Agrobusiness oder Agrikultur?
Die Ausgabe 64 des Widerspruch1 widmet sich Fragen von Ernährung und Landwirtschaft
Fragt man in Kindergarten und Unterstufe in Stadt und Agglomeration nach Herkunft von Milch oder Käse erhält man nicht selten die Antwort: «Vom Lade». Dass da noch eine Kuh mit Bauernhof dazugehört, bringt solche Kinder dann zum Staunen. Aber auch Erwachsenen fehlt oft ein vertieftes Nachdenken über die Herkunft unserer Nahrung. Man lebt in der Illusion, dass man bis zum Sankt Nimmerleinstag immer vor vollen Gestellen stehen wird. Das ist kein Zufall. Dass heute ein Sechstel unserer Mit!menschen weltweit an Hunger oder Unterernährung leidet, blenden unsere monopolisierten Medien gezielt aus.
Gerade deshalb sind Veröffentlichungen wie der Widerspruch 64 zum Thema «Ernährung – Agrobusiness oder Agrikultur» zentral, ist doch die Ernährungsfrage grundlegend für jede menschliche Existenz. In fünfzehn gut lesbaren Beiträgen mit reichhaltigen Literaturhinweisen wird diese Thematik interdisziplinär, verständlich und differenziert aufgefächert und sorgfältig ausgeleuchtet. Dies ermöglicht dem Leser, das Bewusstsein zu erweitern und zu schärfen.
Bereits im Editorial machen Zitate von Jean Ziegler deutlich, dass die Weltlandwirtschaft heute «problemlos 12 Milliarden Menschen2 ernähren» könnte. Damit ist Hunger «ein organisiertes Verbrechen»3, mitverursacht durch eine Handvoll multinationaler Konzerne, die sich an der Rendite und nicht am Gemeinwohl orientieren. Diese haben in den letzten Jahrzehnten mittels Freihandel, WTO-Verträgen, Patentrechten usw. den Agrarbereich weltweit immer mehr unter ihre Kontrolle gebracht. Verlierer weltweit sind die Kleinbauern. Verschiedene Beiträge zeichnen diesen Vorgang schlüssig und faktenreich nach; bei allen fällt positiv auf, dass neben der Analyse der Missstände immer das ‚Was tun?’ und das ‚Wo wird mit welchen Mitteln erfolgreich Widerstand geleistet’ gebührend Platz findet. Das wirkt ermutigend, regt kreatives Mitdenken und -handeln an.
Kleinbauern produktiver als industrielle Landwirtschaft
Der Beitrag «Lebewesen sind ineffizient» zeigt, dass das Agrobusiness sein Versprechen an die Dritte Welt, die Ernährung mit Ertragssteigerungen (Grüne Revolution), Kunstdünger, Pestiziden und Gentechnologie zu sichern, nicht eingehalten hat und statt dessen die lokale Landwirtschaft sowie Menschenleben vernichtet und fruchtbare Böden ruiniert hat.
Diese leidvollen Erkenntnisse haben in der «globalen Landwirtschaft» zu einem «Paradigmenwechsel» geführt, so der Beitrag «Mehr Agrikultur – weniger Landwirtschaft». Der auf wissenschaftlicher Grundlagenforschung basierte Weltagrarbericht (2008) «räumt mit dem Mythos der Überlegenheit industrieller Landwirtschaft aus volkswirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Sicht gründlich und ehrlich auf. Als neues Paradigma der Landwirtschaft des 21.Jahrhunderts formuliert er statt dessen: Kleinbäuerliche Strukturen vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika sind die wichtigsten Garanten und die grösste Hoffnung einer sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltigen Lebensmittelversorgung von künftig neun Milliarden Menschen und die beste Grundlage hinlänglich widerstandsfähiger Anbau- und Verteilungssysteme.» Landwirtschaft war und muss mehr sein als blosse Produktion, den sie prägt immer auch Kultur: Agrikultur, welche es wiederzuentdecken und zu pflegen gilt.
Ernährungssouveränität - Widerstandskonzept gegen die Globalisierung der Agrarmärkte
Gravierende Auswirkungen der Globalisierung auf die Landwirtschaft werden auch in den entwickelten Ländern deutlich, so auch in der Schweiz. Uniterre spricht sich für eine «grundsätzliche Neuorientierung der Agrarpolitik» aus: für das Selbstbestimmungsrecht in der Ernährungsfrage – gemäss der Vorstellung von Ernährungssouveränität, wie sie von der internationalen Bauernbewegung «La Via Campesina» entwickelt worden ist. Die Nahrungsmittelproduktion dürfe weder «der unsichtbaren Hand des freien Marktes» noch einer liberal ausgerichteten staatlichen Agrarpolitik überlassen werden. Ernährungssouveränität könne aber nicht nur für das eigene Land Geltung haben. Jeder Staat hat die Ernährungssouveränität in jedem anderen Land weltweit zu respektieren mit einer entsprechenden Handels-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik.
