Warum wir immer noch Kriege führen – liegt es vielleicht am System?
Man muss kein Sozialforscher sein, um herauszufinden, warum wir Kriege führen, geführt haben und sicher noch eine Weile führen werden. Es genügt ein achtsamer Blick hinter die Kulissen. Es sind seit Jahrhunderten immer wieder dieselben Gründe.
Das Massaker in Gaza, der Zermürbungskrieg in der Ukraine, das Massenelend im Sudan – Kriege und militärische Gewalt sind Markenzeichen unserer globalen Wirklichkeit – ja, auch im Jahr 2024, im Zeitalter der Hochtechnologie, der allumfassenden Unterhaltungsgesellschaft, der moralischen Überlegenheit dessen, was wir Demokratie nennen. Hunderte von Milliarden Dollar werden dafür immer wieder von Neuem wie aus der Wundertüte zur Fügung gestellt – für Zerstörung und Massenmord. Kriege, das wissen wir, gab es schon immer – schon seit Anbeginn der Geschichte, unserer schönen Geschichte. Es gehört also zu unserer Spezies, es liegt an unserer Natur, als Vertreter der Tierwelt. Aber Moment einmal – führen Tiere denn Krieg?
Man muss kein Sozialforscher sein, um herauszufinden, warum wir Kriege führen, geführt haben und sicher noch eine Weile führen werden. Es genügt ein achtsamer Blick hinter die Kulissen. Es sind seit Jahrhunderten immer wieder dieselben Gründe. Doch sind es eben diese Gründe, für die wir selbst verantwortlich sind, und die es gilt zu überwinden und hinfällig werden zu lassen.
Als unsere Vorfahren anfingen, sich vor über 10 000 Jahren sesshaft zu machen, sich für längere Zeit auf einem Territorium anzusiedeln, war es so weit. Land, der Grund und Boden, wurde zum persönlichen Eigentum erklärt. Und je mehr sich Menschen in Gruppen und Gemeinschaften zusammentaten, desto wichtiger und komplexer wurde dieser Anspruch auf Land. So ging es dann immer weiter, die Bevölkerungen wuchsen, benötigten immer mehr Nahrung, für das wiederum neues Land nötig war. Das nahm man sich dann. Und wenn darauf andere wohnten, musste man dafür kämpfen, mit allen Mitteln, mit allen Waffen, die jene Zeitepochen zu Verfügung stellten. Die Ausweitung des Territoriums für sich und seine Gemeinschaft. In der Zwischenzeit haben wir dann irgendwann angefangen, uns in Nationalstaaten zu organisieren – aber dazu später.
Der technische Fortschritt, die wissenschaftliche und intellektuelle Entwicklung führten schliesslich über Jahrhunderte zur Bildung einer immer komplexeren, ständig wachsenden und immer hungrigeren Gesellschaft, überall auf der Welt. Lange Zeit standen Menge und Vielfalt von Nahrungsmittel ganz oben auf der Wunschliste. Später wurde die Nachfrage nach praktischen Hilfsmitteln des täglichen Lebens, nach Verfahren für die industrielle Entwicklung (technische Revolution, Wohlstand) und schliesslich nach Unterhaltung und Kommunikation in welcher Form auch immer zu den wahren Leuchttürmen unserer Evolution.
Um jene Errungenschaften erhalten, vergrössern, schützen und kontinuierlich gewährleisten zu können, mussten wir lernen, die Grundlagen für all dies zu garantieren, ja einzufordern – ja genau, auch mit Gewalt. Neben Ackerland und Trinkwasser, rückten Energieträger und Rohstoffe, Bodenschätze, technologisches Know-how, der Zugang zu Handelsruten, zum Meer, in den Mittelpunkt der Betrachtung und zu Auslösern von kriegerischer Auseinandersetzung und Krieg. Mit anderen Worten, wirtschaftliche Interessen wurden zu Leitplanken für Krieg und Frieden – und sind es auch heute noch.
Und wenn wir schon über Wirtschaft sprechen, so müssen wir gezwungenermassen auch über politische oder gesellschaftliche Systeme, über Ideologien reden, ja auch über Religion und Glauben schlechthin – denn wir glauben ja auch an Marktwirtschaft, an die Demokratie. Die Vorstellung von einem bestimmten Wertegefüge, einer Gesellschaftsform, eines Glaubens, welche dem Einzelnen als eine höher gestellte Dimension und somit als Orientierung gilt, hat von Anbeginn der Geschichte unser Zusammenleben und damit Friedenszeiten und Kriegsepochen geprägt.
