Die USA wollen in Südkorea Munition für ihre M777-Haubitze kaufen

Ist dies ein Zeichen für die bevorstehende Niederlage im Krieg in der Ukraine oder der Beginn einer nächsten Eskalationsstufe? Von Christoph Pfluger
Veröffentlicht: 16. Nov 2022 - Zuletzt Aktualisiert: 16. Nov 2022

100’000 Schuss Munition für ihre viel gelobte Haubitze M777 wollen die USA von Südkorea zurückkaufen und sie dann in die Ukraine schicken. Was bedeutet dieses erstaunliche Vorhaben?

Möglichen Antworten auf diese Frage ist vorauszuschicken, dass die Nachricht zuerst vom Wallstreet Journal verbreitet wurde. Im Blatt Rupert Murdochs werden gerne Nachrichten aus ungeklärten Geheimdienstquellen in die Welt gesetzt, als Versuchsballon oder um das Feld der öffentlichen Meinung zu präparieren

Am 10. November zitierte die Zeitung «US officials familiar with the deal», nach denen die USA Südkorea 100’000 Schuss Artilleriemunition für die Ukraine abzukaufen planen.

Südkorea hat sich aber schon früher öffentlich verpflichtet, der Ukraine keine tödlichen Waffen zu liefern. Es könnte durchaus sein, dass mit der Nachricht aus anonymer Quelle getestet wird, wie eine solche Interpretation der Verpflichtung aufgenommen wird. Denn Südkorea weiss genau, wohin die Munition geliefert wird – in die Ukraine, vielleicht nicht einmal mit Umweg über die USA.

Was kann man aus dem Deal ableiten?

Die USA haben offensichtlich selber zu wenig Munition, um aus ihren Beständen 100’000 Schuss in die Ukraine zu schicken.

Die US-Bestände müssen eine kritische Untergrenze erreicht haben, sonst würde man nicht einem möglichen Front-Staat (im drohenden US-Konflikt mit China) Munition abnehmen, die dieser vermutlich in einer dem Risiko angepassten Menge in Reserve hält. Und das Risiko einer fernöstlichen heissen Krise steigt, also müssten auch die Bestände wachsen. Aber nein, die USA haben offenbar so wenig Munition, dass ein befreundeter Staat ins Risiko geschickt wird.

Sind 100’000 Schuss überhaupt viel? Und wie lange kann die Ukraine damit Krieg führen?

Die Ukraine verschiesst nach Angaben von Defense News vom 13. Oktober pro Tag 5000 bis 6000 Schuss Artilleriemunition, Russland einiges mehr. Die Lieferung aus Südkorea reicht also für knapp drei Wochen, jetzt während der Schlammflaute vielleicht etwas länger. Aber sobald der Boden gefriert, gibt es wieder Arbeit für die Kanoniere.

Können die USA nicht einfach mehr Munition produzieren?

Die Jahresproduktion von Munition für die M777 liegt bei 80’000 Schuss, genug für zwei Wochen. Sie liegt weit unter der Realität eines echten Landkrieges. Defense News:

«Schon früh im Krieg wurde deutlich, dass der Verbrauch von Munition, Artillerie und Raketen exponentiell höher war als das, worauf die Ukraine und die Vereinigten Staaten vorbereitet waren.»

Die mit Abstand teuerste Armee der Welt verrechnet sich in ihrer Planung um Grössenordnungen! Das muss man erst einmal in sich sinken lassen.
(Nebenbei bemerkt: Offenbar haben sich die USA auf einen Krieg vorbereitet, der mit der Ukraine nicht einmal einen Bündnispartner betraf.)

Ist die M777 die kriegswendende Wunderwaffe, als die sie dargestellt wurde?

«Big guns are back», schreibt das Magazin «National Defense» in einer Analyse der Lehren aus dem Ukraine-Krieg. Die Artillerie war bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieg die Königsdisziplin der Kriegskunst. Dann übernahm die Luftwaffe, gewissermassen die fliegende Artillerie , mit der die Geschosse über grössere Distanzen an den Feind herangetragen werden konnten. Der Ukraine-Krieg ist gemäss «National Defense» nach einer kurzen anfänglichen Bewegungsphase zu einem Stellungskrieg geworden, «ein Albtraum für die Infanterie, ein Labor für die Kanoniere».

Aber wirklich bewährt haben sich die M777-Haubitzen in diesem «Labor» nicht. Die Verschiebung der über 4 Tonnen schweren Geschütze erfordert den Totaleinsatz von acht Kanonieren und dauert bis zu zehn Minuten. In dieser Zeit können die Haubitzen nach einem abgegebenen Schuss vom Feind geortet, ins Visier genommen und vernichtet werden.

Wieviel Artilleriemunition haben die USA bis jetzt in die Ukraine geliefert?

Im Mai war noch eine Gesamtmenge von 209’000 Schuss vorgesehen. Bis im September traf eine Million in der Ukraine ein, also die Produktion von zwölf Jahren. Wieviele Schuss die USA für eigene Notfälle in Reserve halten, war über die normalen Suchmaschinen nicht zu eruieren. Aber länger als ein paar Wochen dürfte ein solcher Notfall keinesfalls dauern.

Der Munitionsmangel ist bei weitem nicht das einzige Problem der USA

Die Luftwaffe, neben den Flugzeugträgern der Stolz der USA, ist nur zu einem Bruchteil bereit für den Ernstfall («mission capable»). Gemäss einem vor kurzem veröffentlichten Bericht des «General Accounting Office», erreichten nur 4 von 49 untersuchten Flugzeugen «in der Mehrzahl der Jahre von 2011 bis 2021 ihr jährliches Einsatzfähigkeitsziel». Sie erreichten es manchmal, aber meistens nicht.

