Stella Assange: «Zusammen können wir die Geschichte verändern, auch in Gaza»

Stella Assange gab am 8. September der stellvertretenden Herausgeberin von Il Fatto Quotidiano, Maddalena Oliva, vor vollem Saal auf dem FattoFest in der Casa del Jazz in Rom ein Interview.

Stella Assange (Bild von Pressenza)

Die erste, obligatorische Frage: Wie geht es Ihrem Mann, Julian?

«Julian erholt sich langsam», antwortete Stella, auf die schwierigen Jahre der Inhaftierung anspielend – zuerst in der ecuadorianischen Botschaft in London und dann in einer Isolationszelle im Belmarsh-Gefängnis, ebenfalls in Grossbritannien. «Er unternimmt viele körperliche Aktivitäten: lange Fahrradtouren, Schwimmen im Meer, lange Spaziergänge… So gewinnt er langsam wieder an Farbe. Es bewegt mich, wenn ich ihn in der australischen Wildnis sehe, wie er lange auf die Wellen schaut. Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, dass das, was ich sehe, real ist.»

Und was wird Julian jetzt tun?

«Die Vereinbarung, die Julian mit der US-Justiz getroffen hat», erklärte Stella, «läuft auf Folgendes hinaus: Julian hat akzeptiert, als schuldig zu gelten, Journalist gewesen zu sein, d.h. die von Chelsea Manning übermittelten Dokumente veröffentlicht zu haben» – denn so steht es in dem gegen ihn verwendeten US-Gesetz, dem Espionage Act, das nicht zwischen Spionage (Weitergabe von Informationen an den Feind) und Journalismus (Weitergabe von Informationen an die Öffentlichkeit) unterscheidet. All dies, deutete Stella, bedeute einfach, dass das Gesetz schlecht geschrieben sei und geändert werden müsse.

«In der Zwischenzeit», fügte die 40-jährige gebürtige Südafrikanerin hinzu, «ist Julian nun ein freier Mann; er hat das Recht, sich öffentlich zu äussern, da die Vereinbarung keine Einschränkungen diesbezüglich enthält. Er wird seine journalistische Arbeit fortsetzen, und ihr werdet sehen – wenn er sich bereit fühlt, wird er sprechen.»

«Hast du eine Ahnung, wie bald?», fragte Oliva.

«Ich weiss es nicht; die Entscheidung liegt bei ihm», antwortete Stella. «Sie haben ihm so viele Jahre seines Lebens genommen, jetzt muss er sich erholen und wieder auf die Beine kommen. Er holt gerade Luft. Auf jeden Fall ist er auf gutem Weg.»

Oliva wollte dann wissen, ob Stella und Julian über Politik reden – zum Beispiel über die laufenden Kriege auf der ganzen Welt und wie in den Medien darüber berichtet wird – insbesondere über den Konflikt in Gaza.

«Wir reden, ja, über die Vertuschungen, wie in den Tagen von WikiLeaks», sagte Stella. In Bezug auf das Massaker in Gaza werde zum Beispiel «die grosse Beteiligung westlicher Mächte fast nie erwähnt, die durch Lieferung nicht nur von Waffen, sondern auch von Geheimdienstinformationen stattfindet, zum Beispiel über Grossbritanniens Stützpunkt auf Zypern.»

Wenn du in Gaza PRESSE auf dem Rücken stehen hast, bist du eine Zielscheibe.

Ausserdem, so Stella weiter, helfen die Grossmächte Israel, indem sie Nachrichten über Gaza filtern, um deren Einfluss auf die öffentliche Meinung zu verringern. Israel tut noch mehr: Es unterdrückt die Verbreitung von Videos über die Zerstörungen, indem es die Journalisten tötet, die sie filmen. «Wenn du in Gaza PRESSE auf dem Rücken stehen hast, bist du eine Zielscheibe. – Das sind alles Dinge, über die Julian und ich sprechen.»

