Der soziale Materialismus

Was die Industrialisierung nicht vollbracht hat, schafft nun die Bürokratisierung: Der Mensch wird zum Rädchen einer grossmächtigen Maschine. Entweder er passt sich an und verliert das Menschliche oder er verschwindet aus der verwalteten Gesellschaft.

Jonas darf bis zum dritten Ast klettern, Simon bis zum ersten und Nicola darf gar nicht. Anne-Marie, Leiterin einer Kindertagesstätte in einem steuergünstigen Schlafdorf im schweizerischen Mittelland, muss von jedem Kind wissen, bis zu welchem Ast es auf dem kleinen Baum im Garten klettern darf. Währenddessen tippt Ivo, Assistenzarzt in einem Universitätsspital Patienten-Daten in den Computer, anschliessend hat er noch zwei Besprechungen und wenn er abends nach Hause geht, wird er einen Drittel seiner Arbeitszeit bei Patienten und zwei Drittel mit Administration und in Meetings verbracht haben. Für Corinne liegt die Praxis noch in weiter Ferne, sie studiert an einer Fachhochschule. Aber sie weiss schon jetzt, worauf es ankommt: auf  die Darstellung. Ihre letzte Semesterarbeit bestand aus einem Abstract und reichlich Zwischentiteln, die Zwischenräume füllte sie mit Märchentexten. Sie kalkulierte richtig: Der Professor las die Arbeit nicht und vergab die notwendigen Bologna-Punkte trotzdem. Ziel erreicht. Die Namen sind erfunden, die Beispiele real.

Willkommen in der schönen neuen Welt des Scheins, der fiktiven Sicherheit, der organisierten Ineffizienz, der synthetischen Leistung, der Zielvorgaben, Strategien und Optimierungen, der Standards, Projekte und Instrumente, der Evaluationen, Assessments und Verifikationen. Willkommen in der Welt der neuen Bürokratie, in der keine Gesetze befolgt, sondern Zielvereinbarungen erfüllt werden müssen, in der nicht mehr die Leistung zählt, sondern die Dokumentation der Leistung und in der keine äussere Macht mehr befiehlt, sondern in der wir die Macht verinnerlicht haben. Diese Welt hat niemand gewollt, vermutlich auch die nicht, die sie mit dem Schlachtruf «Bürokratie-Abbau» eingerichtet haben. Aber jetzt ist sie da, erdrückt die Sacharbeit, erstickt die Motivation und lässt uns ratlos, wie wir sie wieder loswerden. Denn schon der grosse Theoretiker der Bürokratie, der deutsche Gross-Soziologe Max Weber (1864–1920) schrieb in seinem 1922 veröffentlichten Werk «Wirtschaft und Gesellschaft»: «Eine einmal voll durchgeführte Bürokratie gehört zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden.» Es wird Zeit für einen Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Bürokratie.
Der Begriff, wörtlich «Schreibtischherrschaft», wurde Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich geprägt und rasch auch im deutschen Sprachraum verwendet, vor allem für die pingelige Bevormundung der Bürger durch volksfremde Monarchen und ihre Gendarmen und Kanzlisten – gegen oben servil und gegen unten arrogant. Das eigentliche Büro entstand erst mit der Erfindung des Ordners – exakt so alt wie das Automobil –, der Schreibmaschine und des Durchschlagpapiers. Damit wurde die Produktion von Akten und  der Zugriff darauf enorm erleichtert. Vorher wurde alles von Hand in dicke Bücher mit beschränktem Zugang geschrieben. Wer etwas wissen wollte, musste sich beglaubigte Abschriften beschaffen.

Die höheren Weihen erlangte die Bürokratie mit Max Weber, der in ihr die «formal rationalste Form der Herrschaftsentwicklung» erkannte. Was sind ihre tragenden Elemente? Wer eine kurze Antwort auf diese Frage will, muss einen langen Satz aus Niklas Luhmanns Politischer Soziologie  lesen: «Grundlegung durch rational-legal legitimierte Herrschaft, hierarchische Organisation mit Vorgesetztenernennung von aussen bzw. oben, funktionale Arbeitsteilung, Unpersönlichkeit der Orientierung, die sich im Rahmen von allgemein feststehenden Kompetenzen nach generellen, erlernbaren Regeln richtet, Trennung von Arbeitsplatz und Familie und von Arbeitsmitteln und Eigentum, Geldgehalt mit garantierter Versorgung, lebenslange und berufsmässige Spezialisierung für diese Arbeit und ein besonderes, durch laufbahnmässigen Aufstieg steigerungsfähiges gesellschaftliches Prestige.»

