Land für die Landlosen

Das Wandern gehört gewissermassen zu meinem Beruf. Als ich 1971 meine Arbeit in der kleinen Gandhi-Communty im Chambal-Tal abgeschlossen hatte, zog ich fast 20 Jahre lang zu Fuss von Dorf zu Dorf, hielt Vorträge, machte Schulungen, mobilisierte Ureinwohner und Kastenlose und bildete Aktivisten in Camps aus.
Aber diese Form der Mobilisierung von unten hat ihre Grenzen, ganz besonders in einem Land von der Grösse Indiens. Ende der 90er Jahre erweiterte ich deshalb meine Strategie, bündelte die regionalen Kräfte und zielte direkt auf die Politik.
Politische Wanderungen haben in Indien eine grosse Tradition. Gandhi hat mit seinen berühmten Salzmärschen eine Volksbewegung zur Befreiung vom Salzmonopol der Briten ausgelöst. Vinoba, einer seiner Nachfolger, zog 14 Jahre zu Fuss durch Indien und versuchte, Land zur Umverteilung an die Landlosen zu bekommen. 1,7 Mio. Hektar erhielt er auf diese Weise.
Im Jahr 2000 marschierte ich also mit hundert Leuten durch den Bundesstaat Madhya Pradesh. In sechs Monaten legten wir 3500 Kilometer zurück mit einer Botschaft: Gebt den Landlosen ein Stück Land, damit sie sich selber versorgen können. Das Resultat war ermutigend: Eine Task Force wurde eingerichtet und 300 000 Kastenlose erhielten ein Stück Land. Ein Jahr darauf folgte der Bundesstaat Chhattisgarh, dann Orissa und Bihar. Und jedes Mal erhielten ein paar tausend Familien ein Stück Land. Wir machten auch friedliche Besetzungen von Wäldern, aus denen die Adivasi vertrieben wurden, um Schutzgebiete zu errichten und den so genannten Öko-Tourismus anzukurbeln.
Aber Indien hat 32 Bundesstaaten und ich realisierte, dass ich ein weiteres Leben bräuchte, um in allen etwas zu erreichen. Zudem profitierten nur ein paar Zehntausend Familien von der Landverteilung. In Indien leben aber 400 Millionen Dalits und Adivasi, die gemäss Verfassung Recht auf ein Stück Land haben.
2005 marschierten wir deshalb mit 500 Leuten nach Delhi, um der Regierung unsere Forderung zu präsentieren. Wir erhielten mündliche Versprechen, machten aber auch klar: Wenn ihr nicht handelt, kommen wir in zwei Jahren mit 25 000 Menschen zurück.


Und so kam es, dass 2007 25 000 Menschen von Gwalior ins 350 Kilometer entfernte Delhi wanderten. Wir setzten bewusst auf die Macht der Armen. Was als ihre Schwäche erscheint, verwandelten wir in eine Stärke. Arme Menschen brauchen wenig zu essen und zu trinken, und sie können am Boden schlafen. So zog sich ein riesiger Zug friedlicher Menschen auf der Autobahn durch die Hitze nach Delhi, verpflegte sich mit einer einzigen Mahlzeit, legte sich Abends am Strassenrand hin und zog am nächsten Tag weiter. Es ist wie beim Gebären: Es gibt keinen Wandel ohne Leiden. Und wenn schon leiden, dann gemeinsam. Jeder Schritt ist eine spirituelle Tat.


Der Marsch erzeugte eine riesige Aufmerksamkeit. Die Regierung setzte einen Rat für Landreform unter der Leitung des Premierministers Manmohan Singh ein. Wir gaben ihr fünf Jahre Zeit. Aber ausser der Verabschiedung eines Berichts mit 300 Empfehlungen geschah nichts.
Zur Bekräftigung unserer Forderung organisierten wir 2010 eine Kundgebung in Delhi mit 12 000 Menschen. Unsere Botschaft: Wenn ihr nicht handelt, kommen wir mit 100 000. Kurze Zeit später entschieden wir in Ekta Parishad, der Vereinigung unserer lokalen Gruppen, den Marsch durchzuführen.
Zur Vorbereitung dieses grossen Marsches für Gerechtigkeit, des Jan Satyagraha, reisten wir 2011 und 2012 neun Monate lang in Jeeps durch Indien. Jeden Tag gab es fünf Meetings, immer gut vorbereitet von den lokalen Gruppen.


Je näher der Marsch kam – er sollte am 2. Oktober 2012, Gandhis Geburtstag beginnen –, desto nervöser wurde die Regierung. Sie versuchte uns, zum Verzicht zu bewegen, was wir ablehnten. Sie versprachen, unser Anliegen wohlwollend zu behandeln, wenn wir wenigstens die Zahl reduzierten. So begannen wir mit 50 000. Schon bald setzten Verhandlungen ein, und am 11. Oktober geschah das Wunder: Der Minister für ländliche Entwicklung legte eine Vereinbarung zur Erfüllung unserer Forderung vor und der Marsch wurde beendet.
Die Arbeit kommt gut voran, wir sind paritätisch in der leitenden Regierungskommission vertreten. Aber wir sind auch sehr wachsam. Natürlich erlebte ich in all den Jahren auch frustrierende Momente. Aber an der Methode habe ich nie gezweifelt: dem Weg des gewaltlosen Widerstands.
           Aufgezeichnet von Christoph Pfluger



Der 64-jährige Rajagopal P.V. ist Gründer und Leiter der indischen Basis-Bewegung der Kastenlosen und Ureinwohner «Ekta Parishad» mit hunderttausenden von Beteiligten und Vizepräsident der Gandhi-Foundation. Um Rückschlüsse auf seine Kaste zu vermeiden, verwendet er nur seinen Vornamen. www.ektaparishad.com

In der Schweiz ist das Centre for Socio-Cultural lnteraction (CESCI) in Zürich eng mit seiner Arbeit verbunden. www.cesci.ch


Buchtipp: Carmen Zanella: Das Erbe von Gandhi – P.V. Rajagoipal, ein Leben für den gewaltlosen Widerstand. Stämpfli, 2012. Fr. 24.–.
29. Januar 2013
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