Stella erinnerte sich dann daran, wie Julian Ende Oktober 2023, noch im Belmarsh-Gefängnis, die Präsidentin der Internationalen Journalistenföderation, Dominique Pradalie, treffen konnte. «Julian drückte ihr gegenüber seine grosse Sorge über das Schicksal der Journalisten in Gaza aus, waren doch eine Woche nach Beginn der israelischen Offensive bereits Dutzende von Journalisten getötet worden.»

Aber Israels Versuch, Nachrichten aus dem Gazastreifen zu unterdrücken, beschränkt sich nicht auf die Tötung von palästinensischen Journalisten vor Ort, fügte die Menschenrechtsanwältin hinzu. Israel verbietet allen unabhängigen westlichen Journalisten die freie Einreise nach Gaza. Und nicht nur das. Es drängt die Grossmächte dazu, Nachrichten, die – ob gut oder schlecht – noch aus Gaza herauskommen, zu unterbinden, indem es diejenigen , die sie verbreiten und diejenigen, die für Gaza demonstrieren, unterdrückt.

«Das Vereinigte Königreich hat sich in dieser Komplizenschaft mit den Massakern gegen das palästinensische Volk besonders hervorgetan», so Stella weiter. Die Regierung verhaftet unabhängige britische Journalisten, die auf ihren Blogs und in den sozialen Medien die Nachrichten veröffentlichen, die sie von den noch lebenden palästinensischen Journalisten erhalten haben.

«Nicht nur das, sie klagt diese britischen Journalisten zusätzlich unter dem Terrorismusgesetz an», fügte Stella hinzu und zitierte den Fall von Craig Murray, einem Freund von Julian, der sich schuldig gemacht hat, einfach an einer Kundgebung zur Unterstützung Palästinas teilgenommen zu haben. Die Polizei verhaftete ihn, beschlagnahmte sein Mobiltelefon und seinen Laptop und verhörte ihn ausführlich, um alle Einzelheiten über die Manifestation herauszufinden und auch um Informationen über WikiLeaks zu erhalten.» Ein klarer Einschüchterungsakt, dem ähnliche gegen die Journalisten Richard Medhurst und Sarah Wilkinson folgten. Alle wurden des «Terrorismus» bezichtigt, weil sie die palästinensische Sache durch Veröffentlichung der Videos und Berichte, die sie bekamen, unterstützt hatten. Man kann sich leicht vorstellen, wie einschüchternd diese Verhaftungen auf andere Journalisten wirkten.

«Was die Unterdrückung der Demonstranten angeht», fuhr Stella fort, »läuft es gleich. Während sie früher wegen einfacher Vergehen wie ‚Verunstaltung eines Gebäudes‘ oder ‚Sachbeschädigung‘ belangt wurden, werden sie jetzt ebenfalls wegen Terrorismus angeklagt, weil sie für Palästina demonstrieren.»

«Bedeutet all dies, dass die Pressefreiheit im Westen in Gefahr ist? Bedeutet es, dass die freie Berichterstattung jetzt eingeschränkt und kontrolliert wird?», fragte Oliva.

«Absolut», antwortete Stella und fügte hinzu: «Julians Inhaftierung diente genau diesem Zweck der Einschüchterung; jetzt sehen wir, wie sie gegen alle praktiziert wird, die die Menschen in Gaza unterstützen. Der Internationale Strafgerichtshof und der Internationale Gerichtshof versuchen einzugreifen, um unsere Menschenrechte zu schützen, werden aber von den britischen Behörden selbst systematisch verunglimpft. Das ist sehr ernst, denn dadurch werden die supranationalen Institutionen untergraben, in die wir so viel Hoffnung gesetzt hatten. Die westlichen Länder müssen sich fragen, ob sie rechtsstaatliche Zustände wollen oder nicht.»

