«Erste Hilfe für einen Londontrip» – ein Greenhorn gibt sich als Kenner aus
Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #12
Wäre ich ein paar Jahre älter gewesen, dann wäre ich im Sommer 1969 nach New York gereist und dem Strom Hunderttausender junger Menschen gefolgt, die in Woodstock Geschichte schrieben. Aber ich war erst 15, hatte noch nicht einmal ein Mädchen geküsst, und reiste mit meinen Eltern und meinem ebenso geliebten wie nervigen kleinen Bruder in den Sommerferien ganz brav nach England, wo wir zuerst ein paar Tage in London verbrachten.
Schon vor der Abreise war für mich klar, dass ich die nächste Kolumne meinem Aufenthalt in der Metropole der Popmusik widmen würde. Nach meiner Rückkehr, unter dem durchaus originellen Titel «Erste Hilfe für einen London-Trip« listete ich mein neu erworbenes Londonwissen in einem Alphabet auf. Allerdings gab ich freimütig zu, dass mir zu den Buchstaben I, O, Q, X und Y «trotz nächtelangem Nachsinnen» kein passendes Stichwort einfiel. Ausgerechnet beim seltenen Q hätte ich nicht lange suchen müssen. Denn von der Queen hatte auch ich schon gehört.
«A wie Ausgangspunkt eines London-Trips ist ein guter Stadtplan» – so begann ich meine touristischen Tipps, um beim Buchstaben B sogleich ins Schwärmen zu kommen:
«BBC 1 oder Radio one ist der Sender der Pop-Fans. Er wurde anstelle der Piratensender geschaffen und spielt den ganzen Tag Popmusik.» Für helvetische Popmusikfans wie mich, die auf Radio Beromünster noch immer mit kaum zwei Stunden pro Woche auskommen mussten, war BBC 1 ein musikalisches Eldorado. Ebenso viel Eindruck machte auf mich das C wie Carnaby Street, jene trendige Modeadresse, die in den Swinging Sixties zu Weltberühmtheit gelangt war.
«Boutique reiht sich an Boutique», schilderte ich meinen Besuch, um sogleich warnend hinzuzufügen: «Aber billig ist es nicht!» Um dem Zeitgeist Genüge zu tun, kaufte ich mir ein Lederbändel mit Peacekette. So weit reichte mein Taschengeld immerhin.
Aber nicht bloss das fehlende Geld in der Börse setzte meinem Bummel durch die Carnaby Street einen Dämpfer auf: «Allein durch eine Modestrasse spazieren», stellte ich fest, «ist ziemlich langweilig.« Ich wünschte mir ein Mädchen an meiner Seite, um all die bunten Eindrücke mit ihr teilen zu können. Aber das behielt ich in meiner Kolumne für mich. Und ganz allein war ich bei weitem nicht. Touristen und junge Leute in grosser Zahl und von überallher strömten durch die Carnaby Street. «Wer also schweizerdeutsch hören will», fügte ich bei, «muss nur diese Strasse besuchen.»
Von E wie Essen, das in London damals noch «Glücksache» war und uns an den Abenden jeweils in ein italienisches Restaurant flüchten liess, wechselte ich zum Buchstaben F wie Fluss, empfahl eine Bootsfahrt auf der Londoner Themse, vermerkte bei G wie Geld, dass 1 englisches Pfund zehn Schweizer Franken entspreche – heute wird das Pfund zu 1.22 CHF gehandelt –, und erreichte H wie Hydepark, «eine ausgedehnte Grünfläche inmitten der City, wo man nicht nur ewig spazieren und den englischen Rasen bewundern, sondern auch zusammen mit Hippies und Gammlern kostenlos übernachten kann.»
Dass ich zwei Jahre später, beim Autostoppen quer durch Europa, selber in öffentlichen Parks übernachten würde, ahnte ich nicht voraus. Als 15jähriger blieb ich zu «Hippies und Gammlern» noch auf Distanz und hatte durchaus nichts dagegen, in London in einem Hotelbett zu schlafen.
So rückte ich von Buchstabe zu Buchstabe vor, zeigte mich bei M wie Minirock von dessen Kürze in England so überrascht, dass ich «den Fotoapparat zu spät zückte und das Bild erst noch verwackelte» und liess beim Buchstaben T auch Madame Tussauds Wachsfiguren nicht unerwähnt. Allerdings bemängelte ich, die vier Beatles seien sehr unecht dargestellt worden. Man erkenne sie fast nicht wieder.
Zum Schluss gab ich der Hoffnung Ausdruck, dass «euch meine Tipps einmal helfen können» und fügte mit weltmännischer Geste hinzu: «Aber gebt bitte nicht mir die Schuld, wenn ihr mit der Undergroundbahn statt beim Piccadilly Circus in Chelsea strandet – denn: Englisch müsste man können!»
Man hätte meinen können, dass hier einer, der sich in London auskennt, seine Kenntnisse weitergibt. In Wirklichkeit war ich ein Greenhorn. Doch der Mensch und vor allem die Spezies Teenager neigt dazu, nach aussen ein souveräneres Bild abzugeben als ein Blick nach innen erkennen liesse. Ich wollte zeigen, dass ich mich in der Welt zu bewegen wusste. Die zuständige Redaktorin lobte mich für meine Kolumne. Aber sie muss dabei milde gelächelt haben.
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Ganze Serie «Als ich mich in die Welt verliebte»
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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