Die Gipsindustrie im Südharz vernichtet in einem unglaublichen Ausmaß einzigartige Naturschutzgebiete. Durch den obertägigen Gipsabbau im Landkreis Göttingen/Altkreis Osterode zerstört sie nicht nur großflächig die europaweit einmaligen Karsterscheinungen, sondern löscht damit gleichzeitig die charakteristische Flora und Fauna aus – und zwar unwiederbringlich. Selbst ein vom Bund ausgerufener Biodiversitäts-Hotspot vermag den Raubbau nicht zu stoppen. eine Reportage von Marita Vollborn
Meter um Meter kämpft sich der Wanderer voran. Seine ledergefetteten Boots versinken im Schlamm, mit jedem Schritt pappt mehr Morast an den Sohlen, quillt über die Schnürung und erreicht schließlich den Schaft. Zu spät: Die Socken sind durchfeuchtet, die Hose ist bis zu den Knien verschmutzt. So hätte sich der Mann den Neujahrsausflug ins Naturschutzgebiet Gipskarstlandschaft bei Ührde nicht vorgestellt.
Ausgewiesen als Hotspot der Biodiversität, mit hochgelobten Karstwanderwegen durchzogen, soll es zur schneefreien Zeit einen hervorragenden Blick auf das außergewöhnliche Kleinrelief des Gipskarstes gewähren. Was der Naturfreund aber in Angriff genommen hat, hat mit den Werbetexten des Landkreises nichts zu tun. Schon als er den Laubwald des Langenbergs hinter sich gelassen hatte, wurde er auf die erdverschmierte Trasse aufmerksam, die wie eine tiefe Wunde das offene Gelände zerschneidet: Der vormals lauschige Wanderweg Richtung Blossenberg wurde in eine Schlammwüste verwandelt.
Hier, wo noch im vergangenen Jahr Neuntöter, Zaunkönig und Heckenbraunelle nisteten, türmen sich Berge aus Morast, durchsetzt mit Geäst und Wurzeln all jener säumenden Sträucher, die im Frühjahr breite Streifen blühender Üppigkeit in die per Gesetz geschützte Landschaft gezaubert hatten. Jetzt bietet sich ein Anblick der Verwüstung.
Der Weg wurde drastisch verbreitert, indem alles, was rechts und links wuchs, weit zur Seite geschoben wurde. Entwurzelte, zerfetzte Sträucher, in die Waagerechte gepresste Stämmlinge, versetzt mit Schlamm und Steinen, überwallen nun Wurzelanläufe und benachbarten Bewuchs. Bis in mehrere Meter Tiefe wurde alles, was sich dem Planierschild widersetzte, über die Böschungen geschoben. Auf etwa 500 Meter Weglänge ist nichts mehr so, wie es war. Selbst die Rudimente der beiden Strauchreihen am äußeren Rand sind schwer in Mitleidenschaft gezogen.
Wohl um den Abtransport einzusparen, hat das beauftragte Unternehmen die Schlammmassen über den verbliebenen Weiß- und Schwarzdornen, den Hasel- und Holundersträuchern abgeschüttet. Das über viele Jahrzehnte mit Waldreben verwobene Gesträuch, das vordem unter anderem Zaunkönig und Haselmaus Deckung und Unterschlupf bieten konnte, liegt jetzt zerquetscht übereinander getürmt. Apokalyptisch muss es den bodennah lebenden Tieren vorgekommen sein, als tonnenschwerer Erdmatsch und Kiesbruch über sie hereinprasselte und sie mitsamt den herunterbrechenden Kronenteilen unter sich begrub.
Was wie das unerbittliche Wüten fehlgeleiteter Straßenbauer wirkt, ist der vorläufige Höhepunkt einer langen Kette von behördlich akzeptierten und genehmigten Eingriffen in die Schutzgebiete rund um Osterode. Schon seit Jahren regiert hier der Schlegelmäher, stocken die Viehhalter ihre Bestände an Schafen, Ziegen und Rindern immer weiter auf, werden alte Bäume gekappt und gefällt. Überall zeigen sich die Auswirkungen dieser Naturschutzpolitik, die die Ökonomie vor die Belange der Ökologie stellt und FFH- und Naturschutzgebiete ausverkauft.
Die ungeeigneten Maschinen hinterlassen schwer geschädigte Altbestände an Gehölzen; im Extremfall lassen über viele Quadratmeter zerfetzte Stummel nichts mehr von der einstigen Fülle erahnen. Gleichzeitig bedroht die intensivierte Bewirtschaftung die Biodiversität: Der Verbiss an jahrzehntealten Sträuchern beträgt stellenweise über 80 Prozent, die früher so artenreichen Wiesenraine werden überweidet oder mit Mulchmähern befahren und das ganze Jahr über kurzgehalten; das Schnittgut verfault auf den Flächen. Wo die Nährstoffarmut vordem für Blütenreichtum sorgte, machen sich Brennnesseln und Stumpfblättriger Ampfer breit. Hahnenfuß zeigt die Überweidung an, und Trittflächen an Hängen und an den Ruheplätzen des Viehs bleiben das gesamte Jahr über kahl. Vielerorts in den Naturschutzgebieten dominiert die Farbe Grün die gesamte Vegetationsperiode über: Soweit das Auge reicht gibt es keinerlei Blütenpflanzen mehr – und mit ihnen verschwinden zunächst die Insekten, dann die Vögel.
Diese Politik mag dem Naturfreund fragwürdig erscheinen, folgt aber einer Logik, die in erster Linie den Interessen der ortsansässigen Gipsindustrie geschuldet ist. Denn im Südharz lagern beachtliche Mengen an Gips und Anhydrit, die erhebliche Begehrlichkeiten wecken. 21 Steinbrüche gibt es inzwischen in der Umgebung, drei weitere sollen hinzukommen. Hier, am Blossenberg, stand schon 2003 fest: Nach dem Abbau der Kreuzstiege sollte das nächste über sieben Hektar große Leck in die einmalige Landschaft geschlagen werden, sollten die alten Eichen abgeholzt, die traumhaften Buckelwiesen bis nach Beierfelde hinunter plattgemacht und der bekannte „Feldherrenhügel“ abgetragen werden. Die NaturFreunde Niedersachsen hatten damals beim Gewerbeaufsichtsamt Göttingen Akteneinsicht verlangt und festgestellt, dass die Firma Rigips GmbH Bodenwerder vehement Vorschriften missachtet und sich die Behörde nicht daran gestört hatte.
Weder hatte sie – wie vorgeschrieben gewesen wäre - eine vollständige Umweltverträglichkeitsprüfung verlangt noch eine FFH-Verträglichkeitsstudie. Rigips verstieß damit klar gegen die Naturschutzgesetze. Darüber hinaus hatte die Firma das Vorkommen einer Population geschützter Kammmolche verschwiegen und später behauptet, der Hang fiele nicht trocken, selbst wenn er abgetragen würde. Als „Schutzmaßnahme“ verkaufte sie die Ankündigung, regelmäßige Wasserstandskontrollen durchführen zu wollen – selbstverständlich nach dem Abtrag, also wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen und der Lebensraum verloren war.
Jetzt, mehr als 18 Jahre nach diesen Auseinandersetzungen, scheinen Behörden und Firmen Nägel mit Köpfen zu machen. Statt die blühenden Wegsäume vor der Zerstörung durch zu häufige Mahd, dauernde Beweidung und mehrfaches Mulchmähen zu schützen, statt die Wiesen dank eines nachhaltigen Mähkonzeptes als Refugium für Insekten, selten gewordene Pflanzen und Vögel zu erhalten und die Altbestände an Bäumen und Sträuchern auszuzäunen, damit sie nicht Opfer von Verbiss werden, werden Fakten geschaffen. Denn wo die Natur ärmer wird, kann niemand mehr monieren, dass die Gipsindustrie wertvolle Habitate zerstört. Und so folgt nun Erstschlag, der selbst Laien ins Auge springen musste: Einer der bekanntesten Wanderwege durch den östlichen Teil des NSG Gipskarstlandschaft bei Ührde wird derart erbarmungslos verwüstet, dass eine weitere Barbarei in nächster Nähe nur logisch erscheint. Der Plan liegt auf der Hand: der Gipsindustrie zu weiteren Steinbrüchen zu verhelfen. Dieser Prämisse folgt das Niedersächsische Wirtschaftsministerium seit Jahrzehnten, und die Lokalpolitik repetiert eifrig und wortgleich dessen Argumentation.
Das Schicksal des Südharzer Naturkleinods scheint besiegelt, seit das Land Niedersachsen 1998 im Regionalen Raumordnungsprogramm des Landkreises Osterode die Vorranggebiete für die Gipsgewinnung festgelegt hat. Bis dahin suchte dieser Vorgang seinesgleichen, denn noch nie zuvor hatte ein Ministerium mittels eines Landesraumordnungsprogramms diktiert, wie die Entflechtung von Rohstoffabbau und Naturschutz auszusehen habe. Statt der üblichen Karte im Maßstab 1:500.000 setzte es dem Landkreis eine Karte im Maßstab 1:50.000 vor und markierte all jene Gebiete, die dem Gipsabbau anzueignen waren: neben dem Blossenberg bei Ührde die Kreuzstiege und die Hopfenkuhle, der Lichtenstein Forstabteilung 5, 6 und 8 sowie der Röseberg bei Walkenried. Jener Entwurf zur Änderung des Raumordnungsprogramms wurde ohne die per Gesetz vorgeschriebene Durchführung einer FFH-Verträglichkeitsprüfung aufgestellt. Zwar war er damit rechtswidrig, doch offensichtlich schien das keinerlei Belang zu haben.
Vom Landkreis beauftragt, von Steuerzahlern bezahlt: maschinelle Vernichtung von Lebensraum in gesetzlich geschützten Gebieten. “Entsorgung“ gespart: Tonnen an Schlamm auf lebende Hecken gekippt
Schon seit vielen Jahren kämpfen die Naturschutzverbände gegen den Raubbau an. In den 1980er Jahren forderten sie die Ausgliederung des Lichtensteins, bissen bei der Landesregierung aber auf Granit. Für das Gebiet bestehe „keine akute Gefährdung“ hieß es in der „Weißen Mappe“ 1986. Die „Weiße Mappe“ enthält seit 1977 die Stellungnahme der Niedersächsischen Landesregierung zur sogenannten „Roten Mappe“, die seit 1960 vom Niedersächsischen Heimatbund e.V. (NHB), dem Dachverband der niedersächsischen Heimat-, Orts- und Bürgervereine herausgegeben wird und den Bürgern ein Instrument an die Hand gibt, Kritik unter anderem am Naturschutz und der Landschaftspflege zu üben.
Entgegen der Behauptung der damaligen Landesregierung, es bestünde keine Gefahr für den Lichtenstein, beschenkte sie die Gipsindustrie mit der Ausweisung weiterer wertvoller Waldstücke am Lichtenstein als Vorranggebiete für die Rohstoffversorgung. Dank der Unterstützung der Naturschützer durch Bewohner des Landkreises Osterode im Wahlkampfjahr 1993 gliederte die Landesregierung die geplanten Abbaufelder 4 und 5 am Lichtenstein aus. Dass es nicht gelang, auch die Abbaufelder 1 bis 3 auszulösen, wiegt aus Naturschutzsicht schwer: 100 Prozent dieser Fläche umfassten den größten und schönsten Schluchtwald im niedersächsischen Gipskarst.
