«Ich hatte gar nicht gewusst, was ein Nachtleben ist»
Winter 1975/76: Rückkehr nach Albanien 50 Jahre danach - Eine Zelle, die ich nicht zu sehen bekam - Bei den News-Junkies der «Tagesschau» - Ein Zweierchen schon am Nachmittag - Das «Bängbäng» - Heimkehr im Taxi. Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 85
50 Jahre nach meiner Pilgerreise ins sozialistische Albanien kehre ich in das Land zurück – und muss diesmal nicht mehr die Haare schneiden. Auch die Hosen sind nicht mehr zu eng. Touristen werden heute mit offenen Armen empfangen, denn das Land der Skipetaren ist heute so kapitalistisch wie die restliche Welt. Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel, stürzte ein Jahr später auch das kommunistische Kartenhaus Albaniens in sich zusammen.
Damit endete ein Albtraum, der das albanische Volk während eines halben Jahrhunderts in seinen eigenen Grenzen gefangengehalten hatte. Schon im Jahr meiner ersten Albanienreise war das Land von aller Welt abgeschottet gewesen. Dann hatten die albanischen Kommunisten auch mit China gebrochen und dem kleinen Mittelmeerstaat die totale Isolation verordnet. So verstrichen viele weitere Jahre. Doch irgendwann, als wäre es ein Lebensgesetz, geraten selbst die erstarrtesten Dinge in Fluss. 1985 starb Enver Hoxha, der Tyrann seines Volkes. Als sich dann die Menschen in Osteuropa vom Joch des Kommunismus befreiten, sprang der Funke auch auf Albanien über.
Heute, einige Jahrzehnte später, ist das kleine Land marktwirtschaftlich und touristisch erschlossen, und die dunkle Zeit ist nur in den abertausenden, überall anzutreffenden Bunkern noch immer erkennbar. Sie erinnern an die Angst, die den Menschen Albaniens vor einem Atomkrieg eingejagt wurde. Vielleicht deshalb sind so viele Bunker heute bunt übermalt – um die Dämonen der Vergangenheit zu verscheuchen.
Auch die überall sich erstreckenden Hügelzüge, die mit Olivenbäumen bepflanzt sind, sind ein Relikt aus den Jahrzehnten der Diktatur. Sie zeugen noch immer von der kommunistischen «Anbauschlacht», die dem Land, umgeben von lauter vermeintlichen Feinden, die Selbstversorgung ermöglichen sollte. Eine lobenswerte Errungenschaft, fanden wir damals. Jetzt erfahre ich, dass das Volk zum Frondienst in den Olivenhainen gezwungen wurde. Nach der harten Arbeit unter der Woche hiess es am Wochenende Oliven ernten. Das weiss der Zimmervermieter von seinen Eltern, deren ganzes Leben von der Partei diktiert worden war.
Über die verlorenen Jahre des Landes sprechen die jungen Albaner von sich aus nicht gern. Als ich ihnen verrate, dass ich schon einmal in Albanien war und als junger Mensch Kommunist werden wollte, schauen sie mich sehr erstaunt an. Dass man sich freiwillig so etwas antut, können sie nicht begreifen.
Aber dann erzählen sie mir, dass das alte Regime sein Unwesen auch in der Gegenwart immer noch treibt. Zur Elite des Landes gehören auch heute noch Parteifunktionäre von damals. Es komme auch vor, dass vielleicht im Haus nebenan ein ehemaliger Spitzel wohne. Ein Kellner in der Stadt Flore berichtet mir von einem älteren Mann in der Nachbarschaft, der als hauptberuflicher Denunziant viele Opfer auf dem Gewissen hatte. Doch er könne das Denunzieren nicht lassen. Alles, was ihm als strafbar erscheine, melde er nach wie vor den Behörden.
Der alte Stasi aus Flore ist nicht der einzige, der noch immer in der Vergangenheit lebt. Die vom Sozialismus erzogene Generation bekundet Mühe mit der neuen, bedrohlichen Freiheit. Manche sehnen sich die alte, kommunistische Ordnung zurück, als jeder arm, aber gleichgestellt war und wusste, was er zu tun hatte. In der Altstadt von Gjirokastra entdecke ich reihenweise Produkte, die nostalgisch an die alten, diktatorischen Zeiten erinnern. Es gibt Porträts, Fähnchen, Bücher und sogar Tassen mit dem Bildnis von Enver Hoxha, und auch Bilder von Väterchen Stalin sind erhältlich. Hans-Werner und Marianne, unser Predigerpaar, hätten ihre Freude.
