Die heilende Kraft der Natur
Natur tut gut, das hört man immer wieder. Diese Worte sind aber mehr als nur eine Volksweisheit. Genügend wissenschaftliche Studien belegen, dass Natur uns gesund hält – sogar gesund macht. Die Studien zeigen am Ende auf, dass wir unbedingt täglich ein paar Stunden im Fluss, im Wald, im Meer oder im Garten sein sollten.
«Je länger der Trip, desto mehr Heilung findet statt», sagt der Geologe Peter Winn, der seit den 1960er Jahren auf dem Colorado River im Grand Canyon Expeditionen leitet. «Die Menschen heilen fast ausnahmslos.»
Die drastischsten Veränderungen hat Winn bei Kriegsveteranen auf 16-tägigen Kajakfahrten beobachtet. Etwa bei einem Kommunikationsexperte der Armee, der vom Irak mit zig Granatsplittern im Körper zurückkam. Er beherrschte nicht einmal mehr die einfache Mathematik und konnte nur noch «Fick dich» sagen. Am Ende der Reise sprach der Militär wortgewandt und ausführlich und dankte sowohl dem Canyon als auch den Kajakkameraden. Später schrieb auch seine Frau einen Brief, bedankte sich dafür, dass sie ihren Mann wieder zurück hatte.
Oder eine Hubschraubermechanikerin und Co-Pilotin, die aus dem Irak mit einem Granatsplitter im Gehirn zurückkehrte, der nicht entfernt werden konnte, kam mit Selbstmordabsichten auf den Fluss. «Sie war davor drei Jahre in Krankenhäusern und in Therapie gewesen und wieder entlassen worden», sagt Winn. «Sie wollte nicht Kajak fahren, also brachte ich ihr bei, auf meinem Floß zu rudern. Sie schaffte es durch alle Stromschnellen, ohne umzudrehen.» Sie sei dann nach Hause gefahren und habe mit dem Rennradfahren begonnen. «Sie hat gerade ein wichtiges Frauenrennen in Europa gewonnen.»
Louise Teal: «Die Menschen können da nicht nur körperlich heilen, sie verändern manchmal auch ihr Leben. Sie finden einen Job oder kündigen, heiraten oder lassen sich scheiden oder werden selbst zu Flussguides», sagt die Autorin und Colorado-River-Tourführerin. Der Canyon bietet mit seinen atemberaubenden Sonnenuntergängen, hypnotisierenden Felswänden und dem endlos fließenden Fluss die Kulisse für eine Regeneration. Die Guides wissen, dass sie die Menschen nur bis zum Fluss bringen, ihr Vertrauen gewinnen und sie dann tief in die – wie Teal es nennt – «zillionen Jahre alten Felsen» bringen müssen. «Der Rest passiert dann von selber.»
«Shinrin-yoku» – das Waldbaden, um gesund zu bleiben.
Flussbegleiter mögen wissen, dass die Natur für den menschlichen Körper und die Psyche verändernd wirkt. Wie die Natur heilt, das war bis 1982 kaum erforscht. Bis Tomohide Akiyama, der damals Sekretär der japanischen Forstbehörde war, den Begriff «Shinrin-yoku» – Waldbaden – prägte. Damit beschrieb er die Praxis zur Erneuerung von Körper und Geist in den Wald zu gehen, um Lebensstil-bedingten Gesundheitsproblemen entgegenzuwirken.
Die Tradition war in Japan bereits seit Jahrhunderten alt. Durch die Namensgebung wurden zeitgleich jedoch auch Empfehlungen abgegeben: Man solle zwischen den Bäumen spazieren gehen, sitzen, schauen und sich bewegen, ausgewogene Mahlzeiten aus biologischem, lokalem Anbau essen und – falls verfügbar – in heißen Quellen baden. Alle fünf Sinne sollten angesprochen werden.
Als Akiyama vor all den Jahren das Baden im Wald empfahl, wusste er von den bahnbrechenden Studien über Phytonzide, die der sowjetische Wissenschaftler Boris P. Tokin in den 1920er und 30er Jahren durchgeführt hatte. Phytonzide sind im Grunde genommen scharfe ätherische Öle. Diese flüchtige Verbindungen, die von Nadelbäumen und einigen anderen Pflanzen ausgeschieden werden, senken unter anderem den Blutdruck und stärken die Immunfunktion.