Auch die große Hoffnung, Ende der 1990er Jahre mit Hilfe „Runder Tische“ die Kahlschlagpolitik der niedersächsischen Landesregierung zu beenden, wurde enttäuscht. Weder setzte sie sich dafür ein, dass die Industrie auf Ersatz- statt Naturgipse zurückgreift, noch dafür, irgendeines der gefährdeten Gebiete zu erhalten. Das Gegenteil war der Fall. Bei der Ausweisung der niedersächsischen Flora-Fauna-Habitat (FFH)-Gebiete setzte sie den Gipskarst erst nach Androhung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Europäische Union verspätet auf die Meldeliste. Ein raffinierter Schachzug, denn bis dahin hatte das Umweltministerium dafür gesorgt, dass die Pfründe für die Gipsindustrie gesichert waren: Es hatte sämtliche angedachten Abbaugebiete aus dem ursprünglichen FFH-Gebietsvorschlag gestrichen – neben der Kreuzstiege und dem Röseberg Ost auch den Blossenberg bei Ührde.
Politik und Behördenvertreter werden nicht müde, die überaus große arbeitsmarktpolitische Bedeutung des Gipsabbaus zu betonen. Nach Angaben des niedersächsischen Wirtschaftsministeriums umfasste die gesamte niedersächsische Gipsindustrie 2014 insgesamt elf Unternehmen, die pro Jahr zwischen 1,3 und 1,5 Millionen Tonnen Gips- und Anhydritstein verarbeiten und rund 750 Mitarbeiter beschäftigen. Bei einem Umsatz von 2,4 Milliarden Euro (Stand 2015) zahlt die Gipsindustrie etwa 1,1 Millionen Euro Gewerbesteuer, die sich auf die drei Länder Sachsen-Anhalt (Rottleberode/Südharz), Niedersachsen (Walkenried) und Thüringen (Ellrich) verteilt. Bei genauerer Betrachtung relativiert sich allerdings das Argument der Arbeitsplatzsicherung. Zwar weist die Statistik für die Region von den rund 10.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Bereich des produzierenden Gewerbes nicht separat aus, wer für Knauf & Co arbeitet. Doch die Zahl der direkt in der Gipsindustrie Beschäftigten liegt bedeutend niedriger. Allein der Gesteinsabbau an sich bringt kaum Arbeitsplätze – in den Steinbrüchen genügt ein Trupp aus wenigen Dutzend Männern. Insgesamt gesehen beläuft sich die Anzahl der Menschen, die im Raum Osterode bei der Gipsindustrie in Lohn und Brot stehen, wohl nicht weit über 140 (Stand 2004).
Vergleicht man den Stellenabbau, den das mit der Landesregierung verbandelte Unternehmen VW infolge seiner kriminellen Abgas-Manipulationen angekündigt hat, nämlich 30.000, erscheint die Zahl marginal. Durchaus verständlich, warum konkrete Angaben ungern kommuniziert werden. Um kritischen Stimmen den Wind aus den Segeln zu nehmen und die Osteroder Bevölkerung auf Kurs zu bringen, geben Unternehmens- und Behördenvertreter daher gerne schwer fassbare Begriffe wie den „korrelierenden Beschäftigungsanteil“ von 1.400 Arbeitsplätzen an, bleiben aber genauere Angaben des Wo und Als-Was schuldig. Dagegen lesen sich die Zahlen für all jene Bereiche, die nichts mit dem Gipsabbau zu tun haben und die diese Region tatsächlich stützen, deutlich eindrucksvoller: für das verarbeitende Gewerbe rund 9.000, das Dienstleistungsgewerbe etwa 8.000 und für den Bereich Handel, Gastgewerbe, Verkehr und Nachrichten circa 5.500 Arbeitskräfte.
Wo das Totschlagargument der Arbeitsplätze nicht so weit trägt, wie es sollte, wird Naturgips als essentieller und durch nichts zu ersetzender Rohstoff propagiert. Gerne wird dabei verschwiegen, dass es bereits seit Jahrzehnten Alternativen gibt, nämlich Gips aus der Rauchgasentschwefelung, sogenannte REA-Gipse, und Industriegips, der beispielsweise in der Lebensmittelindustrie bei der Herstellung von Zitronensäure anfällt. Ein vollständiger Ersatz ist schon lange möglich. Damit sind nicht nur Baugipse, wie sie in Gipskartonplatten, Estrichen oder Putzen Verwendung finden, komplett ersetzbar, sondern auch die wegen ihres Weißgrades qualitativ höherwertigen Stuck- oder Modellgipse und sogar die Dental- und Medizinalgipse, die höchsten Reinheitsanforderungen genügen müssen. Die Behauptung der Gipsindustrie, jedes Werk benötigte „seinen“ Tagebau, ist somit weder aus technischer Sicht noch aus Gründen der Rohstoffversorgung zu rechtfertigen. Das allerdings hindert die Branche nicht, nach immer mehr Flächen zu greifen – und die Politik nicht, ihnen diese auch zuzugestehen.
