Wie soll ich sorgen?
Melodien der Sorge in Moll und Dur
Vermissen Sie in der Titelfrage das Reflexivpronomen? Dann lohnt sich das Weiterlesen ganz besonders. Wer das Verb ‹sorgen› nur als ‹sich sorgen› im Sinn von ‹sich Sorgen machen› kennt oder versteht, dem entgeht die faszinierende Vielschichtigkeit des Wortes. Denn der Sorge-Begriff enthält nicht nur Düsterkeit und Bedrängnis, sondern er trägt in seinem innersten Wesenskern den Keim des Positiven und Guten.
So wie die Bekümmernis ein Sich-um-etwas-Kümmern aufweist, ist ebenso die Sorge – um oder für jemanden oder etwas – ein bewusstes Hinwirken auf die Ver-Besserung eines Zustandes. Die Wörter ‹umsorgen›, ‹Fürsorge›, ‹Versorgung› oder die Wendung ‹Sorge tragen› zum Beispiel haben viel weniger einen so düsteren Beiklang wie das «blutte» Grundwort: Alle diese Wörter gelangen dann zur Anwendung, wenn ein Mensch, eine Sache oder eine Situation zwar besonderer Zuwendung bedarf, aber bereits ein Weg zur Bewahrung und Beförderung des Wohlergehens sichtbar ist. Wenn jemand hingegen Bedrängnis, ja sogar Niedergedrücktheit wahrnimmt, aber keine Gedanken darüber anstellt, wie genau dagegen angekämpft werden kann, muss sie oder er demgegenüber entweder empathielos und apathisch, oder aber geist- und konzeptlos sein. Denn nur wer sich in solchen Situationen sorgt, zeigt sich darin ganz als Mensch.
Solche Situationen der Enge und Bedrückung treffen wir alle nicht nur in der «Aussenwelt» an, sondern immer wieder auch in der «Innenwelt», bei uns selber. Bei wem dies nicht der Fall ist, der lebt tatsächlich sorglos, wobei dies interessanterweise ein auch negativ konnotiertes Wort ist, das manchmal mehr nach «achtlos und unsorgfältig» denn nach «glücklich und unbeschwert» tönt. Wer also solche Enge in sich kennt – sei es terminliche, finanzielle, gesundheitliche oder existenzielle – weiss auch um die Bedeutung der reflexiven Sorge, also des ‹sich sorgen›. Worum man aber in der Regel weniger weiss, ist die erwähnte positive Seite dieses Gemüts- oder Geisteszustands.
Wer sich sorgt, hat sich implizit oder explizit bewusst gemacht, was ihr oder ihm wichtig ist im Leben. Sind diese Wichtigkeiten selbstverständlich vorhanden und stabil, so brauchen wir uns um sie keine Sorgen zu machen. Sind sie aber in Gefahr – fehlt also die Zeit, das Geld, der Schlaf, das Wohlbefinden, die Zukunftsperspektive, die Liebe oder auch der Glaube und die Hoffnung – so ist die Sorge nur allzu berechtigt; ja, ich würde die Sorge dann sogar als einen Teil der persönlichen Selbstheilungskräfte bezeichnen. Und was gibt es Positiveres als Heilung und Genesung?
Wenn Sorge, kraft ihres positiven Wesenskerns, zur Behebung einer Bedrängnis (moderner ausgedrückt: zur Lösung eines Problems) beiträgt respektive sie – dies meine Überzeugung – überhaupt erst ermöglicht, dann kann kein Mensch ohne Sorge gut und gesund leben. Diese Sorge ist dann aber eben gerade nicht nur die nebelverhangene, horizontlose, sondern eben auch die heitere, zuversichtliche, deren Färbung neben dem Moll des «Ach, wie ist das Leben beschwerlich…» auch das Dur des «Oh, wie sehr freue ich mich auf die Zukunft!» annimmt.
Wie nun also (sich) sorgen? Kurz gesagt: Indem immer beide Melodien Raum erhalten dürfen.
PS: Dieser Text ist mein Versuch, die präzis-nebulösen Worte des deutschen Philosophen Martin Heidegger (1889-1976) zum Sorge-Begriff zu verstehen. Er schreibt in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (im §41. Das Sein des Daseins als Sorge):
Sorge ist immer, wenn auch nur privativ, Besorgen und Fürsorge. Im Wollen wird ein verstandenes, das heisst auf seine Möglichkeit entworfenes Seiendes als zu besorgendes bzw. als durch Fürsorge in sein Sein zu bringendes ergriffen. Deshalb gehört zum Wollen je ein Gewolltes, das sich schon bestimmt hat aus einem Worum-willen. Für die ontologische Möglichkeit von Wollen ist konstitutiv: die vorgängige Erschlossenheit des Worum-willen überhaupt (Sich-vorweg-sein), die Erschlossenheit von Besorgbarem (Welt als das Worin des Schon-seins) und das verstehende Sichentwerfen des Daseins auf ein Seinkönnen zu einer Möglichkeit des ‹gewollten› Seienden. Im Phänomen des Wollens blickt die zugrundeliegende Ganzheit der Sorge durch.
– Ja, genau dies wollte ich eigentlich sagen!...
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