Eine unbewilligte Holzskulptur

Auf einer kleinen Insel im Zürichsee stand eines Morgens mitten im Sommer eine mehrere Meter hohe, massive Skulptur aus Holz, von der niemand weiss, von wem sie stammt. Sie gleicht den altertümlichen Statuen auf der Osterinsel, und wie diese hat sie keine Bewilligung. Seither erfreut sie alle, die das Richterswiler Inselchen per Boot oder schwimmend erreichen. Doch ihre Tage sind gezählt. Eine Sommergeschichte als Lehrstück.

Nur noch wenige Wochen geduldet: Die Holzskulptur auf dem Inselchen Schönenwerd bei Richterswil (Bild Netzfund)

Auf dem Zürichsee gibt es drei Inseln. Die grösste heisst Ufenau, die zweitgrösste Lützelau und die drittgrösste ist im Grunde gar keine Insel, sondern ein Inselchen, da ihre Ausdehnung lediglich 72 auf 42 Meter beträgt. Sie heisst Schönenwerd, gehört zur Gemeinde Richterswil und ist vom Ufer ganze 260 Meter entfernt, sodass sie nicht nur per Boot, sondern auch schwimmend ohne Mühe erreicht werden kann. 

Vor 180 Jahren wurde die Insel, die an der Grenze zwischen den beiden Kantonen Zürich und Schwyz liegt, hochoffiziell dem zürcherischen Hoheitsgebiet zuerkannt. Ein Richterswiler Arzt wollte darauf das Eiland  erwerben, um daselbst eine sanitarische Anstalt für «geistig Leidende» zu erstellen. Doch die Gemeinde beschloss, Schönenwerd selber zu kaufen. In einer vom Kanton durchgeführten Versteigerung waren die Richterswiler die einzigen Bieter, und sie erhielten die Insel für 100 Franken. 

Schönenwerd diente fortan als Badeort, denn am Ufer des Sees war das Wasser seinerzeit so verschmutzt, dass ein Bad erst da draussen zu einem Vergnügen wurde. Zwei Umkleidehäuschen zeugen noch heute von den einstigen Badefreuden. Sonst beherbergt die Insel, abgesehen von einer Feuerstelle, nichts als die reine Natur. Gelegentlich nutzen die Richterswiler das «Inseli», wie sie es liebevoll nennen, für kleine Sommerfeste. Darüber hinaus bleibt es unbehelligt. Idyllisch liegt es in Sichtdistanz vor dem Ufer und hat seinen Frieden wie eh und je. 

Bis vor einigen Wochen. 

Überraschend wurde eines Tages entdeckt, dass auf Schönenwerd eine Statue steht. Ein Augenschein vor Ort ergab, dass es sich um eine stattliche, mehrere Meter hohe Holzskulptur handelt, die mit ihrer grossen Nase und dem lang gezogenen Haupt an die riesigen Steinstatuen auf der pazifischen Osterinsel erinnert. Wer die Statue auf das Inseli überführt und aufgestellt hat, blieb ein Rätsel. Doch nun stand sie da, mächtig und stumm, von menschlicher Hand gestaltet und doch kein Fremdkörper. Auf natürliche Weise fügt sie sich in die Pflanzenwelt ihrer Umgebung. 

Bei weitem störender für den Betrachter wirkt der daneben im Boden verankerte Picknicktisch mit dazugehörigen Bänken. Die hölzerne Statue aber stört nicht. Ihre Anwesenheit auf dem Inselchen amüsiert und erfreut, und schon im zweiten Sommer würde sie zur Insel gehören, als hätte sie immer schon dort gestanden. Sie würde rege besucht. Immer mehr Richterswiler und  Auswärtige würden per Boot und schwimmend zum Inselchen pilgern, um die Skulptur zu besichtigen. Die wunderlichsten Geschichten würden sich um die Statue ranken, denn immer noch wüsste man nicht, wer ihre Urheber sind.

Und niemandem würde sie schaden.

An dieser Stelle könnte unsere Inselgeschichte ihr glückliches Ende gefunden haben. Doch kehren wir zurück in die Wirklichkeit. Und in der Wirklichkeit steht zwischen der Welt und den Menschen der Staat. Als die Richterswiler Gemeindebehörden von der Skulptur auf der Insel erfuhren, mussten sie handeln. Oder präziser: Sie glaubten, handeln zu müssen. Denn die Statue war nicht bewilligt. 