Im Altkreis Osterode sind inzwischen deutlich mehr als die Hälfte des insgesamt 770 Hektar umfassenden Gipskarstgebietes zum Abbau freigegeben – und ein Ende ist nicht in Sicht. Erst 2014 hatte die zu Knauf gehörende Rump & Salzmann angekündigt, auf der östlich von Ührde gelegenen 36 Hektar umfassenden Fläche am Härkenstein den Steinbruch erweitern und schürfen zu wollen. Das Crux: Das Gebiet gehört (wie die anderen Gipskarstlandstriche auch) zum Biodiversitäts-Hotspot 18, zu dem die Fachleute des Bundesamtes für Naturschutz unter anderem den gesamten Südharzer Zechsteingürtel zählen. Seltene Tiere und Pflanzen haben hier eine Heimat gefunden. Allein 48 Vogelarten, darunter 33 Brutvogelarten, finden Nahrung und Unterschlupf. Fünf dieser Arten stehen auf der Roten Liste Niedersachsens, zwei auf der Roten Liste Deutschlands. Doch das zählt nicht viel im Kalkül der Gipsindustrie, auch wenn die Worte des Betriebsleiters Uwe Schridde, „den Vögeln doch nichts wegnehmen zu wollen“, wie ihn der HarzKurier im Januar 2014 zitierte, das Ansinnen der Firma in ein anderes Licht zu rücken versuchten. Überhaupt setzen die gipsverarbeitenden und -abbauenden Firmen alles daran, in der Öffentlichkeit ihr schlechtes Image mit markigen Behauptungen aufzupolieren und lassen sich in regionalen Blättern als nachhaltige und naturschonende Industrie feiern, die ihre Abbaufelder stets sorgfältig rekultivierten und als Biotope an die Natur zurückgäben (http://www.nnz-online.de/news/news_lang.php?ArtNr=185570).
Fakt ist indes, dass die Gipsindustrie im Südharz in einem unglaublichen Ausmaß einzigartige Natur vernichtet. Durch den obertägigen Gipsabbau zerstört sie nicht nur großflächig die europaweit einmaligen Karsterscheinungen, sondern löscht damit gleichzeitig die charakteristische Flora und Fauna aus – und zwar unwiederbringlich. Über 50 Prozent dieser unersetzlichen Landschaft hat sie bereits ausgemerzt. Gleichzeitig verlieren die Tier- und Pflanzenpopulationen ihre Habitate, was in einem absehbaren Zeitraum zu einem Rückgang und schließlich zum Aussterben der geschützten und gefährdeten Arten führt. Zu Zeiten des fortschreitenden Klimawandels, in dem jede noch so kleine ökologische Nische über Wohl und Wehe der Biodiversität entscheidet, eine Katastrophe. Längst fordern die Gipsunternehmen den Abbau in ausgewiesenen Schutzgebieten, die ohnehin bislang weniger als ein Drittel der Gipsgebiete Niedersachsens schützen – und die Politiker geben sich zugänglich. Nur allzu schnell kolportieren sie die Behauptung, dergleichen abbautechnische Eingriffe wären ökologisch ausgleichbar. Beispielsweise stellen sie die Renaturierung von Steinbrüchen als gangbaren Weg dar. Dabei ignorieren sie wohlweislich, dass solche menschengemachten Sekundärbiotope den originalen Gipskarst mitnichten ersetzen können. Eine umfassende Renaturierung vollzieht sich in Jahrhunderten und ist trotz allem nicht mit dem Ursprungszustand zu vergleichen: die geomorphologische Struktur bleibt durch den Abtrag auf immer verloren.
