Seit sieben Jahren gejagt

Die Lebensreise der Marina Mohamedova, Betriebswirtin, 57, geflüchtet aus Grosny, Tschetschenien.

Am Abend des 8. April 2012 klingelt es bei Elfie Schöpf, ehemalige Entwicklungshelferin und Journalistin, in Bern. Vor ihrer Tür steht Marina, eine  Flüchtlingsfrau aus Tschetschenien. Eine feingliedrige, intelligente Frau, die sie sieben Jahre zuvor in ihrem Ferienhaus beherbergt hatte. Die 57-Jährige und ihr Sohn Magomed, damals 19, mussten aus Grosny, wo der grausame Tschetschenien-Krieg wütete, flüchten. Die beiden waren besonders gefährdet, weil ihr Ehemann und Vater als hoher Offizier mit der Rebellenarmee kämpfte. Von Bekannten hatten sie gehört, dass die Schweiz eine grosse humanitäre Tradition habe und politische Flüchtlinge dort Aufnahme fänden. Gegen ein Entgelt von 1000 Dollar pro Kopf – eine Summe, die sie mit Hilfe von Verwandten aufbringen konnten – brachte ein Lastwagenchauffeur die beiden nach Basel.

Zürich – Stockholm – Zürich
Vom Empfangszentrum aus wurden Marina und ihr Sohn von den Behörden nach Altstätten SG verwiesen, wo sie im Flüchtlingszentrum Thurhof die Antwort auf ihr Asylgesuch abwarteten. Marina konnte von dort aus während acht Monaten im Berghotel  Arvenbühl arbeiten. Doch dann kam der Negativentscheid des Bundesamtes. In Panik kaufte Marinas von ihrem Lohn zwei Bahntickets und fuhr mit Magomed kurzum über Kopenhagen nach Schweden. Im Asylzentrum bei Stockholm nahm man ihnen die Fingerabdrücke ab. Anschliessend schickte man Mutter und Sohn nach Nordschweden, wo sie während drei Monaten eine kleine Wohnung zur Verfügung hatten.

Doch die schwedischen Behörden fanden schliesslich heraus, dass die beiden Tschetschenen bereits in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt hatten. Gemäss Dublin-Abkommen mussten sie in das Land ihrer ersten  Gesuchsstellung zurückgebracht werden. So wurden sie in Handschellen nach Zürich geflogen und dort von der Polizei empfangen. Jemand hatte Marina die Adresse von Martin van Egmond, damals Sozialarbeiter bei der katholischen Kirche, gegeben. Er wollte Marina und Mogamed vor der Ausschaffung nach Moskau bewahren und brachte die Flüchtlinge vorerst für drei Wochen ins Ferienhaus am Murtensee.

... und wieder Hoffnung
Nächste Station war Paris, wo sich Marina und Magomed aber vergeblich Hilfe von anderen Tschetschenen erhofften. Nach der Nachricht, dass Tschetschenen in Ungarn aufgenommen würden, reisten Mutter und Sohn über Deutschland und Österreich nach Debrecen. Eine Amnesty-Frau half bei der Papierbeschaffung. Das Zentrum, in dem sie landeten, war ein ehemaliges russisches Soldatenlager, das hunderten von Flüchtlingen, vornehmlich Romas, ein Dach über dem Kopf und Essen bot. Die Helfer in der Schweiz atmeten auf, als sie die beiden in Sicherheit wussten.

Doch zwei Jahre später kam es in Ungarn zu einem Politiker-Wechsel, der dazu führte, dass Magomed im Jahr 2008 nach Moskau ausgeschafft wurde. 2010 schickte man seine Mutter, die seit Jahren an einer Unterleibskrankheit litt, nach Grosny. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Magomed wurde zwei Jahre in ein russisches Gefängnis gesperrt und dort mehrfach gefoltert. Im August 2010 wurde Marina für zwei Monate in einer Polizeistation in Grosny festgehalten. Dort wurden ihr sämtliche Wertsachen – Uhr, Handy und sogar ihr Ehering abgenommen – genauer gesagt von den Polizisten gestohlen.

Der Krieg ist nicht vorbei
Von da an nahm Marinas Schicksal einen unvorstellbar schrecklichen Verlauf: Russische Soldaten verschleppten sie am 1. Oktober in ein Militärlager am Rande von Grosny, wo sie verhört und geschlagen wurde. Während fast eineinhalb Jahren war sie den Launen der russischen Soldateska ausgeliefert. Sie schuftete täglich vom Morgen früh bis abends spät – eingesperrt in der Küche, wo sie die Nächte auf einem schmalen Klappbett verbrachte. Als einzige Frau kochte sie für 120 Soldaten. Freizeit gab es keine.

Manchmal musste sie 50 Mann weniger bekochen, wenn ein Detachement in den umliegenden Bergen kämpfen ging. «Nein», sagt sie heute, «der Tschetschenien-Krieg ist nicht vorbei», wie das die Flüchtlingsbehörden glauben. Die Unabhängigkeitskämpfer – das weiss sie von ihrem immer noch an den Kampfhandlungen beteiligten Mann - würden nach wie vor von arabischen Staaten und den USA unterstützt. Interessant auch die Erzählung Marinas, wonach die russischen Soldaten massenhaft Kalaschnikows, Granaten und andere Waffen, ja sogar Militärfahrzeuge in Grosny -  meist gegen Wodka - verhökern. Die meist sehr jungen in Grosny stationierten Russen werden alle sechs Monate ausgewechselt. Ihren Sold erhalten sie erst bei ihrer Rückkehr nach Moskau. Kein Wunder, besorgen sie sich ihren Wodka auf dem Markt im Tauschhandel gegen Waffen.

Die Flucht
Am 9. Januar 2012 gelingt es Marina nach etlichen gescheiterten Versuchen, Kontakt mit der Aussenwelt aufzunehmen. Ihre Freundin in Grosny hatte geglaubt, Marina sei nach ihrer Entlassung aus dem Polizeiposten ins Nachbarland Dagestan gereist. Nun erfuhr sie über eine mühsam aus dem Militärlager geschmuggelte Nachricht die Wahrheit über die 15-monatige Gefangenschaft ihrer Freundin im russischen Militärlager. Von da an ging alles relativ schnell: Die Freundin benachrichtigte den in den Bergen operierenden Ehemann Marinas, der nichts von deren Leidensweg wusste. Ihm gelang es, seine Frau mit der nötigen Geldsumme aus den Fängen der Russen zu befreien. Wie vor sieben Jahren fuhr Marina mit einem Lastwagen in die Freiheit. Sohn Magomed konnte zuvor ebenfalls mit Hilfe des Vaters nach Ungarn zurückfahren, wo ihn eine Freundin vorübergehend aufnahm.

Wieder im Basler Empfangszentrum stellt Marina einen neuen Asylantrag. Die schweizerischen Flüchtlingsbehörden erweisen sich als sehr ordentlich. Im Bundesamt in Bern ist ihr Dossier mitsamt ihrem Pass säuberlich aufbewahrt. Nun hat eine neue Wartezeit begonnen, die sie in einem Zivilschutzbunker im Berner Hochfeld verbringt.

05. Juni 2012
von: