Der Leib ist ein Erkenntnisorgan
Unsere Kultur ist nicht körperfeindlich – sie ist leibesfeindlich. Unsere leibliche Existenz ist zu einer Sache verkommen: dem Körper und seinen Teilen, von denen jedes ersetzbar und optimierbar sei. Wie wäre es, wieder Leib zu sein? Die Samstagskolumne.
Vor einigen Tagen führte ich ein Interview mit der früheren Innsbrucker Professorin für Frauenforschung, Claudia von Werlhof, über die Geschlechterfrage. Ich möchte noch nicht näher auf den Inhalt eingehen (das ganze Gespräch werde ich an dieser Stelle nächste Woche als Podcast veröffentlichen), sondern nur auf eine einzelne Aussage, die irgendwann im Nebenbei fiel: nämlich dass moderne Menschen heute nur noch vom Körper sprechen, nicht mehr vom Leib. Das sei kein Zufall. Damit werde uns eine Wissens- und Seinsquelle abgeschnitten. Denn der Körper, den haben wir, er ist etwas Materielles, Auswechselbares, Verbesserbares. Der Leib aber, der sind wir: Es ist unsere Existenz, er ist Wissen, Fühlen, Ich.
Hier gibt es den Beitrag zum Hören - bei Radio München:
Das machte mich neugierig. Ich blätterte ein wenig im Internet – und siehe da, ein ganzer philosophischer Diskurs tut sich auf. Das Corpus delicti, um das es hier geht, unsere leibliche, natürliche Existenz, ist in unserer Kultur zu einer Sache verkommen, zum Körper. Waren vorzeiten noch Körper, Geist, Seele eine Einheit, gilt seit Descartes: «Cogito ergo sum». Die rein geistige Existenz-Definition unseres Seins macht dem Körper zu einem Ding, das wir mit uns herumtragen, das wir besitzen wie ein Auto.
Sprechen wir vom Körper, dann sind wir auch schnell beim Körper-Teil. Wie jedes Ding ist ein Körper die Summe seiner (auswechselbaren) Teile. Wenn aber eine Sache nur noch die Summe ihrer Teile ist, wo aber ist dann das Ich? Wo ist die Seele?
Ein Körper ist der von der Seele getrennte Leib. Eine notwendige Ressource im kapitalistischen Überlebenskampf. Wir sollen ihn regelmässig warten, damit er uns wettbewerbsfähig hält. Ernährung oder Sport, selbst Vergnügen, Freizeit und Sex werden danach bewertet, ob sie diese Ressource länger haltbar machen oder nicht. Wo es beim Leib um Genuss, Gefühl und Kultur ging, geht es bei der Körpermaschine um In- und Output, Treibstoff, Regenerationsphasen und Effizienz.
Der Körper gilt als eine Art Maschine, in der alles berechenbar ist. Ihr Wert wird durch ihre Leistung und den Vergleich mit anderen Maschinen aus derselben Produktionsreihe ermittelt. So ist ein Körper immer etwas Verbesserungswürdiges. Wer ist schon mit dem eigenen Körper zufrieden? Er sollte schöner, schlanker, jünger, schmerzfreier, lustfähiger, ausdauernder, leistungsfähiger sein – und dafür stehen in unserer Wunderwelt des Fortschritts pharmazeutische, mechanische oder digitale Methoden zur Verfügung.
Wenn die Körpermaschine einen Fehler hat – eine Behinderung, ein als falsch empfundenes Geschlecht, das Alter, eine Sucht – dann steht eine ganze Industrie bereit, um diesen Makel zu beheben. Geeignete chemische Inputs dämpfen, steigern, regulieren je nach Wunsch. Defekte Teile werden gegen künstliche ausgetauscht, und die sind – wie uns weisgemacht wird – besser, leistungsfähiger, haltbarer als die originalen.