Eine Mitteilung an die Medien erfolgte. Sie begann mit den Worten: 

Die Gemeinde Richterswil ist sehr offen für Kunst und Kultur und freut sich über das kreative Engagement und die Bereicherung unseres Ortsbildes.

Ein schönes Statement. Beamte sind keine Schreibtischtäter. Auch Beamte lieben Kultur. Doch dann folgte das Kleingedruckte:

«Es ist uns wichtig, den öffentlichen Raum geordnet und für alle zugänglich zu gestalten», schrieb die Gemeinde. Daher bitte sie um Verständnis, dass man solche Aktionen ohne behördliche Erlaubnis nicht zulassen könne.

Wer das las, dem drängten sich erste Fragen auf: Ist das Inselchen seit dem Erstellen der Holzskulptur nicht mehr «für alle zugänglich»? Bringt die Statue Unordnung in den «öffentlichen Raum»? - Die Richterswiler Beamten waren offenbar dieser Ansicht. Und am meisten ärgerte sie, dass der Künstler der Osterinselskulptur anonym blieb. Kein Name, keine Adresse. Nur eine Inschrift auf der Rückseite des Objekts: «Verein zur Verschönerung von Richterswil». Niemand hörte je von diesem Verein. 

Der Behörde blieb nur die sanfte Erpressung. In gendergerechten Worten drohte sie freundlich:

«Die Gemeinde bittet die Urheberinnen oder Urheber des Werks, sich zeitnah bei der Verwaltung zu melden.» Man sei offen für den Dialog und prüfe gern Möglichkeiten, ob das Kunstwerk nachträglich genehmigt werden könnte.

Sollte sich niemand melden, sind wir im Sinne des Gesetzes gezwungen, die Kunstinstallation abzubauen, was sehr bedauerlich wäre.

Bis zum 21. August gab die Gemeinde den unbekannten Kunstschaffenden Zeit, sich zu melden. Die Medien griffen das Thema auf, das Fernsehen reiste nach Richterswil, die Öffentlichkeit wurde aufmerksam – aber keine Zeitung und kein lokaler Politiker sprach sich für das Naheliegende aus: die Skulptur einfach stehenzulassen. Nur eine kleine Dorfzeitung mobilisierte online für einen Verbleib der Statue auf der Insel, und die Richterswilerinnen und Richterswiler, die sich zu Wort meldeten, fanden alle dasselbe: 

Da das Kunstwerk niemanden stört - stehenlassen!

Dass sich die Schöpfer der Statue nicht sogleich meldeten, war nur allzu verständlich. Sie mussten mit einer Busse rechnen. Kurz vor Ablauf der Frist liessen sie dann von sich hören. Ihre Identität gaben sie zwar nicht preis, doch die Behörde hatte nun die Adresse einer Kontaktperson und konnte sich wieder grosszügig geben. 

«Die Gemeinde wird die Holzfigur ohne grossen bürokratischen Aufwand bis zu den Herbstferien stehen lassen», wurde versprochen. «Danach wird sie abgebaut.»

***

Ich telefoniere mit dem Gemeindeschreiber. Als Urenkel des Gemeindeammanns von Richterswil nehme ich mir die Freiheit heraus, mich in die Angelegenheit einzumischen, und ich frage den Schreiber, der wie alle Gemeindeschreiber das heimliche Oberhaupt der Gemeinde ist, ob denn die Urheber der Skulptur damit einverstanden sind, ihr Kunstwerk vor den Herbstferien abzuräumen?

Offenbar ja, entnehme ich seiner Antwort. Ich erfahre auch gleich, warum. Denn was würde geschehen, wenn sie die Statue stehenliessen? 

«Dann würde sie eingezogen.» Auf gut Deutsch: Dann würde sie konfisziert. Und die Kunstschaffenden müssten, um ihr Kunstwerk zurückerhalten, mindestens die Kosten für die behördliche Konfiskation bezahlen. Plus Schreibgebühren. Und am Ende würden sie doch gebüsst.

Ich frage den Gemeindeschreiber, warum die Gemeinde das Kunstwerk nachträglich nicht bewilligen könnte? Ein grösseres Kunstobjekt, erklärt mir darauf der Beamte, falle unter das Baugesetz. Die Künstler müssten ein Baugesuch stellen. Das würde dann kompliziert. Weil das Objekt ausserhalb der Bauzone stehe, müsste der Kanton darüber entscheiden. Der Gemeinde wären die Hände gebunden.