In den letzten Jahren sind viele weitere heilende Faktoren bekannt geworden. Dazu gehören die hellen Lichter und die negativen Luftatome, Sauerstoffatome geladen mit einem zusätzlichen Elektron, von denen man weiss, dass sie Depressionen lindern. Oder schlicht die Naturbilder, die man erlebt und die die vegetative Kontrolle von Herzfrequenz und Blutdruck verbessern. Sogar die Geräusche der Natur, die uns helfen, uns von erhöhtem Stress zu erholen.
Mehr Abwehrzellen im Blut, von denen bekannt ist, dass sie krebshemmend und antiviral wirken.
Blutuntersuchungen haben eine Vielzahl von schützenden Wirkstoffen nachgewiesen, die nach Waldspaziergängen – nicht aber nach Spaziergängen in der Stadt – auf einer höheren Ebene freigesetzt werden. Unter diesen fand sich das Hormon Dehydroepiandrosteron, das gegen Herzkrankheiten, Fettleibigkeit und Diabetes hilft. Oder das Hormon Adiponektin, das vor Arterienverkalkung schützt.
Studien haben gezeigt, dass bereits drei Tage und zwei Nächte an einem bewaldeten Ort die Funktionen des Immunsystems stärken. Dies wiederum steigert das Wohlbefinden bis zu sieben Tage. Die gleiche Zeitdauer in einer gebauten Umgebung hat keinen solchen Effekt. Der Mensch reagiert bei einem Aufenthalt in der Natur mit einer erhöhten Neugier, größerer Entspannung, wiedergewonnener Aufmerksamkeit und gesteigerter Vitalität. Die gesundheitlichen Ergebnisse sind erstaunlich: verbesserte Immunität, verminderte Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weniger Migräne und weniger Angstzustände, um nur einige zu nennen.
«Ein Großteil der wissenschaftlichen Beweise um den Nutzen der Natur entstammen aus dem Studium von Shinrin-Yoku-Fächern. Die meisten Untersuchungen wurde in den Wäldern der nördlichen gemäßigten Zonen durchgeführt», sagt Kathleen Wolf von der University of Washington College of the Environment. «Aus der Forschung wissen wir, dass die Menschen sehr positiv auf Wasser reagieren, zum Beispiel auf einen Springbrunnen in einem Heilgarten oder auf einen Fluss oder eine Uferlandschaft.» Man wisse dagegen weniger über die Wirkung in tropischen oder wüstenartigen Umgebungen.
Aber selbst in den Städten könne man eingreifen: «Alleine schon Ziernatur, gestaltete Natur oder sogar künstliche Natur können wirksam sein.»
Weiter kann der Aufenthalt in der Natur mit vielen Tier- und Pflanzenarten dazu beitragen, dass man ein gesundes Mikrobenmilieu mit lebenswichtigen Haut- und Darmbakterien bekommt. «Früher waren wir nicht nur Teil der Natur», so Wolf, «sondern wir waren von ihr abhängig. Wir mussten uns auf unsere Sinne, unsere Intuition und unsere Reaktionen verlassen, um Nahrung, Wasser und eine Unterkunft zu finden – die absolut wichtigen Dinge also. Wir jagten oder bauten unsere Nahrung an, trugen sie zum Stamm zurück.» Bezüglich der Sterilität in einigen der heutigen Städte, in denen es keine Parks und keine Bäume gibt, sagt Wolf: Ohne Grün sind Kinder benachteiligt.»
Colorado-River-Guides wissen, dass die Natur unser körperliches und geistiges Leben bereichert. «Vor vielen Jahren habe ich den Zen-Buddhismus studiert und gelernt zu meditieren», sagt Winn, der Geologe und Expeditionsleiter auf dem Colorado River. «Irgendwann fand ich heraus, dass das bloße Herumhängen an Wüstenflüssen denselben Effekt wie Meditation hat – kein Stress.»
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