Während sich die Bürokratie in ihren Anfängen auf die öffentliche Verwaltung beschränkte, ist diese heute mit dem Management verschmolzen, und umgekehrt. «Nicht nur drängte auf einmal die öffentliche Verwaltung zum Management», schreibt Christoph Bartmann in seiner hervorragenden Bürokratie-Studie "Leben im Büro" (Hanser 2012), «es drängten auch die Manager in die öffentliche Verwaltung.»
Um die heutige Bürokratie zu begreifen, muss man deshalb auch die Entwicklung des Managements verstehen. Fast zeitgleich mit der rationalen Bürokratie betrat auch das wissenschaftliche Management die Bühne des gesellschaftlichen Alltags, und zwar in der Person von Frederick Winslow Taylor (1856–1915) und seinem Hauptwerk, den "Principles of Scientific Management" (1911). Ungerecht vereinfacht: Er zerstückelte die Arbeit in einzelne Schritte, beschleunigte sie mit der Stoppuhr und machte den Arbeiter zum Rädchen in der Maschine, die Manufaktur zur Fabrik.
Nach dem Zweiten Weltkrieg drängte eine neue Spezies in die Teppichetagen: junge Kriegsveteranen, die mit ihren Sieg die Überlegenheit von guter Organisation und Teamarbeit unter Beweis gestellt hatten. Aber mit Befehlen allein war in den Zeiten des grossen Wirtschaftswachstums aus den mündig gewordenen Arbeitern nicht mehr viel herauszuholen. Deshalb erfand der aus Wien stammende amerikanische Managementlehrer Peter Drucker (1909–2005) 1954 das Management by Objectives. Jedes Element der Hierarchie, von ganz oben bis ganz unten, brauchte ein klar umrissenes, mit der Zielsetzung des Unternehmens harmonierendes Ziel und eine entsprechende Zielvereinbarung. Aus Arbeitern und Angestellten wurden Mitarbeiter mit einer nach Hierarchiestufen wachsenden Eigenverantwortung. Aber wie man schon in der Sylvesternacht intuitiv weiss, reicht es nicht, ein Ziel zu haben, um es zu erreichen. Man muss es auch wollen. Damit hielt "die Kraft des positiven Denkens" (Norman Vincent Peale, 1960) in den verschiedensten Formen, von der positiven Psychologie bis zum Motivationstraining, Einzug ins Management. Die blosse Existenz der Motivationsindustrie bedeutet, dass wir ohne sie offenbar nicht im erforderlichen Mass zu bewegen wären. Wir können uns für das totale Effizienzspiel nur motivieren, wenn wir ausblenden, was wir selber wirklich wollen. Wohl deshalb schreibt Barbara Ehrenreich in ihrem Buch «smile or die» – wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt (2009), das positive Denken sei «für alle erwachsenen Amerikaner zur Pflicht geworden». «Der Psychologe ist Manager geworden und der Manager Psychologe», resümiert Bartmann.

