Chansons als Widerstandshandlung

Es ist nicht egal, welche Informationen wir aufnehmen und welcher Art von Kultur wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Ein berührendes Chanson ist eine Widerstandshandlung gegen die emotionale Erstarrung, die uns die Mächtigen verordnet haben, weil man über Erstarrte leichter verfügen kann.

Diese Tatsache wurde mir wieder bewusst, als ich die schöne Biografie von Pippo Pollina las, einem italienischen Liedermacher, der u.a. durch die Zusammenarbeit mit Konstantin Wecker bekannt wurde.



Biograf Franco Vassia stellt, sicher übereinstimmend mit Pippo, dem modernen Italien ein verheerendes Zeugnis aus: «Im Grunde war Italien zu dem geworden, was er [Pippo] am meisten gefürchtet hatte. In nur zwei Jahrzehnten hatte die Macht das intellektuelle Niveau der Bevölkerung in strategischer Manier gesenkt. Damit war das Land manipulierbarer geworden. Der Protest wurde lahm gelegt, Falschinformationen verbreitet und das Hirn der Italiener mit Blödsinn gefüllt, damit sie leichter zu beeinflussen waren.» Im Land des weitgehend zentral gelenkten Privatfernsehens und der triumphierenden Verdummungspresse konstatiert Vassia eine «kulturelle Agonie» und die «völlige Auflösung der Kunst.» «Mit den Seifenopern begann das Fernsehen, Müll zu produzieren und mit vollen Händen Schande und Ignoranz auszusäen.» «Was da am Horizont auftauchte, schienen die Vorbereitungen und Absichten eines morbiden Regimes und einer Macht zu sein, die fähig war, einen antidemokratischen und destabilisierenden Plan zu realisieren: ein populistisches und medial raffiniertes Projekt, das darauf zielte, den Verstand zu kontrollieren und das Bewusstsein zu benebeln.»



Berlusconi-Italien, wie es hier von Pippo und seinem Biografen in den schwärzesten Farben gezeichnet wird, ist vom Deutschland unserer Tage nicht wesensverschieden. Im besten Fall kann man sagen, dass uns Italien ein paar Schritte voraus ist. Die kulturelle und politische Gegenwehr darf also nicht auf sich warten lassen. In Deutschland war und ist es möglich, dass - der Sozialrassist Sarrazin zum Volkshelden avancierte


- uns der Betrüger zu Guttenberg als Ehrenmann angepriesen wird


- man es uns als freie Entscheidung verkaufen konnte, zwischen zwölf Liedern von Lena Meyer-Landruth und vier neoliberalen Parteien zu wählen


- uns dümmliche und Ekel erregende Sendungen wie Dschungel-Camp und Casting-Shows über Wochen als das Wichtigste vom Wichtigsten aufgeschwatzt werden


- die Bild-Zeitung populärstes deutsches Blatt bleibt und unvermindert weiter hetzen darf wie zu Dutschkes und Wallraffs Zeiten


- das Volksgewissen Verbrechen wie das Bombardement von Kundus mühelos verdauen konnte.


Jeder Leser, jede Leserin kann hier sicher ergänzend viele weitere Beispiele nennen.



Konstantin Wecker gibt seit Jahren das Webmagazin «Hinter den Schlagzeilen» heraus. Er ist deshalb die Idealbesetzung dafür, weil er seit fast 40 Jahren künstlerischen Anspruch, einen kritischen politischen Geist und Herzenswärme auf die Bühne bringt. Letzteres, die Herzenswärme, kommt in der linken Medienlandschaft ein bisschen zu kurz. Ebenso wie die anarchische Lebenslust, die Konstantin wie kein zweiter in seinen Liedern zum Ausdruck gebracht hat. Genau zu diesem Zweck gibt es auf «Hinter den Schlagzeilen» Musikvideos. Ich bin überzeugt, dass unsere Leserinnen und Leser nicht ausschließlich politische «Köpfe» sind, die in sachlicher Sprache über die jeweils neuesten Fehlleistungen eines Mappus, Westerwelle, Guttenberg oder Berlusconi aufgeklärt werden wollen. Menschen öffnen ihr Herz auch einer Melodie oder einem poetischen Wort. Und getragen von Musik prägt sich auch manche politische Botschaft unvergesslich ein. Ein berührendes Chanson ist eine Widerstandshandlung gegen die emotionale Erstarrung, die uns die Mächtigen verordnet haben, weil man über Erstarrte leichter verfügen kann.



Ich möchte deshalb alle ermutigen, einmal in der Liederliste von «Hinter den Schlagzeilen» zu blättern (www.hinter-den-schlagzeilen.de, Rubrik «Musikvideos») und nach genau dem Lied oder den Liedern zu suchen, die euch berühren.



Kein geistiges und politisches Elend ist so groß, dass sich nicht irgendwo Widerstand rührt. Kein Verdummungs- und Unterdrückungssystem funktioniert so reibungslos, dass nicht irgendwo ein Geistesgrashalm durch die Betondecke bricht. Diese Tatsache, die wir von Italien und Griechenland bis Nordafrika oder China überall beobachten können, macht Mut. In Deutschland sind die Zustände beileibe nicht am schlimmsten. Gegen die verordnete «Normalmeinung» aufzubegehren, ist hier nicht lebensgefährlich. Umso weniger gibt es eine Entschuldigung für uns, die wir verstanden haben, jetzt nicht aktiv zu werden. «Man muss sich wehren, so lang man kann. Denn wer sich fügt, der fängt bereits ganz insgeheim zu lügen an.» (Konstantin Wecker)