Kriege wurden und werden noch immer auch aus Gründen des Glaubens, auch des religiösen Glaubens geführt – über Jahrhunderte insbesondere im Namen des Christentums, später dann des Islams, wie auch aufgrund der unterschiedlichen Auslegung sowohl des Christentums (Katholiken, Protestanten) wie des Islams (Sunniten und Schiiten), und letztlich unter der Prämisse der religiösen Geschichtsschreibung, wie etwa im Fall Israel (die Thora – Gott gab den Nachfahren Abrahams das Land Eretz Israel). Allen gemeinsam war und ist jener fatale Überlegenheitsanspruch, welcher diesen Religionen zu allen Zeiten anhaftet. Aber auch der Glaube an Ideologien, and die Überlegenheit von Gesellschaftssystemen war und ist bis heute Nährsubstrat für Gewalt und Kriege – der Imperialismus der kommunistischen Doktrin, jener des westlichen Kapitalismus, die Kriegsrechtfertigung im Namen dessen, was wir «Freiheit» und «Demokratie» nennen.
Nun aber zurück zur Entstehung der Nationalstaaten. Auf unserem Planeten hat ein- und dieselbe biologische Spezies (der selbstbenannte homo sapiens sapiens) – eine einzige von insgesamt geschätzten 8,7 Millionen verschiedenen Arten von Lebewesen auf unserem Planeten – die gesamte Erde in Besitz genommen und sie dann in 195 Einzel- bzw. Nationalstaaten aufgesplittert. Einzelstaaten haben grundsätzlich das Ziel
- (a) das Selbstwertgefühl (Stolz) der eigenen, wie auch immer definierten Nation zu stärken und
- (b) noch wichtiger, zumindest nach aussen hin, prioritär die eigene Bevölkerung (meist eher eine privilegierte Klasse) zu Wohlstand zu führen bzw. diesen zu erhalten und weiter zu erhöhen.
Dabei ist es für diese Länder meist von zweitrangigem Interesse, ob diese Politik innerhalb und vor allem jenseits der eigenen Staatsgrenze soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit, menschliche und ökologische Ausbeutung oder insbesondere auch gewaltsame Konflikte und Krieg mitverursacht bzw. billigend in Kauf nimmt.
Geschichte und Gegenwart sind gezeichnet von Nationalismen und von nationalem Egoismus, sprich der Höherstellung der Interessen der eigenen Nation und die Überordnung der nationalen Gemeinschaft über Rechte des Einzelnen und jener anderer Länder. Aber was unterscheidet uns heute noch von den anderen Menschen in anderen Staaten – und gibt es überhaupt noch Gründe, Nationalismen und die Existenz von Nationalstaaten zu rechtfertigen?
Wenn man über die Menschen in anderen Ländern spricht, wird oft gesagt, man sei ja so verschieden voneinander. In der Tat, vor vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten waren die Menschen in den verschiedenen Ländern noch sehr von ihren gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen und Riten geprägt. Man sprach nur seine eigene Sprache, seinen eigenen Dialekt, man kannte nur seine eigenen Speisen, Kleidung, Lieder, Tänze, Feste, Traditionen, war isoliert von der Realität anderer Völker, war anders.
Doch heute? In quasi jedem Haushalt dieser Welt gibt es Radio, Fernsehen, Smartphones, die Welt ist grösstenteils übers Internet vernetzt, die Werte und Lebensformen haben sich immer mehr angeglichen. Mit einem Klick kann man sich auswählen, was man möchte, und wir Menschen fragen heute weltweit überall ähnliche Dinge nach. Das Musik- und Filmangebot, unsere Kleidung, unser Essen (Pommes, Burger, Pizza und alle Küchen dieser Welt, gibt es ja meist auch um die Ecke), unsere Kommunikation, praktisch alles hat sich mittlerweile globalisiert.
Man ist allerorts ähnlich geworden. Überall haben die Menschen ähnliche Wünsche und Werte. Alle wollen wir Geld und Ansehen, ein schönes Haus, gutes Essen, ein tolles Auto, ein modernes Smartphone, Urlaubsreisen, erschwinglichen Luxus, gute Ausbildung für die Kinder, eine gute Gesundheitsversorgung, ein hohes Mass an persönlicher Sicherheit etc. – praktisch überall auf der Welt. Also, sind wir heute wirklich noch so verschieden?
Natürlich gibt es noch andere, auch fundamentale Dinge, die uns voneinander unterscheiden, etwa das Verhältnis zwischen Frau und Mann, das der Umwelt und Natur gegenüber, die Anwendung von Gewalt in der Gesellschaft, der Stellenwert von Religion. Doch auch diese sehr wichtigen Unterschiedlichkeiten sind keine «nationalen», sondern soziale und kulturelle Merkmale und damit abhängig von sozialer Klasse, Erziehungsniveau, lokalem kulturellem Umfeld etc. Sie beziehen sich, wie im Fall der Religion (aber auch dort immer weniger), eher auf geografische Regionen, nicht auf Einzelstaaten. Auch Mentalitäten gleichen sich immer mehr an, etwa die Einstellung zur Arbeit / Freizeit oder zum Wert und Definition von Familie. Es gibt nicht mehr den Prototyp einer Nation.