Bürokratie, lerne ich einmal mehr, ist die Ausrede der Nicht-Zuständigkeit. Man kann leider nichts tun. Entschieden wird weiter oben. 

Sie hätten auch wegschauen können, sage ich zum Gemeindeschreiber. Sie hätten NICHT handeln können. Denn eine Statue, die nicht stört, liesse sich ignorieren. Aber das können Staatsdiener nicht. Das dürfen sie nicht. Das Gesetz gilt für alle. Würde die Holzskulptur auf dem Inselchen toleriert, könnte ein anderer Künstler dasselbe Recht für sich reklamieren. Auch er könnte sein Kunstwerk irgendwo hinstellen. Am Bahnhof vielleicht. Oder vor dem Gemeindehaus. Mit Verweis auf die geduldete Holzskulptur. Wenn die das dürfen, dann darf ich das auch. 

Aber das geht nicht. Da könnte ja jeder kommen. Am Ende wäre Richterswil mit illegaler Kunst übersät. Mit schöner Kunst und scheusslicher Kunst. Wer kann das wollen?

«Da könnte ja jeder kommen». Ein schrecklich vertrauter Satz. Ein Beamtensatz. Aber es kommt nicht jeder, könnte man widersprechen. Und käme es - rein theoretisch - tatsächlich so weit, dass sich die unbewilligten Kunstobjekte im Dorf wie Kaninchen vermehrten, dann würden die Richterswiler selber sich wehren. Dann würden sie irgendwann sagen: Jetzt reicht’s. Dann würde daraus eine öffentliche Debatte. Und es würde sich eine Lösung finden. Eine einvernehmliche Lösung. 

Das wäre Demokratie.

Würde die Statue toleriert, wäre allerdings aus behördlicher Sicht eine andere Konsequenz zu befürchten. Ein Richterswiler Bürger könnte sich beim Kanton beschweren. Er könnte beanstanden, dass die Gemeinde ein illegal erstelltes Objekt einfach stehenlässt. Dann würde der Kanton die Richterswiler zitieren und darauf dringen, dass die lokale Behörde ihrem gesetzlichen Auftrag nachkommt. 

Doch die Gemeinde könnte sich weigern. Sie könnte sich auf die Gemeindeautonomie berufen und die Statue stehenlassen. Die Dorfbewohner würden sich hinter ihren Gemeinderat stellen. Kunst- und Freiheitsliebende im ganzen Kanton würden sich solidarisch erklären. Sogar die Medien würden sich vom rebellischen Geist der Richterswiler anstecken lassen. Würde der Kanton die Machtprobe wagen?

***

Aber was fantasiere ich. Die Skulptur auf der Zürcher Osterinsel darf nur noch wenige Wochen bleiben. Dann muss sie abgeräumt werden. 

«Ich finde die Statue selber cool», sagt der Gemeindeschreiber zum Schluss. Das sagt er wirklich – und fügt hinzu: «Aber ich bin verpflichtet, das Gesetz zu vertreten.» 

Diese letzten zwei Sätze wirken immer noch in mir nach. Ich finde sie furchtbar. In Gestalt einer unbedeutenden Sommerposse begegnet uns hier die grosse Tragödie von der Unmenschlichkeit des Staates. Wie der Gemeindeschreiber von Richterswil, gibt es im ganzen Land Tausende und Abertausende kleine und grosse Beamte, die menschlich fühlen, aber kraft ihres Amtes glauben, bürokratisch handeln zu müssen. 

Die Leidtragenden dieser täglichen Schizophrenie sind wir, die Bürgerinnen und Bürger, die wir den Gesetzen gehorchen müssen, selbst wenn sie uns unsere Freiheit nehmen. Die Holzskulptur auf dem Inseli nimmt uns nichts. Sie gibt uns etwas. Sie bereitet uns Freude. Ihre Präsenz ist ein unverhofftes Geschenk und eine Botschaft in schwierigen Tagen. Wie ihre grossen Vorbilder im Pazifischen Ozean steht sie da, stolz, unbewilligt und immer noch rätselhaft, weil niemand weiss, wer sie hingestellt hat.

Möge sie bleiben.
 

29. August 2024
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