Eine Zauberformel gegen den Rassismus wurde bislang nicht gefunden. Widerstand gegen dieses Übel bleibt der Lackmus-Test für funktionierende Demokratie. Jeder kann sich aktiv daran beteiligen.

Emilia Roig
Emilia Roig. Foto: Mohamed Badarne

Man stelle sich einfach mal vor, wie es wäre, wenn man sich bei jedem Verlassen der sicheren eigenen vier Wände ab der Haustür auf einen Spiessrutenlauf einstellen müsste. Täglich, ein Leben lang, überall – in der Arbeit, in der Öffentlichkeit, in der Schule: Pöbeleien, feindliche Blicke, Kontaktverweigerung, verletzende Grimassen und Geräusche.

Regelmässig werden auf den Fussballplätzen in unserer Nachbarschaft Spieler oder Spielerinnen wegen ihrer Hautfarbe rassistisch beleidigt. So ergangen ist es etwa kürzlich dem schwarzen Torwart des FC Saxon im Wallis: Mitten in einem Spiel machte ein gegnerischer Fan Affenlaute. Sein Team entschied sich darauf für einen deutlichen Schritt und verliess geschlossen den Platz. War das nun wirkungsvoller Widerstand gegen würdelose Gesten? Klare Kante gegen verletztes Menschenrecht? Oder nur hilflose Resignation gegenüber zunehmender Dummheit? Welcher Widerstand ist hier gefragt – und von wem?

Die Zahl rassistischer Übergriffe nimmt gemäss der Schweizer Fachstelle für Rassismus-Bekämpfung zurzeit konstant zu. Es sind offene Ausgrenzungen, beleidigende Abwertungen oder subtil versteckte und strukturelle Rassismen: Die mangelnde Gleichwertigkeit in Schule und Ausbildung, Nachteile bei der Wohnungssuche, ein schlechterer Arbeitsplatz, geringere Bezahlung, verweigerte Karrieren bleiben unverändert Realität für schwarze Menschen!

Nachrichten von zunehmender Aggression und Polarisierung in deutschsprachigen Ländern gibt es täglich: In Berlin endete erst vor kurzem ein lapidarer Streit um einen Parkplatz für einen Schwarzen tödlich. Im österreichischen Graz hetzt ein Schild an einer Gaststättentür «N*** werden hier nicht bedient!». Das ist im Bundesland Steiermark kein Einzelfall, die dortige Antidiskriminierungsstelle spricht aktuell von einer Flut von Übergriffen und Hassnachrichten gegen schwarze Menschen.

Rassismus ist für die knapp drei Millionen schwarzen und migrantischen Menschen in der Schweiz, für die 25 Millionen mit Migrationshintergrund in Deutschland und für die 2,5 Millionen in Österreich also Alltag. Die Folge ist ein zutiefst bedrohliches Lebensgefühl, dass sich Weisse meist gar nicht vorstellen können oder wollen. Für die Betroffenen bedeutet es schlimmstenfalls eine konstante Retraumatisierung, die krank, misstrauisch, depressiv oder aggressiv macht. Und die im schlimmsten Falle tötet.

Millionenfach ist Rassismus ein «verstecktes» Massenphänomen! Es ist ein Verhalten, dass der Mehrheitsgesellschaft oft gar nicht auffällt, weil sie es nicht selbst erlebt oder weil sie lieber nicht hinschauen will. Von einer «Kultur der Verleugnung» bei den Eidgenossen sprach eine UN-Mitarbeiterin angesichts des täglichen Rassismus, der Schwarze in der Schweiz sechsmal so häufig trifft wie andere migrantisch gelesene Menschen. Das ist kaum besser als die Zustände in Deutschland, das laut einer EU-Untersuchung als das Land in Europa gilt, in dem es Schwarze am schwersten haben. Österreich liegt in diesem unrühmlichen Ranking kurz dahinter. Da geht es nicht nur um Flüchtlinge aus Afrika, sondern besonders auch um schwarze Bürger mit deutschem, österreichischen oder eidgenössischen Pass, die oft seit Generationen in Europa leben oder hier geboren sind. Aber nicht die gleichen Rechte und Chancen haben …

Es sind dies Folgen einer europaweiten politischen Entwicklung, die vordergründig patriotisch daherkommt, aber zugleich die Leichen im Keller rechter Ideologie wiederbelebt: Rassenlehre, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung, die sich in offener Gewalt ausdrückt oder in politisch gefährlichen Fantasien von «Remigration». In Deutschland, der Schweiz und Österreich sitzen bereits wieder verängstigte Menschen fluchtbereit auf gepackten Koffern, weil sie sich fürchten vor einer unberechenbaren Macht, die ihnen wegen ihrer Hautfarbe schlicht Mitmenschlichkeit verweigert. In Deutschland trauen sich manche aus Angst vor körperlicher Gewalt nicht mehr allein auf die Strasse. Ernstgenommen wird ihre Not dabei selten.