Auch wenn die wirtschaftliche Notwendigkeit einer Gemeinschaft grundsätzliche Auslöser benennt, so war und ist die Aufteilung, oder besser gesagt, die meist mit Gewalt, Unterdrückung und Krieg erwirkte Aufteilung unseres Planeten in fast 200 Einzelstaaten, der eigentliche Katalysator für Kriege in unserer Welt. Denn dies führte zum Automatismus der Konkurrenz zwischen Staaten. Ressourcensicherheit, Überbietungswettbewerb, Neid, sogar Rache zwischen Gemeinschaften, zwischen Nationalstaaten, wurden zum Normalfall, ja für viele zur Notwendigkeit für die angestrebte Entwicklung des eigenen Landes. Ein friedlicher Austausch und Handel mit anderen Staaten reichten meist nicht aus. Gewalt und Kriege waren und sind immer noch Optionen.
Verwoben in einem materialistischen und global-kapitalistischem Wettbewerbssystem, stellt die Existenz von National- bzw. Einzelstaaten und damit das Verfolgen von nationalen Interessen und Egoismen, sei es wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Art, eine der fundamentalen Ursachen für das Vorhandensein nicht nur von Unterdrückung, Ausbeutung, Ungerechtigkeit, erzwungener Migration und Umweltzerstörung dar, sondern insbesondere auch von militärischer Gewalt und Kriege auf dieser Welt.
Welche Schlussfolgerung ergibt sich daraus?
Sagen wir mal, wir würden uns das Ziel vorgeben, was wir auf allen Ebenen ja auch immer wieder gerne tun, nämlich eine reife, global-solidarisch orientierte Gesellschaft zu sein oder besser, sein zu wollen. Dann können wir uns die Aufsplitterung eines natürlichen und nur beschränkt zur Verfügung stehenden Lebensraumes und die defensive Errichtung von nationalen Gesellschaftsordnungen (Einzelstaaten) nicht leisten. Jedweder, wie auch immer begründete Nationalismus entbehrt in der heutigen globalisierten Welt jeglicher rationalen Grundlage und Rechtfertigung.
Die graduelle Auflösung aller Staatsgrenzen und damit der Nationalstaaten bei gleichzeitiger Wahrung der kulturellen Identität ethnisch-nationaler Gruppen und deren Charakteristika würde sicher viele Jahrzehnte in Anspruch nehmen, ist jedoch eine notwendige Grundvoraussetzung für die Schaffung eines nachhaltigen, globalgesellschaftlichen Gefüges auf dem Planeten Erde.
Es ist unabdingbar, sich mit dem Gedanken anzufreunden, eine weltweite Gesellschafts- und Produktionsstruktur zu schaffen, welche die Bedürfnisse aller Mitglieder einer hypothetischen Weltgesellschaft mit gleicher Priorität wahrnimmt und im Sinne der Erhaltung der natürlichen Ressourcen und einer sozialen und humanen, und somit friedlichen Umwelt verwaltet. Fundamental dabei ist die Überwindung des heute allgemeingültigen, prinzipiell auf Konsum basierten, materialistischen Wettbewerbsprinzips als Leitmotiv des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Nur so ist Frieden und Wohlstand dauerhaft für alle zu sichern und kann unser Planet vor dem ökologischen Kollaps gerettet werden. Dies erscheint den Meisten eine Utopie, ist es aber nicht. Es ist eine simple Überlebensnotwendigkeit. Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, warum wir immer noch Kriege führen, so lautet die Antwort: Ja, es liegt zweifelsohne am System.
Ach, da war ja noch was. Abgesehen vom Menschen und einigen wenigen anderen Primaten (Schimpansen) sind Ameisen, Termiten und Bienen anscheinend die einzigen Tiere, die so etwas wie Krieg gegen ihre eigenen Artgenossen führen. Wie gesehen, gehen wir allerdings die Kriegsführung mit ganz anderen Zielen an. Wenn Ameisen- oder Termitengruppen sich gegenseitig angreifen, dann nicht, weil sie ihren vermeintlichen Wohlstand, ihre eigene Identität oder Werte, oder eine konsumistische Gesellschaftsordnung in Gefahr sehen, sondern schlichtweg, weil sie ihr für das nackte Überleben benötigte Territorium gegen Eindringlinge verteidigen. Irgendwo fehlt beim Krieg der Tiere also das gewisse düstere Etwas. Oder mit den Worten von Jane Goodall, jener famosen Primatenforscherin: «Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das Böse etwas ist, wozu nur Menschen fähig sind.»
von:
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Krieg
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