Der im Raum Osterode überaus aktive „Förderverein Deutsches Gipsmuseum und Karstwanderweg e.V.“ ist indes ein eifriger Befürworter solcher von der Gipsindustrie und der Lokalpolitik präferierten Renaturierungen und sonstigen Nachnutzungen von Steinbrüchen. So vertritt der Betriebsleiter von Rump & Salzmann, Uwe Schridde, den Verein in der Öffentlichkeit als dessen Erster Vorsitzender. Besonders befremdlich: Der eigentlich mit der Ausschilderung und Ausrüstung mit Bänken, mit der Instandhaltung und Instandsetzung des 250 Kilometer langen Karstwanderweges beschäftigte Verein wurde im November 2017 mit einer hohen Fördersumme bedacht. Der Kreistag in Göttingen hatte einstimmig beschlossen, den Verein in den kommenden fünf Jahren mit 10.000 Euro pro Jahr zu unterstützen. In der Begründung hieß es, der Verein habe sich zum Ziel gemacht, „die Gipskarstlandschaft des Südharzes einem breiten Publikum auf vielfältige Weise vorzustellen“. (Göttinger Tageblatt: http://www.goettinger-tageblatt.de/Goettingen/Kreis-Goettingen-foerdert…) Dass der Förderverein sich eben nicht - wie es die Umwelt- und Naturschutzverbände tun - für den Schutz der von der Gipsindustrie ins Auge gefassten einzigartigen Karstflächen einsetzt, sondern vielmehr die Folgen der schweren Eingriffe im Nachhinein zu relativieren versucht, kann die Moral der mit öffentlichen Mitteln finanzierten Zuwendung durchaus in Frage stellen.
Auffällig auch, dass gerade die führenden Köpfe der Lokalpolitik alles daran zu setzen scheinen, die Gipsindustrie in möglichst moderatem Licht erscheinen zu lassen. Das verwundert nicht weiter, denn die Beziehungen zwischen Gipsindustrie und öffentlicher Verwaltung sind gewachsen, die Verzahnung ist eng und das gegenseitige Verständnis groß. Schon Oberkreisdirektor Karl-Friedrich Böttcher der Kreisverwaltung Osterode kannte seinerzeit keinerlei Kompromisse. „Zwei Drittel der Landschaft für den Abbau, ein Drittel für den Naturschutz“ lautete seine Devise. Wie die NaturFreunde Niedersachsen auf ihrer Internetseite berichten, war er es auch, der die Untere Naturschutzbehörde des Landkreises Osterode quasi über Nacht auflöste, nachdem der sich für den Schutz der landschaftlichen Kostbarkeiten einsetzende Amtsleiter zuvor „unter fadenscheinigen Argumenten“ entlassen worden war.
Heute wird das heiße Eisen Gipskarstlandschaft kaum angefasst. Entweder, das Thema wird tunlichst gemieden, wie es der Osteroder Bürgermeister Klaus Becker beispielsweise in seiner Neujahrsansprache 2017 tat. Die landschaftliche Kostbarkeit, praktisch ein Geschenk des Himmels vor der eigenen Haustür und durchaus geeignet, als Aushängeschild seines strukturarmen Heimatortes zu taugen, erwähnte er jedenfalls mit keiner Silbe.
Stattdessen durfte Uwe Schridde ein halbes Jahr später in seiner Doppelfunktion als Betriebsleiter bei Rump & Salzmann und Erster Vorsitzender des industrienahen Karstwanderweg-Vereins bei einem gemeinsamen Stadtrundgang den Delegierten aus der polnischen Partnerstadt Ostróda erörtern, wie sein Unternehmen die vorgeschriebenen Maßnahmen zum Schutz der Natur praktisch übererfülle, berichtete das Lokalblatt Eseltreiber (https://www.eseltreiber.de/gehe/produkte/nutzen.php?pg=abo&id=1572). Als der Förderverein im November 2017 zum 50. Jahrestag des Naturschutzgebietes Hainholz lud, wagte auf der Veranstaltung niemand davon zu sprechen, dass reines Privatinteresse den Exodus der europaweit einmaligen Biotope im Gipskarst verursacht, und dass die staatlichen Organe, deren Aufgabe per Gesetz die Bewahrung gesamtgesellschaftlicher Schätze ist, versagt haben. Kompromisslösungen ist alles, was auf der Haben-Seite der Volksvertreter sieht – und die sind teuer erkauft.