Wie geht Widerstand gegen einen solchen wachsenden braun-blauen Schatten? Gegen einen schwer identifizierbaren Gegner, der überall auftreten könnte. Und dessen Macht offenbar wächst. Schattenboxen reicht da nicht!

Von einem «Empathie-Gap» spricht die Autorin Emilia Roig, eine in Berlin lebende jüdische Französin und Tochter eines algerischen Vaters sowie einer Mutter aus Martinique. «Es gibt eine hierarchische Trennung zwischen Menschen. Diejenigen, die als überlegen betrachtet werden, geniessen Empathie, Hochachtung, sie haben Zugänge zu Ressourcen, zu Rechten, zu Schutz», schreibt die promovierte Politologin. «Diejenigen, die als unterlegen betrachtet werden, geniessen keine Empathie und haben keine Zugänge zu Rechten, Ressourcen und Schutz. Das sind die Muster der Unterdrückung.»

In einer solchen Situation Widerstand zu leisten, braucht oft mehr Kraft, als bei den Betroffenen angesichts der existentiellen Bedrohung vorhanden ist.

«Wir sind ein Teil der Gesellschaft», betont Katharina Oguntoye, eine schwarze Deutsche mit einer Mutter aus dem Sudetenland und einem Vater aus Nigeria. «Doch werden wir wegen unseres Aussehens und unserer Wurzeln von unseren Mitbürgern gleichzeitig immer wieder wie ausgebürgert.» Die gleichberechtigte Zugehörigkeit wird im Alltag immer wieder verweigert, egal was im Pass steht.

Sich dagegen zur Wehr setzen kann nur, wer Strategien hat, Ausgrenzung und Abwertung psychisch zu bewältigen. Bevor es also zu Widerstand und Gegenwehr gegen Rassismus kommen kann, muss erst einmal die Resilienz der Betroffenen gestärkt werden. Diese Stärkung war Katharina Oguntoyes Ziel, als sie 1986 mit dem Buchtitel «Farbe bekennen» den Grundstein für afro-deutsche Identität legte. Seit 1997 unterstützt sie mit dem Verein Joliba in Berlin in kleinen, aber wirkungsvollen Schritten afro-deutsche Familien sowie afrikanische Geflüchtete und fördert in der deutschen Hauptstadt die interkulturelle Verständigung. Das ist für sie der soziale Humus, aus dem Veränderung wachsen kann.

«Resilienz und die eigenen Widerstandskräfte werden dadurch gestärkt, dass dsen Betroffenen zugehört wird und niemand sagt: ‹Du bist so überempfindlich›, sondern: ‹Deine Erfahrung ist real, und wenn du Hilfe brauchst, dann hast du einen Ort, an den du gehen kannst.›» Die Leute ernstnehmen, ihnen Rückhalt und Solidarität geben, das sind die wirkungsvollsten Zutaten für ihre Stärkung weiss Katharina Oguntoye nach Jahrzehnten der Stadtteilarbeit. Identität und Selbstbewusstsein bilden also den inneren Weg des Widerstands, den jeder Betroffene ersteinmal für sich kultivieren müsse. Daraus könne dann im Aussen auch Aktion entstehen – seien es solche Initiativen wie Joliba e.V. in Berlin, seien es aufklärende Bücher und Artikel, Podcasts und Podiumsdiskussionen, Demos und Proteste, die auf die Wirklichkeit schwarzer Menschen immer wieder hinweisen.

Die wesentliche Arbeit des ‚Widerstands‘ gegen rassistische Auswüchse müsse aber innerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft stattfinden, die sich mit den Ausgegrenzten solidarisiert, Vorurteile korrigiert, weiße Privilegien erkennt und politisch gegen Rassismen aufsteht. Für die Autorin und Rassismus-Beraterin Emilia Roig besteht der erste Schritt dabei darin, konsequent gegen die verbreitete Verleugnung von Rassismus vorzugehen. Schliesslich werde meist psychologisierend behauptet, die Betroffenen seien «überempfindlich» und der Rassismus doch längst überwunden. Roig: «Die Mehrheit der Bevölkerung verleugnet unbewusst, indem sie Rassismus verharmlost, sich nicht dagegen wehrt oder immer wieder versucht Ausreden zu finden, warum Rassisten halt so denken.» Diese leugnende Mehrheit stelle für die Betroffenen die grösste Gefahr dar.