Vermutlich haben wir damals, auf unserer Studienreise, auch die Stadt Gjirokastra besucht. Vielleicht hat man uns dort das Partisanenmuseum gezeigt, das Textilkombinat oder den sozialistischen Kindergarten. Vielleicht hat man uns auch auf die Burg geführt, die wie eine Festung über der alten Stadt thront, und wir durften die Aussicht bewundern.
Aber den Haupttrakt der Burg konnten wir bestimmt nicht besichtigen. Denn damals war in der Burg das Gefängnis untergebracht. Das Gefängnis für die Feinde des Volkes. Die Feinde des Sozialismus.
Heute ist der Zellentrakt öffentlich zugänglich. Ich gehe dem langen, düsteren Gang entlang und werfe einen fast scheuen, betroffenen Blick in die einstigen Zellen, deren Türen geöffnet sind.
Die Zellen sind kahl und leer, von den Mauern bröckelt der Putz, und durch ein Fensterchen unterhalb der gewölbten Decke fällt etwas Licht herein. Verblassende Zeichen und Striche im Stein zeugen vom Elend der Menschen, die hier vegetierten, unendliche Jahre lang, verurteilt allein, weil sie die Unfreiheit und den Zwang nicht gutheissen konnten. Hunderte waren hier inhaftiert. Sie bekamen die Rache der Kommunisten grausam zu spüren.
Ich stehe in einer von diesen Zellen, die wohl schon damals so trostlos und leer war, und ich frage mich: Wie hätte ich wohl reagiert, wenn wir die Burg von Gjirokastra besichtigt hätten – und ich Hilferufe vernommen hätte, Lebenszeichen aus dem Gefängnistrakt. Wäre ich noch in der Lage gewesen, der Besichtigung weiter zu folgen, ohne zu fragen, wer da um Hilfe rufe?
So wie ich mich kenne, hätte mich nichts zurückhalten können. Die dünne ideologische Schicht wäre eingestürzt, und ich hätte zu zweifeln begonnen.
Doch niemand sandte einen Hilferuf aus, während der ganzen Reise nicht, niemand erschütterte meine Ahnungslosigkeit. Ich kehrte zurück in die Schweiz und war vom konsequenten sozialistischen Weg noch mehr überzeugt als zuvor. Nur die stalinistischen Hymnen, abends am Lagerfeuer, waren zuviel des Guten gewesen. Doch da befand ich mich in bester linker Gesellschaft. Kritik an Stalins Terrorregime äusserte eine Mehrheit der Linken - obwohl die Haltung verbreitet war, die Massendeportationen und Schauprozesse der Stalinzeit nur als «Fehler» sehen zu wollen. Fehler, Irrtümer und Exzesse konnten passieren. Entscheidend war, ob sie selbstkritisch korrigiert wurden. Dann war die sozialistische Welt wieder in Ordnung.
*
Zurück in der Schweiz entschloss ich mich, den «Blickpunkt Region» zu verlassen und mich bei der «Tagesschau» zu bewerben. Die Regionalnachrichten langweilten mich, ich brauchte eine neue Herausforderung, die Tagesschau war «politischer» – und damit interessanter. Meine Bewerbung beschränkte sich auf ein Gespräch mit Anton Schaller, dem Chefredaktor, der mich nach kurzer Bedenkzeit einstellte. Mein Image als gesellschaftskritischer junger Reporter war bis in den 3. Stock gedrungen, wo die Tagesschau-Redaktion ihre Büros hatte. «Gesellschaftskritisch» galt schon als Leistungsausweis.
In der Tagesschau empfing mich eine andere Welt – eine Welt, die im täglichen News-Fieber lebte. Ich habe noch heute das Rattern im Ohr, das pausenlose Hereinkommen neuer Meldungen der Schweizerischen Depeschenagentur SDA; ich sehe noch immer die Hektik vor mir, die aufgescheucht hin- und her eilenden Journalisten und Produzenten, das Stimmengewirr, das Flimmern der Monitoren, der übermittelten Filme aus aller Welt, und ich spüre noch immer die stündlich wachsende Spannung im Blick auf das Timing der Hauptausgabe um 19:30 Uhr.
Alles konzentrierte sich auf den täglichen Countdown. Der Ablauf der Sendung musste geplant, die Filme mussten geschnitten, die Meldungen mussten bis dann geschrieben, die Moderationen verfasst sein. Die Arbeit in der Tagesschau, das erlebte ich schon in den ersten Tagen, war mit dem Dienst in der Notfallstation eines Krankenhauses durchaus vergleichbar. Mit dem Unterschied, dass sich der Druck nicht über den ganzen Tag verteilte, sondern, je näher die Sendung rückte, immer mehr anstieg.
Aushalten konnte diesen Job auf die Dauer nur, wer auch in Stressmomenten gelassen blieb – oder wer ein News-Junkie war, der ohne das tägliche Adrenalin in Schwermut versunken wäre. Dementsprechend war die Tagesschau-Redaktion zusammengesetzt. Neben einigen ruhenden Polen, die allein schon durch ihre Anwesenheit etwas Struktur in die Hektik brachten, bestand das Tagesschau-Team aus Individualisten, von denen die meisten auf dem Kerbholz des Lebens schon etliche Einschnitte vorweisen konnten. Unter ihnen befanden sich rasende Reporter, akribische Rechercheure, Junggesellen und Weltenbummler, glücklose Singlefrauen und Herzensbrecher, und ebenso wie die Heteros einige Homosexuelle und Lesben, deren spezifische Orientierung für niemanden ein Geheimnis war.
Weil die Tagesschau gesamtschweizerisch in Zürich produziert wurde, arbeiteten auf der gleichen Etage auch die Kollegen aus der Romandie und dem Tessin. Fast die ganze Schweiz war auf diese Weise präsent, und die Mehrsprachigkeit schuf eine Stimmung in den Räumen der Tagesschau, die geradezu international war. Diese kosmopolitische Luft einzuatmen, berauschte mich, und ich wurde mir nicht bewusst, wie schnell sich mein Leben unter dem Einfluss der Tagesschau änderte.
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Meine loyale sozialistische Morgenlektüre konnte ich ebensowenig aufrechterhalten wie den Besuch von Versammlungen – nur schon deshalb nicht, weil der Dienst in der Tagesschau zwar erst nach Mittag begann, aber bis in den späten Abend dauerte. Mit der Hauptausgabe war die Schicht nicht beendet. Die Nachrichten für die Spätausgabe - das heutige «10 vor 10» – mussten geschrieben werden, sodass unser Feierabend erst nach 22 Uhr seinen Anfang nahm.
Ausgespuckt aus dem Fernsehgebäude am Leutschenbach, mitten im Niemandsland am Rande der Stadt und noch immer auf Speed, wollten wir alles, nur nicht schon schlafen gehen. Und weil auch die meisten von uns noch keine Familie hatten – oder nie eine haben wollten –, begaben wir uns gemeinsam hinab in die City, um das Leben zu feiern.
Manchmal waren wir Deutschschweizer unter uns, manchmal gesellten sich die Tessiner oder auch die Romands dazu. Nach 22 Uhr in einem einigermassen guten Lokal eine einigermassen gute Mahlzeit bestellen zu können, war vor 50 Jahren in Zürich ein Kunststück. Glücklicherweise kannten die Kollegen aus dem Tessin einen Wirt, der seinen Pizzaofen speziell für uns noch einmal anfeuerte. Dann wurde gemeinsam gegessen, getrunken, palavert – und ich war dabei. Obwohl ein weiteres Mal der Jüngste, fühlte ich mich in den Kreis der Tagesschau-Leute von Anfang an aufgenommen.
Politisch links, so wie ich, waren sie alle, aber auf eine mehr anarchische, undogmatische Weise. Politische Sprüche klopfen nach Feierabend lag ihnen mehr als politisches Engagement – und die Sprüche hatten sehr viel zu tun mit dem Verführer, der Alkohol heisst. Was ich schon im oberen Stock, im «Blickpunkt Region» beobachtet hatte, war in der Tagesschau unübersehbar. Bei manchen Kollegen ging ohne Zigaretten und Alkohol gar nichts. Am frühen Nachmittag schon hingen die ersten am Tropf. Neben randvollen Aschenbechern stand das Zweierchen Wein auf dem Tisch, bei anderen war es die Flasche Bier, und während der Pause in der Kantine wurde ein weiteres Bierchen, ein weiteres Gläschen genehmigt.
König Alkohols fröhliches Regiment hatte zur Folge, dass einige meiner neuen Kollegen, unter ihnen auch echte Tagesschau-Veteranen, ihre Arbeit in recht angeregter Stimmung verrichteten. Ohne das hilfsbereite Glas neben der Schreibmaschine hätten sie gar nichts zustande gebracht. Coco zum Beispiel, ein etwas einsamer Grafiker, der auch für die Tagesschau arbeitete, wurde durch die Prozente, die er sich täglich gönnte, so übermütig, dass er gelegentlich laut in die Runde rief: «Es tönt ein Ruf von Genf bis Pratteln…» – um nach einer Kunstpause fortzufahren: «Satteln!»
Heute müsste er sich einer Therapie unterziehen oder würde entlassen. Damals gehörte er einfach dazu. Er nervte uns alle. Aber lachen mussten wir trotzdem. Und jeder, der Coco damals erlebt hat, wird, wenn er «Pratteln» hört, immer nur an das Eine denken.