Wie es im laufenden Jahr um die Einsatzbereitschaft steht, sagt der Bericht nicht. Das wäre schon zu viel verraten.
Bei der bekannten amerikanischen Neigung zur Prahlerei darf man davon ausgehen, dass die gegenwärtige Einsatzbereitschaft genannt würde, wenn sie gut wäre. Sie war sehr schlecht im Durchschnitt er letzten zehn Jahre, und sie ist jetzt höchstens ein bisschen besser – nicht gut genug. (Mehr dazu von Larry Johnson: Larry Johnson: If you think the United States is ready for a conventional war with Russia or China, think again. 12.11.2212)

Konklusion und Fortsetzung

Die 100’000 Schuss Artilleriemunition, mit denen Südkorea sein Wort brechen und seine Verteidigungsbereitschaft schwächen muss, um den USA aus der Patsche zu helfen, verraten also recht viel über den Stand des Krieges zwischen den USA und Russland.

Und sie begründen auch die ultra-zurückhaltenden Signale, mit denen die USA der Ukraine Gespräche mit Russland nahelegen. Im April gab US-Verteidigungsminister Austin mit «Russland schwächen» noch das Kriegsziel vor.

Und jetzt, wo die eigenen Schwächen auch mit bester PR nicht zu verbergen sind, schiebt man die Ukraine vor. Sie soll den Russen sagen, dass das mit «Russland schwächen» doch nicht so gemeint war und den Preis dafür zahlen. Es ist ein unausgesprochenes Eingeständnis der amerikanischen Niederlage.

Die Frage ist, ob Russland die Niederlage der Ukraine akzeptiert. Wahrscheinlich nicht. Denn die Niederlage der Ukraine ist längst Tatsache. Der Krieg wird vor allem von den USA und ihrem Juniorpartner Grossbritannien geführt, mit Bodentruppen/Söldnern aus Polen, Rumänien und anderen Staaten des westlichen Bündnisses.

Wenn der Krieg ein Ende nehmen soll, braucht es Verhandlungen zwischen Russland und den USA – in geschwächter Position. Dann würden die USA aber auch offiziell als Verlierer dastehen, und das darf nicht sein. Es wird also noch weitergehen.

Für eine Fortsetzung sind die USA ohne die erklärte Beteiligung ihrer Bündnispartner allerdings zu schwach – siehe Einkauf in Südkorea. Also wird an einem Bündnisfall gebastelt. Ein erster Versuch dazu wurde bereits gestartet.

Russland führte gestern grössere Angriffe mit Raketen und Drohnen durch. Dabei soll nach westlicher Darstellung auch ein Ziel in Polen getroffen worden sein, zwei Menschen starben. Es gibt Bilder einer S-300 -Rakete und eines Wrackteils davon.

Woher sie stammen, ist ungeklärt. Sie könnten dort hingelegt worden sein, um einen Angriff unter falscher Flagge zu supponieren. Sie könnten von einer ukrainischen S-300 stammen, die ihr Ziel verfehlte und in Polen abstürzte. Sie könnte aber auch tatsächlich eine russische Rakete gewesen sein, die mit provokativer Absicht auf polnisches Gebiet gerichtet wurde. Das ist alles noch ungeklärt (hier Tagesspiegel mit Details).

Die polnische Armee wurde in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Ministerpräsident Morawiecki rief angesichts von Forderungen, den Bündnisfall auszurufen, glücklicherweise zur Besonnenheit auf. Man müsse sich ausschliesslich auf Fakten verlassen. Mittlerweile haben auch die Amerikaner eingeräumt, dass es sich bei der Rakete um eine ukrainische handelt.

Ob sich die Nato zur angekündigten Krisensitzung trifft, ist noch offen. Vorgesehen waren Beratungen zur Aktivierung von Art. 4 des Nordatlantik-Vertrags, der Beratungen vorsieht, «wenn nach Auffassung einer [der Vertragsparteien] die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist».

Von da ist es nicht mehr weit zum Bündnisfall. Er würde die Niederlage der USA hinausschieben, aber ganz Europa in ein Desaster ziehen, vor dessen Ausmass man am liebsten die Augen verschliesst.

Wie die Entscheidung des Bündnisfalls zustande kommt, regelt die Nato-Grundakte nicht.

«Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird», heisst es in Art. 5. Und gemäss Art. 6 gilt als solcher «jeder bewaffnete Angriff… auf auf das Gebiet einer dieser Staaten in Europa oder Nordamerika [oder] auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien …»

Ist eine fehlgeleitete russische Rakete, wenn es denn eine war, ein «Angriff» oder eher ein Versehen? Es gibt da einigen Spielraum, aber keine Regel, wie damit umgegangen wird. Braucht es Konsens oder entscheidet die Mehrheit? Und haben die Parlamente der Nato-Staaten vor einem Kriegsentscheid überhaupt noch etwas zu sagen?

Diese offenen Fragen werden mit der Rakete auf polnischem Gebiet jetzt möglicherweise langsam in die Diskussion kommen. Es würde den verbleibenden Friedenskräften in der Politik gut anstehen, in dieser informellen Diskussion durch klare Aussagen die Themen zu setzen.

Wir werden sehen, aber vielleicht nicht mehr lange zuschauen.


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