Gut funktionierende Projekte im Zusammenhang mit der Ernährungssouveränität sind von eindrücklicher Vielfalt, wie weitere Artikel zeigen über Vertragslandwirtschaft, urbane Gärten, Gemüsekooperativen, Volksinitiativen.
Mit dem «Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte» der UNO wurde 1966 das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung für ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung festgeschrieben. Für dieses Recht hatten sich in erster Linie die ehemaligen Kolonialländer eingesetzt, unterstützt von den sozialistischen Staaten.
Recht auf Nahrung und Ernährungssouveränität sind Bestandteil dieser Selbstbestimmung, die heute weltweit eingefordert und praktisch umgesetzt wird. Probleme, die sich dabei stellen, zeigt der Beitrag «Indien – Ernährungssicherheit per Gesetz?»
Landraub und Missbrauch der Böden zur Energiegewinnung gefährden unsere Ernährung global. Die Gegenwehr mit einer reichen «Vielfalt sozialer Bewegungen» ist da, kraftvoll und weltweit. «Hunderttausende Kooperativen, Netzwerke, Konsumenten-Produzenten-Genossenschaften, Fairtrade- und Bioläden», die meist «gemeinschaftlich organisiert (...) demokratisch und selbstverwaltet über die Verwendung des Mehrwerts» entscheiden. Der Beitrag «Von der Regulierung zur Demokratisierung» legt dies mit einem Hinweis auf das Beispiel Bolivien ausführlich dar und schliesst mit folgendem Fazit: «Es geht also um die Rückeroberung der demokratischen Mitgestaltung der politischen Rahmenbedingungen des Ernährungssystems und der Demokratisierung der Organisationsstrukturen von heute privaten Firmen und Konzernen, welche Nahrungsmittel produzieren, verarbeiten, verteilen und verkaufen. Nur diese doppelte Demokratisierung bietet einen Ausweg aus der gegenwärtigen Ernährungskrise – jenseits von Privat- oder Staatskapitalismus.»
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1 Widerspruch 64, Ernährung – Agrobusiness oder Agrikultur, Zürich 2014.
2 Aktuell beträgt die Weltbevölkerung heute rund 7,2 Milliarden Menschen.
3 Vgl. dazu auch Jean Ziegler, Wir lassen sie verhungern Die Massenvernichtung in der Dritten Welt, München 2013.
Gerade deshalb sind Veröffentlichungen wie der Widerspruch 64 zum Thema «Ernährung – Agrobusiness oder Agrikultur» zentral, ist doch die Ernährungsfrage grundlegend für jede menschliche Existenz. In fünfzehn gut lesbaren Beiträgen mit reichhaltigen Literaturhinweisen wird diese Thematik interdisziplinär, verständlich und differenziert aufgefächert und sorgfältig ausgeleuchtet. Dies ermöglicht dem Leser, das Bewusstsein zu erweitern und zu schärfen.
Bereits im Editorial machen Zitate von Jean Ziegler deutlich, dass die Weltlandwirtschaft heute «problemlos 12 Milliarden Menschen2 ernähren» könnte. Damit ist Hunger «ein organisiertes Verbrechen»3, mitverursacht durch eine Handvoll multinationaler Konzerne, die sich an der Rendite und nicht am Gemeinwohl orientieren. Diese haben in den letzten Jahrzehnten mittels Freihandel, WTO-Verträgen, Patentrechten usw. den Agrarbereich weltweit immer mehr unter ihre Kontrolle gebracht. Verlierer weltweit sind die Kleinbauern. Verschiedene Beiträge zeichnen diesen Vorgang schlüssig und faktenreich nach; bei allen fällt positiv auf, dass neben der Analyse der Missstände immer das ‚Was tun?’ und das ‚Wo wird mit welchen Mitteln erfolgreich Widerstand geleistet’ gebührend Platz findet. Das wirkt ermutigend, regt kreatives Mitdenken und -handeln an.
Kleinbauern produktiver als industrielle Landwirtschaft
Der Beitrag «Lebewesen sind ineffizient» zeigt, dass das Agrobusiness sein Versprechen an die Dritte Welt, die Ernährung mit Ertragssteigerungen (Grüne Revolution), Kunstdünger, Pestiziden und Gentechnologie zu sichern, nicht eingehalten hat und statt dessen die lokale Landwirtschaft sowie Menschenleben vernichtet und fruchtbare Böden ruiniert hat.