Auch die im ganzen Land bekannten Sprecher der Tagesschau hatten gegen ein Gläschen in Ehren nichts einzuwenden. Einer von ihnen bestritt vor allem die Spätausgabe. Kurz vor Sendebeginn sah man ihn gelegentlich in der Kantine, wo er allein an einem der Tische sass und sich selber zuprostete. Während der Sendung dann verfolgten wir mit Besorgnis, ob er es schaffen würde, einigermassen korrekt zu lesen, was wir geschrieben hatten. Aber auch er gehörte zur erweiterten Redaktion. Niemals hätten wir ihn verpetzt. Und die Zuschauer merkten nichts.
*
Lag die Spätschicht dann hinter uns, durfte der Merlot in Strömen fliessen. Um herunterzukommen vom Stress der Aktualität, erwies sich Rotwein als guter Gefährte. Und der Abend war noch lange nicht müde. Während sich die einen nach Hause begaben, zogen die Nachtvögel ein Haus weiter. Und wieder war ich dabei. Zunächst nur gelegentlich und dann immer regelmässiger schloss ich mich meinen neuen Arbeitskollegen an, auf die niemand zuhause wartete. Auch bei der Tagesschau waren viele mit ihrem Job verheiratet. Der tägliche Kick, sich am Puls des Weltgeschehens zu fühlen, wurde zum bequemen Ersatz für die Herausforderung einer festen Beziehung. Bei der Tagesschau des Schweizer Fernsehens zu arbeiten, war spannender als die Aussicht auf Kinder, Küche und Turnverein.
Blieben wir Deutschschweizer unter uns, liessen wir die Pizzeria links liegen und steuerten auf direktem Weg Richtung Niederdorf. Nach der ersten Station, dem «Malatesta» am Hirschenplatz, wechselten wir um Mitternacht in die «Fantasio Bar», die am Limmatquai lag und zu den ganz wenigen Lokalen mit längeren Öffnungszeiten gehörte.
Danach, um 2 Uhr morgens ging Zürich endgültig schlafen. Aber die Unermüdlichen unter uns wussten auch jetzt noch eine Adresse. Ein paar Häuser weiter am Limmatquai, in einer Seitengasse im ersten Stock befand sich das «Bängbäng», ein privater Club, der nichts bot ausser stampfendem Sound aus den Boxen, pulsierendem Stroboskoplicht, ein paar Sofas den Wänden entlang und einer Tanzfläche, auf der die nächtlich Gestrandeten ihre müde werdenden Kreise drehten. Die Getränke – bei denen es sich nicht um Mineralwasser handelte – mussten selber mitgebracht werden.
Dieses Eintauchen in die nächtlichen Gefilde der Stadt war für mich wie ein Trip in die Unterwelt. Ich hatte gar nicht gewusst, was ein Nachtleben ist. Jetzt wurde ich süchtig danach. Kaum ein Abend verging, an dem ich nicht mit Jacqueline und Fausta, Eli und Geni ins Niederdorf stach, wo wir auf weitere Nachtschwärmer trafen, wo Gelächter und Wein uns vergessen liess, wie allein wir eigentlich waren.
Das galt auch für mich, obwohl ich kaum 21 zählte und noch keine Beziehungsdramen und Lebenskrisen hinter mir hatte wie meine neuen älteren Freunde. Kaum eine Nacht verging, die mich nicht frühmorgens um 5 im Taxi heimkehren sah, glücklos verliebt in Jacqueline und Fausta, die mit den Männern gebrochen hatten, und begleitet von einem Pegelstand, der mich erst gegen Mittag, mit brummendem Kopf wieder erwachen liess.
Mich nach Hause chauffieren zu lassen, war erstaunlich für mich. Meine Sparsamkeit hätte ein Taxi unter normalen Umständen nicht erlaubt. Doch in meinem jungen Leben herrschte der Ausnahmezustand. Ich erkannte mich fast nicht wieder. Albanien war in weite, unbedeutende Fernen gerückt, der Sozialismus, für den ich doch hatte leben wollen, wurde zum blossen Lippenbekenntnis, und in der Wohngemeinschaft war ich nur noch ein geduldeter Gast. Meine schulmeisternden linksgerichteten Mitbewohner verstanden mich nicht mehr. Eben noch hatte ich Lenin gelesen am frühen Morgen. Jetzt ging ich schlafen um diese Zeit.
Aber ich brauchte das. Ich wollte mich einfach nur treiben zu lassen. Keine Strategie, keine Taktik. Keine Parteidisziplin. Leben.
Nächste Folge am 9. Februar
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