Paralympics oder Pride Märsche sind nicht (nur) die modernen Befreiungsereignisse, als die sie uns verkauft werden. Es sind auch Demonstrationen für den Sieg über die Natur – und Produktmessen mechanisch-pharmazeutischer Körperoptimierungen. Oder glaubt jemand, dass die Industrie aus purer Menschlichkeit so viel Geld in «Behindertensport» investiert? Diese Events zeigen der Welt: Es gibt keine Grenzen. Wenn einbeinige Wettläufer dank Prothese viel schneller als unversehrte Sprinter laufen können, wenn dieser bärtige, stämmige Mann einmal eine Frau war – dann wissen wir, wem wir das zu verdanken haben: dem omnipotenten Fortschritt. Der Vision des austauschbaren, replikablen Maschinenmenschen. Dem Transhumanismus. Das alles schwingt mit, wenn wir von «Körper» sprechen.
Und beim Leib? Das altmodische Wort erinnert mich als erstes an einen Brotlaib: ein warmes, zusammenhängendes, lebendiges Ganzes. Dann an Leib und Seele und ihre Einheit. Im Internet finde ich den Satz: «Als Leib im phänomenologischen Sinn ist der Mensch Angelpunkt der Perspektiven, mit denen er die reale Welt und alle Gegenstände wahrnimmt. Ohne die leibliche Perspektive liesse sich nicht von Gegenständen sprechen. Die leibliche Perspektive ermöglicht und begrenzt zugleich unsere Erkenntnis.» (Doris Schuhmacher-Chilla)
Auf diesem Satz muss man etwas herumkauen. Direkter finde ich es bei Sabine Lichtenfels: «Leib und Erde wurden zu seelenlosen Objekten gemacht, die man beherrschen und benutzen konnte.» Die freischaffende Theologin beschreibt eine Kultur- und Kirchengeschichte, in der der Leib gleichgesetzt wurde mit dem Bösen, in der Philosophen das Leibliche endlich abschaffen wollten. Warum nur? Weil der Leib ein Erkenntnisorgan ist! Und Erkenntnis ist gefährlich - für jegliche Herrschaft.
Vielleicht möchten Sie dazu weiterstudieren – oder, wie ich, sich mit diesen wenigen Inspirationen selber auf Leibes-Erkenntnisreise machen: Zum Beispiel auf einen Spaziergang gehen – als Leib. Spüren Sie sich/ihn, nehmen Sie ihn/sich wahr. Schauen Sie nicht in einen Spiegel, um den Körper von aussen wahrzunehmen – spüren Sie das Wesen Ihres Leibes! Das ist das erste Geheimnis: Der Leib ist immer eine Ganzheit, immer vollkommen. Auch wenn wir uns ein Bein brechen, ist der Leib noch eine Einheit. In unseren Träumen sind wir weiterhin unversehrt. In unserer immer leiblichen Vollkommenheit sind wir verbunden mit anderen Leibern – seien es Menschen, Bäume, Wolken – und mit dem Ganzen überhaupt. Weiter bin ich noch nicht gekommen mit meinem Erfahrungsgang.
Doch gibt es Menschen, die gelernt haben, ihren Leib als Erkenntnisorgan zu nutzen. Die keine Nährstofftabelle brauchen, um zu wissen, welches Essen ihnen gut tut – denen ihr Leib sofort eine Resonanz gibt auf Geruch oder Aussehen der Speise. Die spüren, ob es einem Gegenüber – ob Mensch, Tier oder Pflanze – gerade gut geht oder nicht und was es braucht – durch ihren Leib. Die Mitfühlen mit dem Zustand des Lebens - durch ihren Leib.
Unser Leib ist immer immer da, wie unser Ich, denn er ist unser Ich, und er ist mit allem um uns verbunden. Wir können lernen, durch ihn die Welt zu erkennen. Durch seine/unsere Lust. Seinen/unseren Hunger. Seine/unsere Neugier, Wahrnehmung, Resonanz.
Die Vollkommenheit des Leibes heisst für mich nicht, dass ich eine Krankheit oder Verletzung einfach so hinnehmen und unbehandelt lassen würde. Ich möchte meinen Leib selbst befragen und spüren, welche gesundheitliche, leibliche, seelische Massnahme Sinn macht. Nicht als Optimierung. Sondern als Heilung, als Heil (=Ganz)-Werden.
Eins steht fest: Mit dem Bewusstsein vom Leib wurde uns auch das Ich genommen. Zeit, es zurückzuholen.
von:
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