Diese leidvollen Erkenntnisse haben in der «globalen Landwirtschaft» zu einem «Paradigmenwechsel» geführt, so der Beitrag «Mehr Agrikultur – weniger Landwirtschaft». Der auf wissenschaftlicher Grundlagenforschung basierte Weltagrarbericht (2008) «räumt mit dem Mythos der Überlegenheit industrieller Landwirtschaft aus volkswirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Sicht gründlich und ehrlich auf. Als neues Paradigma der Landwirtschaft des 21.Jahrhunderts formuliert er statt dessen: Kleinbäuerliche Strukturen vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika sind die wichtigsten Garanten und die grösste Hoffnung einer sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltigen Lebensmittelversorgung von künftig neun Milliarden Menschen und die beste Grundlage hinlänglich widerstandsfähiger Anbau- und Verteilungssysteme.» Landwirtschaft war und muss mehr sein als blosse Produktion, den sie prägt immer auch Kultur: Agrikultur, welche es wiederzuentdecken und zu pflegen gilt.
Ernährungssouveränität - Widerstandskonzept gegen die Globalisierung der Agrarmärkte
Gravierende Auswirkungen der Globalisierung auf die Landwirtschaft werden auch in den entwickelten Ländern deutlich, so auch in der Schweiz. Uniterre spricht sich für eine «grundsätzliche Neuorientierung der Agrarpolitik» aus: für das Selbstbestimmungsrecht in der Ernährungsfrage – gemäss der Vorstellung von Ernährungssouveränität, wie sie von der internationalen Bauernbewegung «La Via Campesina» entwickelt worden ist. Die Nahrungsmittelproduktion dürfe weder «der unsichtbaren Hand des freien Marktes» noch einer liberal ausgerichteten staatlichen Agrarpolitik überlassen werden. Ernährungssouveränität könne aber nicht nur für das eigene Land Geltung haben. Jeder Staat hat die Ernährungssouveränität in jedem anderen Land weltweit zu respektieren mit einer entsprechenden Handels-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik.
Gut funktionierende Projekte im Zusammenhang mit der Ernährungssouveränität sind von eindrücklicher Vielfalt, wie weitere Artikel zeigen über Vertragslandwirtschaft, urbane Gärten, Gemüsekooperativen, Volksinitiativen.
Mit dem «Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte» der UNO wurde 1966 das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung für ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung festgeschrieben. Für dieses Recht hatten sich in erster Linie die ehemaligen Kolonialländer eingesetzt, unterstützt von den sozialistischen Staaten.
Recht auf Nahrung und Ernährungssouveränität sind Bestandteil dieser Selbstbestimmung, die heute weltweit eingefordert und praktisch umgesetzt wird. Probleme, die sich dabei stellen, zeigt der Beitrag «Indien – Ernährungssicherheit per Gesetz?»
Landraub und Missbrauch der Böden zur Energiegewinnung gefährden unsere Ernährung global. Die Gegenwehr mit einer reichen «Vielfalt sozialer Bewegungen» ist da, kraftvoll und weltweit. «Hunderttausende Kooperativen, Netzwerke, Konsumenten-Produzenten-Genossenschaften, Fairtrade- und Bioläden», die meist «gemeinschaftlich organisiert (...) demokratisch und selbstverwaltet über die Verwendung des Mehrwerts» entscheiden. Der Beitrag «Von der Regulierung zur Demokratisierung» legt dies mit einem Hinweis auf das Beispiel Bolivien ausführlich dar und schliesst mit folgendem Fazit: «Es geht also um die Rückeroberung der demokratischen Mitgestaltung der politischen Rahmenbedingungen des Ernährungssystems und der Demokratisierung der Organisationsstrukturen von heute privaten Firmen und Konzernen, welche Nahrungsmittel produzieren, verarbeiten, verteilen und verkaufen. Nur diese doppelte Demokratisierung bietet einen Ausweg aus der gegenwärtigen Ernährungskrise – jenseits von Privat- oder Staatskapitalismus.»
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1 Widerspruch 64, Ernährung – Agrobusiness oder Agrikultur, Zürich 2014.
2 Aktuell beträgt die Weltbevölkerung heute rund 7,2 Milliarden Menschen.
3 Vgl. dazu auch Jean Ziegler, Wir lassen sie verhungern Die Massenvernichtung in der Dritten Welt, München 2013.
05. Juli 2014
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