die ebenso selbstverständlich mit Handy, Organizer und Notebook lebt, während ich noch immer ein Telefon mit einer Wählscheibe habe und eine Schreibmaschine mit Farbband.
Marcels Welt ist die Welt der Business Class, der Konferenzen und dem Blick auf die Uhr – während ich zuhause an meinem Schreibtisch sitze, die immer gleiche Aussicht vor Augen, und Tag für Tag nicht viel anderes tue als schreiben.
Marcels Welt aber ist auch die Welt, in der Geld, obwohl sich alles ums Geld dreht, kein Thema ist. Während der Dichter und seine Familie gelegentlich von nichts anderem reden. Weil es wieder mal fehlt, das Geld.
An solchen wolkenverhangenen Tagen – aber auch an anderen – habe ich mir beim Blick aus dem Fenster schon überlegt, wie es wäre, hätte mein Leben eine andere Richtung genommen. Obwohl ich die Welt, in der Marcel lebt, nicht betreten will, kommt es vor, dass ich plötzlich zum Beispiel Lust habe, statt ein Schriftsteller ein Konzernchef zu sein.
Die Dichtkunst, sage ich mir in solchen Momenten, ist nicht der einzige Weg zur Unsterblichkeit. Ich lancierte im Geist schon viele Produkte, und ich plante schon viele Marketingstrategien. Ich glaube, ich wäre kein schlechter Konzernchef.
Anderes reizt mich ebensosehr. Ich war schon Hoteldirektor, Gefängnisdirektor, Chefredaktor, Ermittler in Mordfällen, Bundesrat, Musiker, Wirt, Radiomoderator, Weltumsegler und Bauer. Das alles möchte ich manchmal sein, und noch mehr. Und alles am liebsten gleichzeitig.
Die Landschaft draussen ist geduldig mit mir. Sie schluckt bereitwillig meine Träume, die ich, aus dem Fenster blickend, in sie hineinfantasiere. Jedesmal kehre ich dann zurück und erkenne wieder die Grenzen meines beruflichen Tuns. Bei aller Leidenschaft, die ich dafür empfinde, deckt es nur einen Teil von mir ab. Einen kleineren, als ich einmal dachte.
Vor einigen Monaten hatten wir eine Klassenzusammenkunft. Auch Marcel kam, mit Verspätung freilich, weil er erst wenige Stunden vorher aus dem Ausland zurückgekehrt war. Doch nun stand er da, und wie das bei Klassentreffen so ist: Die Schale, die man sich als Erwachsener zugelegt hat, hält nicht lange. Schon bald war auch Marcel nicht mehr der vielgereiste, topgesetzte Entscheidungsträger. Er wurde wieder zum Jungen von damals, den man als sympathischen Angeber in Erinnerung hatte. Was er auch jetzt noch war.
Am späteren Abend fanden sich Marcel und ich nebeneinander am gleichen Tisch. Rund um uns ging es hoch zu und her, aber einige, so wie wir, unterhielten sich nur zu zweit. Ich weiss nicht mehr, wie das Gespräch entstand, doch auf einmal sagte Marcel, den ich auf Anhieb wieder so mochte wie damals, zu mir: «Das würde mir auch gefallen, den ganzen Tag schreiben zu können, so wie du.»
Dass Marcel, der als Mitglied einer Konzernleitung an der Schwelle zur Macht stand, sich wünschte, er wäre ein Schriftsteller, so wie ich, überraschte und – ich muss es gestehen – amüsierte mich. Doch mein einstiger Schulkamerad meinte durchaus ernst, was er sagte.
Der Challenge seiner Tätigkeit, erklärte er mir, sei zwar gross, aber gross sei auch die Abnützung. Zum Bücherlesen zum Beispiel komme er nie, obwohl er es gerne täte. Und am liebsten, fuhr er fort, würde er schreiben. Letzthin habe er, nicht zum erstenmal, im Flugzeug ein paar Gedanken notiert.
Aber das sei dann schon alles. Zu mehr habe er keine Zeit.
Was hätte ich darauf antworten sollen? Dass ich mir das Gegenteil manchmal, an besonders hindernisreichen Tagen ebenso wünsche: Nicht mehr zu schreiben, sondern zu handeln, etwas zu unternehmen wie er? – Dann hätten wir noch am gleichen Abend beschliessen können, die Rollen zu tauschen. Marcel würde zu schreiben beginnen, in der Hoffnung, dass die Muse ihn küsse – während ich an seiner Stelle Einsitz nähme in der Konzernleitung, um mit innovativer Unverdorbenheit die Konkurrenz das Fürchten zu lehren.
Aber das Leben ist, wie man leider weiss, kein Roman. Romanfiguren verhalten sich so, wie wir uns gerne verhalten würden. Doch im wirklichen Leben benehmen wir uns etwas weniger spektakulär.
Am Ende des Abends war ich noch immer der Dichter und Marcel noch immer der Herr Direktor. So gingen wir beide nach Hause, im Wissen, dass jeder ist, was er ist – und seiner Haut nicht entkommen kann.
Ich kenne zwar Menschen – oder habe von ihnen gehört –, die nicht bloss geträumt und geredet haben. Sie verliessen Karriere, Beruf und Gewohnheit, um ein anderes Leben auszuprobieren und schafften es. Ich gebe zu, ich bewundere ihren Mut.
Glücklicherweise – weil wir sonst an uns zweifeln müssten – sind solche Menschen selten. Die Regel sind wir, Zeitgenossen wie Marcel und ich, die ihren Beruf, vielleicht sogar ihre Berufung haben, ein bis zwei Hobbies – vor allem aber unberührt gebliebene Träume, unausgekostete Interessen und Fähigkeiten, von denen man ein Leben lang glaubt, man besitze sie, ohne sie der Welt je zu zeigen.
So steht es um uns, dachte ich auf dem Heimweg von unserer Klassenzusammenkunft, die so lustig begonnen hatte und so nachdenklich endete: Welche ernüchternde Bilanz unseres Erdenlebens!
Und doch, überlegte ich weiter, wir halten es aus, Marcel und ich – wir finden uns damit ab, dass unser Lebensweg derjenige bleibt, für den wir uns einmal entschieden haben. Wir sind sogar manchmal zufrieden damit, wenn nicht der Unzufriedenheitsteufel uns reitet.
Dass es so ist, hat vielleicht, dachte ich, seinen tröstlichen Grund – tröstlich zumindest für jene, die daran glauben. Denn im Innersten – sagen jene, die daran glauben – tragen wir die Gewissheit, dass wir nicht zum erstenmal hier sind und nicht zum letztenmal. Und jedesmal, wenn wir wiederkommen, wählen wir einen anderen Weg.
Wenn es so wäre – und ich wünschte mir, dass es so wäre, und Marcel würde mir sicher beipflichten –, könnten wir unser Leben gelassener nehmen. Wir spielen unsere Rolle, könnten wir denken, aber nur im gegenwärtigen Stück. In der nächsten Spielzeit wird die Rolle, die wir dann haben, eine andere sein.
Marcel, der Mann der Wirtschaft, wird das nächste Mal vielleicht wirklich ein Mann der Feder. Und vielleicht, wer weiss, wird dann auch er einen Schulfreund haben, der eine Aktie geschenkt bekommt.
Dieser Schulfreund werde aber nicht ich sein. Auch im nächsten Leben, vermute ich, wird es für mich interessantere Dinge als Aktien geben. Nicht, weil ich etwas gegen die Wirtschaft hätte. Aber meine Welt ist eine andere.
Und ich glaube, sie wird es bleiben
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