Nur: Wer bloss motiviert die Pflicht erfüllt, kann im Wettbewerb nicht bestehen. Denn die Anderen motivieren sich in freiwilligem Selbst-Management ja auch. Seit den 80er Jahren helfen deshalb Trainer, vorher nur im Sport bekannt, den Managern, über sich und jeden Sinn hinauszuwachsen. Denn das beherrschen die Spitzensportler beispielhaft: in einer sinnlosen Tätigkeit eine Höchstleistung zu erzielen, perfekt auf einen Ball zu dreschen, sich die Lunge aus dem Leib zu rennen oder Leben und Gesundheit in einem Steilhang aufs Spiel zu setzen. So verbissen, so gedankenlos und so einseitig wird man erst mit kompromisslosem Mentaltraining. Nicht umsonst wird ein Wettkampf «im Kopf» gewonnen. Diese bemerkenswerte Fähigkeit zur sinnlosen Konzentration ist natürlich ganz besonders in einer Wirtschaft gefragt, die Wohlstand weitgehend erreicht hat und sich nun dem neuen Ziel zuwenden müsste, diesen auch gerecht zu verteilen. Aber das würde das ganze System in Frage stellen. Und das ist das einzige Verbot in diesem Spiel.
Selbst die totale Unterordnung unter Unternehmensziele und die blinde Fokussierung bringen nicht mehr genügend Wettbewerbsvorteile, wenn dies alle anderen auch tun. Die letzte Management-Mode ist deshalb der permanente Change, das Management der Chaoten, der Business-Freaks, die bewusst Regeln brechen dürfen – solange der Umsatz stimmt.

Dieser Zustand des kontrollierten Chaos und verinnerlichten Selbst-Management trifft in den 90er Jahren auf gesättigte Märkte und auf Sozialstaaten an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Die Wirtschaft braucht unbedingt neue Geschäftsfelder und die Verwaltung ebenso dringend eine neue Arbeitsbasis. Die Antwort lautet: New Public Management. Die Manager gehen in die Verwaltung, ökonomisieren deren Aufgaben und erklären Effizienz und Wettbewerb zur höchsten Vernunft. Blair und Schröder, die Erben der groben Privatisierungsversuche von Thatcher, sind die politischen Speerspitzen dieser Bewegung.
In der alten Bürokratie stellte eine Behörde einen Tatbestand fest und wandte das entsprechende Gesetz an. Voraussetzung dieses Vorgangs war das Vertrauen der Bürger, dass die Beamten ihre Arbeit sachbezogen, ohne persönliche Interessen und korrekt ausführen, und umgekehrt das Vertrauen des Staates in den guten Willen seiner Bürger, die Gesetze auch anzuwenden. Beide Formen des Vertrauens haben in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen. Das vom Wettbewerb getriebene Individuum vergrös­serte mutwillig und ohne zu fragen die Gesetzeslücken zu seinen Gunsten, und die Diener des Staates verloren zunehmend die Herrschaft über ihre wachsenden Aufgaben und schrumpfenden Kassen oder begannen sogar, sich selber zu dienen. Während die alte Bürokratie auf dem Vertrauen in den Menschen basierte, der das System im guten Sinn anwenden würde, vertraut das «New Public Management» darauf, dass das System die Menschen gut machen werde. Oder, wie Richard Münch in «Globale Eliten, lokale Autoritäten» (2009) schreibt: «Das neue Steuerungsmodell setzt an die Stelle des Vertrauens das grundsätzliche Misstrauen, bürokratische Regelungen seien ineffektiv und die Expertenautonomie würde missbraucht. Deshalb verlangt es eine weitestmögliche ‹Transparenz› der Leistungen, über die anhand von Kennziffern detailliert Rechenschaft abgelegt werden muss.» Und jetzt wird die Geschichte der Bürokratie endlich wieder konkret. Sie wird aber auch komplex.

Wettbewerb in der realen Wirtschaft funktioniert einfach: Wer das bessere Brot bäckt und billiger liefert, macht das Geschäft. Aber ideale Marktbedingungen mit freiem Wettbewerb, transparenter Information und freier Preisbildung sind die Ausnahme und oft weder möglich noch wünschbar. Wie soll der Wettbewerb bei staatlichen Dienstleistungen funktionieren? Wer ist der bessere Beamte? Der Konsequente oder der Grosszügige? Wer ist der erfolgreichere Lehrer, die bessere Ärztin, der nützlichere Polizist oder die produktivere Altenpflegerin? Darauf gibt es in der Realität keine zuverlässigen Antworten, im New Public Management schon. Sie verstecken sich in Qualitätsstandards, Checklisten, Assessments, Punktesystemen und dergleichen mehr, mit denen der fehlende Markt durch künstlichen Wettbewerb ersetzt wird. Dies führt «statt zu mehr Effizienz zur Produktion von immer mehr Unsinn», wie Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz in seinem empfehlenswerten «Buch Sinnlose Wettbewerbe» (Herder, 2012) feststellt. Im Zuge einer zunehmenden Markt- und Wettbewerbsgläubigkeit sei man «auf die fatale Idee gekommen, künstliche Wettbewerbe zu inszenieren, um so die angebliche überlegene Effizienz der Marktwirtschaft bis in den hintersten Winkel jeder öffentlichen und privaten Institution voranzutreiben», schreibt er. «Mit missionarischem Eifer werden überall Leistungsanreize gesetzt, doch was dabei als Leistung herauskommt, ist in Wirklichkeit ein gigantischer Unsinn. Ein neues Gespenst geht also um in Europa. Es ist das Gespenst des künstlichen Wettbewerbs, welches sich zu einer Ideologie entwickelt hat, in die wir uns verrannt haben.»