Weil Verdrängung die Veränderung verhindert, steht pausenlose Aufklärung an, die aber nicht nur den Betroffenen überlassen werden kann, sondern Verantwortung der ganzen Gesellschaft ist: Bildungspolitisch zum Beispiel über die – aus den Lehrplänen verdrängte – Kolonialgeschichte, kulturpolitisch über die Aufdeckung strukturellen Muster der Unterdrückung, sozialpolitisch über den notwendigen Abbau weisser Privilegien und unbewusster Abwertungen. Die Betroffenen können dabei laut Emilia Roig dabei kaum mehr leisten, als der weissen Mehrheit konsequent einen unbequemen Spiegel vorzuhalten, weil erst aus dem Einblick in die gesellschaftliche Wirklichkeit Verhaltensänderungen folgen können. Da brauche es «ehrliche Radikalität, die bislang im Umgang mit dem Thema Rassismus fehlt».

Doch die ist für die Betroffenen alles andere als leicht, verschärft sie doch den schwelenden Konflikt und erhöht das Risiko rassistischer Übergriffe. Die Aktivistin Katharina Oguntoye fordert deshalb von sich selbst strategische Beweglichkeit, um nach 40 Jahren Engagement weiter durchzuhalten: «Wenn ich hart bin, dann breche ich. Also muss ich flexibel sein, um im Kampf überleben zu können. Das heisst, dass ich ganz klar Kante zeige und die Probleme benenne! Und auf der anderen Seite aber auch gesprächsbereit und interessiert bin an dem Anderen.»

Deshalb geht es für sie nicht darum, spiegelbildlich Aggression mit Wut zu beantworten, Hass mit Gegenhass, Ignoranz mit Verweigerung. Sie verweist auf ihre Mentorin, die legendäre schwarze US-Aktivistin und Dozentin Audre Lorde, die immer wieder sagte: «Das Haus der Herrscher wird nie durch die Werkzeuge der Herrschre zerstört werden!» Es braucht andere Wege!

Für Lordes einstige Studentin Katharina Oguntoye, heute selbst eine Älteste im antirassistischen Engagement, heisst das: «Ich muss mich und meine eigene Identität annehmen und auf dieser Grundlage auf den anderen zugehen, meine Geschichte teilen und zuhören.» Ihr geht es nicht um Kampf, sondern um die Einladung, die Schönheit von Diversität sowie das Positive kultureller Vielfalt zu erkennen und es entsprechend zu schützen. «Es gibt gegen Rassismus nicht die eine Zauberformel – und wenn ich die benutze, wird alles gut!»

Oguntoye geht es im Gegenteil darum, dass die Mehrheit aufwacht und erkennt, dass Gleichheit und Freiheit für alle gelten, es Bereitschaft braucht, Vorurteile zu überwinden, Privilegien abzugeben und kulturelle Vielfalt zu genießen. Schritt für Schritt, bis das Paradigma der weissen Überlegenheit auf dem Müllhaufen der Geschichte liegt.

Bis dahin wird es allerdings wohl noch Generationen brauchen, in denen antirassistischer Widerstand viele Gesichter haben wird, sagt auch Hannah Wölfling,eine deutsche Schwarze Studentin. Sie schrieb jüngst im Fach Transformations-Design an der Hochschule Augsburg ihre Abschlussarbeit über die Strategien dieses inneren und äusseren Kampfes gegen Rassismus: «Das Wichtigste sowohl für betroffene wie für privilegierte Personen ist es, die eigene Position innerhalb der aktuellen gesellschaftlichen Strukturen zu verstehen und Schritt für Schritt mutig zu verändern.»

Sie betont auch für die Betroffenen der jungen Generation schwarzer und weisser Menschen das Sowohl-als-auch aus kritischer Selbstreflexion und aktivem Widerstand. Zu dem aber gehört, auch die koloniale Vergangenheit Europas mit all seinen Vorurteilen und Abwertungen schwarzer Menschen endlich aufzuarbeiten: «Rassismus muss historisch betrachtet werden, um ihn im Heute aufzulösen.» Da ist tatsächlich viel zu tun – Schattenboxen reicht nicht!