Das Wenige, das als Kompromisslösung aus den auch rechtlich umstrittenen Abbaugenehmigungen herausgelöst worden ist, zahlt nämlich die Allgemeinheit. 1981 beispielsweise hatte sich das Land Niedersachsen in einem Vergleichsvertrag mit der Firma Rigibs zu einer Zahlung von sechs Millionen DM verpflichtet, um die von der Gipsindustrie vorangetriebenen Rechtsstreitigkeiten endlich beilegen zu können. Außerdem sollte das Geld dazu dienen, es der Firma zu erleichtern, von der bisherigen Verarbeitung von Zechsteingips auf die Verarbeitung von Muschelkalkgips (wie er in großen Mengen in Niedersachsen vorkommt) umstellen zu können – was praktisch einer Subventionierung durch die öffentliche Hand gleichkommt. Der Preis für den Naturschutz – und damit für die in diesem Gebiet angesiedelte besonders geschützte Flora und Fauna – war hoch: Um das Hainholz zu retten, wurden die Gebiete Lichtenstein, Kreuzstiege und Blossenberg geopfert.
Die Firma Knauf hält es nicht besser. 2004 beantragte sie eine Änderung der Renaturierung des bestehenden Steinbruchs an der B 241. Außerdem erhob die Tochter Rump & Salzmann Anspruch auf weitere 15 Hektar Abbaugebiet „Am kleinen Pfingstanger“ oberhalb des Osteroder Stadtdorfes Ührde. Die Naturschutzverbände versuchten zwar, durch einen Flächentausch die überaus wertvollen Wiesengebiete der Hopfenkuhle oberhalb des Wildschweingeheges aus der seit den 1970er Jahren bestehenden Abbaugenehmigung auszulösen, scheiterten aber: Ausgerechnet dort steht der Gips besonders mächtig an, ein Verzicht kam für Knauf nicht in Betracht.
Nicht ein einziger der massiven Eingriffe ist ökologisch ausgleichbar – auch wenn Bürgermeister, Landrat, Kreisrätin, Naturschutzbehörde und die Industrievertreter etwas anderes glauben machen wollten. Unwiederbringlich sind die Naturschätze des Gipskarstes verloren, sobald der Flächenabtrag seinen Anfang genommen hat. Und der beginnt, wie das Beispiel Blossenberg belegt, Schritt für Schritt. Zunächst wird übernutzt, dann leitet ein rücksichtsloser Wegebau die Zerstörung ein. Der Wanderer jedenfalls wird sich nie wieder an den knorrigen Stämmen der uralten Weißdorne und der prachtvollen Blüten der hundert Schwarzdorne rechts und links des Weges Richtung Feldherrenhügel erfreuen können. Nicht mehr lange, und er wird durch Bauzäune beobachten können, wohin es führt, wenn wider besseren Wissens eine europaweit einmalige Naturlandschaft der rücksichtslosen Renditegier von Unternehmen geopfert wird.
Marita Vollborn war Vorsitzende der BUND-Ortsgruppe Osterode. Sie arbeitet seit über 28 Jahren als investigative Wissenschaftsjournalistin und Publizistin, ihre Radiobeiträge und Artikel erschienen bislang u.a. bei Deutschlandradio Kultur, Spiegel Online, Focus Magazin, Frankfurter Rundschau. Sie ist Autorin mehrerer Sachbücher, darunter der Bestseller "Die Joghurt Lüge" und "Food Mafia" (Campus Verlag).
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