Drei Illusionen nähren gemäss Binswanger diese Ideologie:
• Die Marktillusion: Wo kein Markt ist, sorgen künstliche Wettbewerbe für Effizienz
• Die Messbarkeitsillusion: Qualitative Leistungen lassen sich mit Kennzahlen messen
• Die Motivationsillusion: Menschen brauchen Zuckerbrot und Peitsche, um Hochleistungen zu erbringen.
Besonders verbreitet sind diese Illusionen in der Wissenschaft, in der Bildung und im Gesundheitswesen. Drei Beispiele:
• Der Erfolg eines Wissenschaftlers wird anhand der Zahl seiner Publikationen in Fachzeitschriften gemessen. Konsequenz: Themen werden in Teilaspekte zerstückelt, mit komplexen Modellen aufgeblasen und in Wissenschaftsjargon verpackt. Binswanger: «Da werden von Wissenschaftlern mit Fleiss und Akribie jedes Jahr in Tausenden von Fachzeitschriften über Hunderttausende von Seiten Fragen beantwortet, deren Antwort niemand wissen will.»
• Ein Bildungssystem gilt im internationalen Vergleich dann als gut, wenn möglichst viele Schüler die Matur machen und studieren. Konsequenz: Viele mittelmässig begabte Maturanden, die nicht nur eine anständige Berufslehre verpasst haben, sondern während des Studiums auf der Strecke bleiben. Binswanger: «Eine hohe Maturitätsquote ist ein hervorragendes Mittel, um die Jugendarbeitslosigkeit zu fördern.» (Was sich empirisch nachweisen lässt.)
• Das Gesundheitswesen ist ein chronischer Patient im Spital der Markt- und Messbarkeitsillusionen. Die neuste Krankheit sind die Fallpauschalen, mit denen die Spitäler für die Behandlung definierter Krankheiten aufgrund komplexer Berechnungen fixe Beträge erhalten. Konsequenz: Die Patienten verlassen das Spital früher, kehren aber schneller zurück (Drehtüreffekt) und die Kosten werden in den ambulanten Bereich verlagert.
Markt-, Messbarkeits- und Motivationsillusionen sind auch in der Privatwirtschaft sehr verbreitet. «Leistungslohn» ohne Leistung und Labels und Zertifizierungen ohne Aussage und praktische Vergleichsmöglichkeiten sind die Spitzen zweier grosser Eisberge.

Um diese Illusionen am Leben zu erhalten, müssen sie mit immer grösserem Zahlenmaterial unterfüttert werden. Wie gross dieser Datenberg heute ist, lässt sich nicht beziffern, sondern höchstens mit einem Bild beschreiben: Der Bergsteiger hat so viel Kartenmaterial eingepackt, dass sein Rucksack zu schwer ist, um den Gipfel zu erreichen.
Augenfällig ist dies unter anderem in der Altenpflege. Zur Steigerung der Qualität und zur Bestimmung des Pflegebedarfs (und der vergütungsfähigen Kosten) wird viertel-, bzw. halbjährlich das sogenannte Resident Assessment Instrument (RAI) auf jeden Bewohner angewendet. Allein das Minimum Data Set umfasst 300 Positionen. Diese Daten dürfen natürlich nur von ausgebildetem Fachpersonal erhoben werden, mit der Konsequenz, dass diese vor allem am Computer sitzen und die Arbeit am Pflegebett, deren Qualität man verbessern will, von an- und ungelerntem Personal geleistet wird. Das ist – man kann die Behauptung ruhig laut aussprechen – wohl der Hauptgrund für den Mangel an Fachkräften, der in den letzten Jahren über die gebildete Schweiz hereingebrochen ist.