Dann zeigte Oliva Stella und dem Publikum das Bild einer «Klagemauer» – eine sehr lange Liste, die aussah, als wäre sie auf eine Wand in Gaza geschrieben worden, mit den Namen der Kinder, die allein im Oktober getötet wurden. Und stellte dann die Frage: «Warum gab es 2010 so viel Empörung, als Julian das Video «Collateral Murder» veröffentlichte, in dem die Tötung von 18 irakischen Zivilisten und die Verwundung von zwei Kindern gezeigt wurde, während es heute angesichts einer solch schrecklichen Liste kaum Reaktionen gibt? Ist es Gewöhnung?»

«Das glaube ich nicht», antwortete Stella. «Es ist unmöglich, sich an solche Bilder zu gewöhnen. Heutzutage finden wir absolut grausame Bilder in den sozialen Medien, und ich denke, es ist wichtig, dass sie dort zu sehen sind, eben damit wir das andauernde Massaker nicht vergessen. Wenn wir auch nur einen Funken Menschlichkeit besitzen, dürfen wir nicht wegschauen, sonst werden wir zu Komplizen. Mehr als die Gewöhnung ist das Problem, dass die Menschen auf lange Sicht glauben, das Massaker nicht aufhalten zu können, keinen Einfluss auf die Politik zu haben. Deshalb fangen sie an, wegzuschauen.»

Die Bewegung, die zu Julians Freilassung geführt hat, war ein unglaubliches Beispiel für die Stärke einfacher Bürger.

Unbeirrt erinnerte Oliva Stella daran, welchen Einfluss die Kampagne für die Freilassung ihres Mannes auf die Politik gehabt hatte. «Gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger haben sich nicht gebeugt; sie wussten, dass nicht das Leben eines einzelnen Mannes auf dem Spiel stand, sondern die Demokratie selbst. Glaubst du nicht», so schloss sie, «dass eine Gemeinschaft von normalen Bürger und Journalisten etc. einen anderen Kurs in Bezug auf die Geschehnisse in Gaza einschlagen und vielleicht den israelischen Premierminister Netanjahu zum Rücktritt zwingen kann?»

«Ich denke, die Bewegung, die zu Julians Freilassung geführt hat, war in der Tat ein unglaubliches Beispiel für die Stärke einfacher Bürger», antwortete Stella. «Nicht zuletzt, weil die Mächte, gegen die wir gekämpft haben, sehr stark waren – wenn auch gleichzeitig schwach in dem Sinne, dass sie unter dem richtigen Druck zusammenbrechen konnten. Denn so ist das in der Politik, wenn es eine Bewegung gibt, die nicht aufgibt und weiter kämpft. Aber das braucht Zeit: In Julians Fall haben wir gesehen, dass es Jahre – leider viele Jahre – kontinuierlichen Drucks bedurfte. Wie zum Beispiel auf der Ebene der lokalen Behörden. Es war aussergewöhnlich, all die Gemeinden in Italien zu sehen, die dazu beigetragen haben. Als ich in Frankreich und Deutschland unterwegs war, um verschiedene Auszeichnungen entgegenzunehmen, habe ich immer an die vielen Ehrenbürgerschaften erinnert, die Julian in Italien verliehen wurden. Als ich in Australien war, habe ich den Leuten gesagt: Schaut, was die Italiener für einen australischen Staatsbürger tun. Und was tust du für ihn, einen deiner Landsleute? Am Ende war es der kumulative Effekt von all dem, plus die wichtige Unterstützung vieler Politiker und Staatsoberhäupter. Deshalb stimme ich dir zu. Wenn wir viele sind, werden wir irgendwann den Lauf der Geschichte verändern».


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Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Patrick Boylan
Patrick Boylan, ehemaliger Professor für Englisch für interkulturelle Kommunikation an der Universität Roma Tre, hat in seiner Heimat Kalifornien und an der Sorbonne in Paris studiert, wo er auch als Gastprofessor lehrte. Heute ist er Mitherausgeber des Journal of Intercultural Mediation and Communication (Cultus), führt interkulturelle Schulungen durch und ist Aktivist für das NoWar Network und die Vereinigungen PeaceLink und Americans for Peace and Justice.