Parteilose: Plötzlich sind sie da

Fragen an Christoph Zollinger, der sie kommen sah

Zeitpunkt: In Ihrem Buch «2032 – Rückblick auf die Zukunft der Schweiz» schrieben Sie 2008, Parteilose würden erstmals 2011 zu eidgenössischen Wahlen antreten. Wie sind Sie zu dieser Prognose gekommen, die ja nun eingetroffen ist?

Christoph Zollinger: Seit Jahrzehnten befasse ich mich beruflich und politisch mit möglichen Zukunftsszenarien. Dabei realisiert man rasch, wohin die fundamentalen Trends führen. Auf der Politbühne zeigt sich seit über 15 Jahren die Tendenz, dass sich verantwortungsvolle Menschen politisch betätigen möchten, ohne in ein Parteienkorsett eingeschnürt zu werden. Sie wollen keine Befehlsempfänger von Parteizentralen sein.


Wie wirkt sich dieser Trend in der Schweiz konkret aus?

Die einst staatstragenden politischen Parteien erodieren seit längerem, da sie sich selbst ideologisch auf der Links-Rechtsskala einordnen. Dieses Weltbild ist überholt: Der nachdenkliche und politisch interessierte Mensch bewegt sich nicht innerhalb abgesteckter Parteiparolen, sondern urteilt von Fall zu Fall mit gesundem Menschenverstand. Auf kommunaler Ebene hat das still und leise dazu geführt, dass in der Schweiz mittlerweile 42 Prozent aller Exekutivmitglieder Parteilose sind, also die grosse Mehrheit.  


Sie waren selber als Parteiloser in der Exekutive von Kilchberg/ZH tätig und haben das Phänomen der Parteilosen eingehend studiert. Worin liegen die Vorteile, ohne Parteibindung zu politisieren?

Die Parteilosen in Kilchberg haben eine lange Tradition (seit 1936 ununterbrochen im Gemeinderat vertreten) und deshalb früh realisiert, dass die lokalen Probleme am besten gelöst werden ohne Parteiengezänk. Seit 20 Jahren melden sich immer mehr Menschen aus eigenem Antrieb, um sich politisch in Gremien zu beteiligen. Der Unterschied zu den Parteien: Keine Parolenfassung, keine Eselstour in der Parteihierarchie, keine vorgeschriebenen Meinungen. Da 96 Prozent der Schweizerbevölkerung eh keiner Partei angehören, ist es für uns vergleichsweise einfach, kompetente Menschen, die sich in Beruf und Familie bewährt haben, zu verpflichten.


Es gibt aber auch gewichtige Nachteile. So ist es wohl wesentlich schwieriger, als Parteiloser Mehrheiten zu erreichen.

Natürlich. Neben des fehlenden kantonalen und eidgenössischen Parteipolitmarketings (Werbung, Medienauftritt etc.) war es in der Vergangenheit die viel zu kleine Anzahl Parteiloser, die auf kantonaler und eidgenössischer Ebene politisierten. Zurückkommend auf die Eingangsfrage: Ohne Prophet zu sein, konnte recht zuverlässig voraus erkannt werden, dass mit der Verbreitung des Internet dieser Nachteil überwunden würde.


Doch wie können Sie sicherstellen, dass gewählte Parteilose nicht plötzlich radikal ideologisch politisieren? Man weiss ja nicht recht, wo sie anzusiedeln sind?

In über 50 Jahren hatten wir mit der Verlässlichkeit unserer Kandidierenden nie ein Problem, im Gegenteil: die Wählerschaft verlässt sich mittlerweile auf die gemässigte Mitteposition, die von den Parteilosen in der Regel vertreten wird.


Einer aktuellen Studie des Soziologischen Instituts der Universität Zürich zufolge, verorten sich zwei Drittel der parteilosen Gemeinderäte im Kanton Zürich rechts der Mitte. Was bedeutet ein Zuwachs der Parteilosen für das politische Gleichgewicht?

Diese Studie besagt vorab, dass die Links-rechts-Verortung als politische Orientierungsstütze eigentlich nicht mehr entscheidend sein sollte, im Selbstverständnis von Politikern und Parteien nach wie vor massgebend ist. Ein einfaches Beispiel: Ökologisch orientierte Menschen werden automatisch eher links eingestuft, Bürgerliche dagegen eher rechts. Viele, sich selbst als bürgerlich empfindende Menschen treten aber heute für einen ökologischen Wandel ein. Somit ist diese Einstufung obsolet und das politische Gleichgewicht wird neu austariert. Das erklärt den Erfolg der Grünliberalen.


Politik auf nationaler und kommunaler Ebene hat also grosse Gemeinsamkeiten: Es gilt «am runden Tisch» mehrheitsfähige Lösungen zu entwickeln. Welche Hürden müssen Ihrer Ansicht nach überwunden werden, damit Parteilose ihre Kompetenzen auch auf nationaler Ebene wirksam einsetzen können?

Die Hürden sind vorerst technischer Natur. Der Aufbau einer neuen politischen Kraft, wie parteifrei.ch benötigt viel Idealismus und politisches Know-how, aber auch finanzielle Ressourcen. Es braucht aber auch geduldige Überzeugungsarbeit bei den Medienschaffenden, denn die orientieren sich erfahrungsgemäss lieber am Alten. Wenn die Botschaft bei den Bürgerinnen und Bürgern angekommen ist, wird eine Lawine losgetreten. Diese wird keinen Schaden anrichten, aber alte Zöpfe unter sich begraben.


Prophetie?

Meine Ankündigung, dass im November 2011 Aufregendes im Bundesrat geschehen, die Sitzverteilung im Nationalrat unerhörte Verschiebungen erfahren, die Gründung von Internetplattformen von Parteilosen die Politlandschaft zu einem fulminanten Start in die politische Zukunft katapultieren würde – das sind weniger hellseherische Unkenrufe, als aufrüttelnde Appelle, um zu verhindern, dass die Schweiz – wie letztmals vor 200 Jahren durch Napoleon – von aussen in die Zukunft geführt werden muss.

Das Gespräch führte Christoph Pfluger.

Christoph Zollinger: 2032 – Rückblick auf die Zukunft der Schweiz. Verlag dpunkto, 2008. ISBN:978-3-9523190-6-2

Das neuste Buch von Christoph Zollinger: Epochaler Neubeginn – Update nach 2500 Jahren. Europ. Hochschulverlag, 2011.

Christoph Zollingers Website: www.glaskugel-gesellschaft.ch mit der Internet-Kolumne «durchschaut!»
26. August 2011
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