Zwei Geächtete der internationalen Politik

Am Ostersonntag vor hundert Jahren schlossen Deutschland und Russland den Vertrag von Rapallo, dem sie ihre Isolation überwinden wollten.

Reichskanzler Joseph Wirth (2. v. l.) mit den Vertretern der sowjetrussischen Seite Krassin, Tschitscherin und Joffe Bild: Wikipedia, Bundesarchiv Bild 183-R14433, Vertrag von Rapallo)

Vor 100 Jahren, am 16. April 1922, schlossen Deutschland, vertreten durch Aussenminister Walther Rathenau, und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, vertreten durch Aussenminister Georgi Tschitscherin, den Vertrag von Rapallo, in dem sie die Wiederaufnahme der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen nach dem Prinzip der Meistbegünstigung vereinbarten.

Damals sollte Deutschlands wirtschaftliche Existenzgrundlage, mit Hilfe des Vertrags von Versailles, «vernichtet» werden, um das anglo-amerikanische Finanzsystem mit Hilfe der Deutschland aufgezwungenen Reparationszahlungen am Leben zu erhalten.

Wie Russland heute, wurden auch die damalige Sowjetunion und Deutschland wirtschaftlich isoliert. Beide Seiten versuchten, dieser Isolation durch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zu entkommen.

In ähnlicher Weise gab es damals Bestrebungen aus der deutschen Industrie, angeführt von dem Industriellen Otto Wolff, mit der damals von Sun Yat-sen angeführten jungen chinesischen Republik zusammenzuarbeiten, insbesondere beim Aufbau eines chinesischen Eisenbahnnetzes, wie es Sun Yat-sen in seiner Schrift «Die internationale Entwicklung Chinas» konzipiert hatte.

Die Chance eines friedlichen Auswegs aus der Krise wurde 1922 verpasst. Walter Rathenau wurde nur zwei Monate nach dem Abschluss des Rapallo-Vertrages ermordet. Der Versuch, Deutschlands Reparationsschulden mit Hilfe der Geldpresse zu begleichen, scheiterte 1923 in der berüchtigten Hyperinflation, die deutsche Bevölkerung verarmte und zum Spielball extremistischer Gruppen machte.

Die gleichen Kräfte, die Deutschland schon den Versailler Vertrag aufgezwungen hatten, halfen nun, in Italien, Deutschland, Spanien und Frankreich faschistische Regime zu installieren, und ebneten so den Weg in den Zweiten Weltkrieg, der je nach Schätzung zwischen 60 und 100 Millionen Menschen weltweit das Leben kostete.
Die Wirtschaftspolitik lief darauf hinaus, der Bevölkerung eine Sparpolitik aufzuzwingen, während gleichzeitig die Hochrüstung für den Zweiten Weltkrieg begann.

Natürlich ist die Lage heute, in vielen Aspekten eine ganz andere. Der Versuch, Russland zu isolieren, ist heute zum Scheitern verurteilt, weil das Land eng mit China zusammenarbeitet. Tatsächlich beteiligen sich ausserhalb der EU nur wenige Länder an den Russland-Sanktionen, und es ist vielmehr der Westen, der sich zunehmend selbst isoliert.

Aber es gibt etliche, fatale Parallelen, aus denen wir dringend Lehren und Konsequenzen ziehen müssen, wenn die Geschichte sich nicht wiederholen soll. Die Gelddruckpolitik der letzten Jahre (insbesondere seit 2019) hat den Boden für eine Hyperinflation bereitet, die nun, nachdem die Russland-Sanktionen den Finanzspekulanten den Weg in die Warenspekulation gewiesen haben, in einer gewaltigen Welle über die Welt hereinzubrechen beginnt.

Wie 1922 läuft die wirtschaftliche Perspektive, wie sie von Brüssel und Washington verfochten wird – heute nicht als Versailler Diktat, sondern unter dem Vorwand der Bekämpfung des Klimawandels –, darauf hinaus, den Lebensstandard der eigenen Bevölkerung drastisch zu senken.

Und heute wird die Aufrüstung sogar schon eingeleitet, bevor der Protest der Bevölkerung extremistische Regierungen an die Macht gebracht hat. Diese Proteste dürften angesichts der anstehenden Energiepreissteigerungen nicht mehr lange auf sich warten lassen, nur drohen sie diesmal nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern, die von den Folgen dieser Politik getroffen werden.

Tatsächlich weist uns Rapallo den Weg aus der Krise: den der internationalen Kooperation. Dieser Ansatz wird von Russland und China bereits verfolgt, in Form der Belt and Road-Initiative, an der sich bereits mehr als 100 Nationen beteiligen. Es wäre also sehr einfach, die Chance von 2022 am Schopf zu ergreifen und sich dieser Initiative anzuschliessen.

Anstatt künstlich neue Eiserne Vorhänge zu schaffen, die uns den Ausweg aus der Krise versperren, sollten wir mit der Politik der mörderischen und selbstmörderischen Sanktionen brechen, die nur in den wirtschaftlichen und wahrscheinlich auch militärischen Untergang führen kann.

Wir sollten die Scheinvermögen der Spekulanten, die auf finanziellen Forderungen beruhen, die nur noch durch Gelddrucken scheinbar «am Leben erhalten» werden, einem wohlverdienten Insolvenzverfahren unterziehen, und ein Kreditsystem schaffen, das einen globalen wirtschaftlichen Aufbau ermöglicht, und uns gemeinsam der Lösung der gemeinsamen Probleme der Welt zuwenden, und so die Grundlage für einen dauerhaften Frieden schaffen. Wenn wir das tun, dann haben wir die richtigen Lehren aus Rapallo gezogen.

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Der Text stammt aus dem (kostenpflichtigen) Newsletter des Schiller-Instituts.