Die Evaluationsmanie behindert nicht nur den eigentlichen Zweck der Arbeit, sie verändert ihn auch und führt ihn in die Irre. Beispiel Bologna-System mit seinem European Credit Transfer System (ECTS): Anstatt einen Abschluss an ihrer Uni zu machen (mit Arbeiten  und Prüfungen zu unterschiedlichen, lokal angepassten Kriterien), sammeln die Studenten nun ECTS-Punkte und erhalten bei Erreichen der nötigen Punktzahl einen Abschluss. Punkte statt Prüfungen. Bologna verfolgt u.a. drei explizite Ziele: die Qualität der Hochschulen fördern, die Mobilität der Studierenden steigern und die employability der Absolventen verbessern. Das Mobilitätsziel wurde nachweislich nicht erreicht, die Qualität der Hochschulen ist höchst diskutabel und die Job-Chancen der Absolventen sind miserabel. Zwar gibt der Arbeitsmarkt nicht viel her, aber die Hochschulen produzieren immer mehr an seinen Bedürfnissen vorbei.
Es ist paradox: Wir alle wollen effizienter werden und sogar explizit die Bürokratie reduzieren. Das Resultat ist das Gegenteil. Wie ist das möglich? Zum einen sind wir von unseren Illusionen komplett benebelt. Wir sehen zwar mit unseren Beobachtungsinstrumenten unglaublich viel – alle zwei Jahre verdoppelt sich die Informationsmenge – aber wir schauen in die falsche Richtung. Es ist bezeichnend, dass die schlimmsten Auswüchse der neuen Bürokratie dort zu finden sind, wo Menschen mit Menschen arbeiten. dabei lässt sich das, was den Menschen letztlich ausmacht, weder messen noch kontrollieren. Man kann vielleicht die Elemente eines himmlischen Gedichts oder eines gefühlvollen Musikstücks beschreiben; aber daraus umgekehrt ein reproduzierbares Rezept für Dichtung und Komposition abzuleiten, das ist nicht möglich. Ähnlich verhält es sich mit einfühlsamer Pflege, motivierenden Gesprächen und entdeckungsfreudigem Unterricht. Steuerung mit quantifizierbaren Faktoren? Fehlanzeige. Den arbeitenden Menschen auf messbare Einheiten zu reduzieren führt auf direktem Weg in den sozialen Materialismus. Da spielt das Individuum mit seinem riesigen geistigen Potenzial allenfalls noch als human factor eine Rolle. Es wird zu einem formatierten Funktionsträger, das gesellschaftlich nur so lange existiert, als es seine Freiheit in den Dienst des messbaren Nutzens stellt. Und damit wir die Trostlosigkeit einer solchen Welt nicht wahrnehmen, singen subventionierte Künstler das hohe Lied der Freiheit und der Kreativität.

Bürokratie ist ein selbstreferentielles System mit unbeschränktem Wachstumspotenzial. Jeden Monat stellt die öffentliche Hand in der Schweiz 500 Menschen neu in den Dienst der Bürokratie, die Leute mit privatisierten Staatsaufgaben nicht eingerechnet. Jede Kontrolle offenbart Lücken, die mit zusätzlichen Regeln und Kontrollen optimiert wird. Die Sammlung von Gesetzesvorschriften der EU umfasst mittlerweile rund anderthalb Millionen Dokumente, von der berühmten Gurkenrichtlinie über den Erlass zur Vereinheitlichung von Traktorsitzen bis zur kürzlich veröffentlichten Schnullerkettenverordnung mit 52 Seiten. Das System wird unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen wie die sozialistische Planwirtschaft. Aber die stand wenigstens noch im Wettbewerb mit einer mehr oder weniger freien Marktwirtschaft, was ihr ein einigermassen glimpfliches Ende vor dem finalen Kollaps bescherte. Die heutige Ökonomisierung der Welt und die mit ihr verbundene Bürokratie ist dagegen konkurrenzlos. Sie hat bloss innere Feinde: Leistungsträger, die sich innerlich verabschieden, weil ihre Arbeit von den Leistungsmessern und Leistungsmanagern weder wahrgenommen, geschweige denn gewürdigt wird. Das Wachstum der Bürokratie wird also weitergehen. Während die Stoppuhr in den amerikanischen Fabriken schon fünf Jahre nach Taylors Hauptwerk wieder verboten wurde, gibt es heute nichts, was der Bürokratie Einhalt gebieten,  oder sie gar zurückbilden könnte. Nichts ausser Lippenbekenntnissen.
Man muss an dieser Stelle an den grossen österreichischen Nationalökonomen Leopold Kohr erinnern, den Erfinder der Philosophie der Kleinheit und Lehrer des bekannteren E.F. Schumacher («small is beautiful»). In seinem Hauptwerk «The Breakdown of Nations» (1957, dt. unter dem Titel «Das Ende der Grossen») begründet er die schiere Grösse als entscheidenden Faktor der Überlebensfähigkeit von Organisationen. Die Informatik hat seither die Kontrollmöglichkeiten zwar erweitert, aber das Prinzip des menschlichen Masses nicht ausser Kraft gesetzt.

Eigentlich wollen wir alle es besser machen und das System optimieren. Das ist meist eine gute Idee, aber nicht immer. Die Optimierung des Krieges hat uns nicht weniger Tote gebracht, nur andere. Dabei ist nicht zu vergessen, dass Zerstörung (von Leben und Infrastruktur) gar nicht das primäre Ziel des Krieges ist. Sondern Unterwerfung. Und dieses Ziel wird mit erschreckender Effizienz erreicht. Bald wird die Welt allein beherrscht vom Markt, auf dem alles verhandel- und austauschbar ist: Güter, Menschen, Natur.
Wir optimieren ein System, das, getrieben von Zins und Wachstumszwang, keine Zukunft hat. Der Highway to Hell führt zur Hölle, egal wie der Verkehr geregelt wird, egal wie umweltfreundlich die Fahrzeuge sind und ob die Fahrer überhaupt da hinwollen.

Wo bleibt die Kritik, was tun die Gegner der Bürokratie? «Wir kennen … fast niemanden, der sie verteidigt, aber viele, die sie resigniert erdulden», resümiert Christoph Bartmann am Ende seines Buches, selber fast ein bisschen resigniert. Und «Gegen die Enteignung unserer Arbeitswelt durch voreingestellte Formatierungen, Formulare, Instrumente, Werkzeuge und sonstige subtile, als Erleichterungen getarnte Regenten hilft allein Kritik.» Wenn er nur recht hätte! Wenn Kritik in der zerstreuten Welt noch etwas bewirken könnte! Kritik an den Blüten des bürokratischen Sumpfes gibt es wohl. Aber es fehlt ein eingängiger Schlachtruf wie make love not war, und es fehlt die realisierbare Alternative, in welcher Vertrauen mehr zählt als Kontrolle und das Gemeinwohl mehr als die Ökonomisierung.
Und es fehlt den Antibürokraten an Erklärungen, was auf tieferer Ebene vor sich geht, ein Verständnis für die Regeln des verhängnisvollen Spiels, in dem wir blinde Bauern sind, die schliesslich geopfert werden. Und wie im richtigen Schach, überlebt zum Schluss nur ein König. Es gewinnt entweder der Geist oder der Materialismus, die Freiheit oder die Kontrolle, die Liebe oder die Angst. Es gibt in der Bürokratie kein Gleichgewicht des Schreckens, sondern nur ein Ende oder ein Schrecken ohne Ende.        



Leseempfehlungen:
Christoph Bartmann: Leben im Büro.  Hanser, 2012. 320 s. Geb. Fr. 26.90/€ 18.90.
Mathias Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe – warum wir immer mehr Unsinn produzieren. Herder, 2012. 240 s. Fr. 14.90/€ 10.–.


Mehr zum Thema Bürokratie im Schwerpunktheft «Formularkrieg»

Dazu auch die Tagung «Zur Sache – die Fesseln der Bürokratie sprengen» vom 25. Oktober 2014 in Zürich