Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen
In Teil 3 der Reihe geht es um Moral, ums Moralisieren der Privilegierten und den ökonomischen Aspekt der Menschenrechte. Letzter von drei Teilen.
Der erste Teil der Serie erschien am Samstag und kann hier gelesen werden.
Der zweite Teil erschien am Dienstag und kann hier gelesen werden.
Im Tagblatt habe ich vor Jahren gelesen, die Stadt Zürich beherberge Menschen aus 157 Nationen. Direkt damit verbunden die Gretchenfrage: Soll die Schweiz sich nun künftig struktur- und regelblind in die inneren Angelegenheiten dieser Länder in aller Welt einmischen?
Eine Hybris, welche die Neutralitätsinitiative untersagt: Die Schweiz trägt Sanktionen mit, aber nur wenn diese von der UNO formell beschlossen wurden.
Zweitens ist es nicht nur unklug, sondern kontraproduktiv, wenn sich wirtschaftsmächtigere Staaten in die Innenpolitik von ärmeren Staaten einmischen: Derartige Einmischungen sind weder demokratisch noch zielführend, weil unsachgemäss.
Sicher: In vielen armen Ländern sind, genauso wie bei uns in der Schweiz, künftig Systemveränderungen nötig. Aber die Bevölkerung der betreffenden Staaten hat sich für Veränderungen zu entscheiden, die eigenständig aufgegleist und über die demokratisch entschieden wird. Derzeit ein Kampf, bei dem die dortigen Ober- und Mittelschichten oft in der Minderheit sind. Das gilt nicht nur für den Iran, aus dem sich die Oberschichten und viele Gebildete in den Westen abgesetzt haben – in die USA, nach Österreich, in die Schweiz. Es gilt prinzipiell, nämlich überall in den Staaten und für die Bevölkerungen, die in der ungleichen Weltwirtschaft am unteren Ende platziert sind oder an den Rand geraten sind.
Was die Einmischung von aussen und oben bringt, sei hier am Beispiel von Ägypten illustriert:
Denn was der liberale Westen 2011 als arabischen Frühling bezeichnet und aktiv unterstützt hatte, war zum Scheitern verurteilt. Von jugendlichen Netz-AktivistInnen lanciert, von den städtischen Mittelschichten beflügelt und von George Soros’ «Open Society Foundations»(10) unterstützt, wurde Mubarak zwar gestürzt – zweifellos ein Despot! Er hatte das Militär zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor ausgebaut, so dass andere Wirtschaftsagenten kaum Geschäfte führen oder gründen konnten. Auch demokratische Verfahren waren unmöglich.
Vorauszusehen aber war, was bei demokratischen Wahlen passieren würde. Denn für die Bevölkerungsmehrheit, vorab für die vielen Armen in den Städten und auf dem Land, gab es keine staatlich organisierte Umverteilungs- und Solidarinstitutionen. Der überfamiliäre Ausgleich wurde seit Dekaden von den Moscheen und den Muslimbrüdern auf der Basis von religiösen Regeln organisiert – etwas, das der Westen und Kairos liberal orientierten Wohlstandskinder übersehen hatten, ja verabscheuten und bekämpften:
System- und strukturblind dafür, dass in einem Staat, in dem die formelle Erwerbsarbeit einer Minderheit vorbehalten ist, modernistische bzw. individualistische Werte aus strukturellen Gründen nicht oder nur selten demokratisch durchgesetzt werden können.
Besonders peinlich für den Westen: Als General Abdel Fattah al-Sisi den demokratisch gewählten Präsident Mursi stürzte, herrschte weit herum Erleichterung. Und als der Präsident, der sich an die Macht geputscht hatte, dann Hunderte Islamisten ermorden liess, den demokratisch gewählten Mursi samt seinen Regierungsmitgliedern ins Gefängnis steckte und ohne ausreichend rechtliche Grundlagen zahlreiche Todesurteile vollstrecken liess, schauten alle weg! Alle, die sich angeblich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte engagieren.
Und die Schweiz? Sie macht bei dieser Drückebergerpolitik regelmässig mit – zu gewichtig ihre wirtschaftlichen Interessen; zu blind für die Schatten der liberalen Weltwirtschaft.
Wer nota bene ausreichend systembewusst ist, der weiss, dass die westlichen Hilfsprogramme in Afghanistan oder Haiti die dortigen Armutsprobleme in keiner Weise lösen, weil sie nicht sachgerecht sind. Im Gegenteil: Sie führen zu potemkinschen Staaten, fördern die «Vertikale Integration»(11) und führen langfristig in die wirtschaftliche, soziale und politische Katastrophe.
Wie erwähnt: Die liberale Optik fokussiert die Individuen und blendet aus, dass individuelle Freiheiten und Rechte wirtschaftliche Kapazitäten voraussetzen, die in armen Staaten fehlen.
Die Welt lässt sich nicht von aussen und von oben integrieren! Es sei denn auf der Basis von extremen Ungleichgewichten und, direkt damit verbunden, einem ungeheuerlichen Totalitarismus.
Besonnene Neutralität verzichtet darauf, system- und strukturblind zu moralisieren!
Derzeit mehren sich die Stimmen, die sich unbedarft aus dem wirtschaftlichen und juristischen Hochoben der westlichen Wohlfahrtsstaaten in die internen Belange und Auseinandersetzungen in aller Welt einmischen.
Auch die offizielle Schweiz läuft Gefahr, gegenüber Staaten in Afrika und Asien diesen arroganten Kurs einzuschlagen und system- und strukturblind auf die arme und oft noch traditionale Restwelt hinunter zu moralisieren. Besonnene Alt- und NeuschweizerInnen warnen davor, das Hohelied von Menschenrechten und westlichen Werten zu singen, ohne die wirtschaftlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für den westlichen Rechtsstandard zu bedenken. Wir sind mit Widersprüchen und Ambivalenzen konfrontiert: Ambiguitätstoleranz ist erforderlich.
Was folgt, ist kein Plädoyer gegen die Menschenrechte! Ich plädiere dafür, genauer hinzusehen.
Bereits 1948, als der Menschenrechtskatalog erarbeitet wurde, wiesen die Vertretungen der sechs sozialistischen Staaten darauf hin, dass manche Menschenrechte an wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden sind. Sie forderten deshalb ein Menschenrecht auf wirtschaftliche Teilhabe – ein Recht, das vom damals machtmässig weit überlegenen Westen abgeblockt wurde. Deshalb haben sich die sozialistischen Staaten in der Schlussabstimmung dann der Stimme enthalten.
Wie unsachgemäss und arrogant das system- und strukturblinde Moralisieren aus dem weltwirtschaftlichen Hochoben ist, sei zum Schluss an der Geschlechtergleichstellung und an der One-Love-Kampagne illustriert.
Zuerst zur Gleichstellung von Mann und Frau: Nota bene ein wichtiges Ziel, um soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen. Was der Westen aber beharrlich ignoriert, sind die Voraussetzungen finanzieller, energetisch technologischer, medizinischer und institutioneller Art, die es für diese Gleichstellung braucht.
(Im Bild knapp und gewitzt zusammengefasst.)
Konkret: Was hat mich denn als Frau befreit?
Fliessendes Wasser und Elektrizität, die Waschmaschine, der Staubsauger, der Geschirrspülautomat etc., Binden, Tampons und die Pille sowie eine gute Bildung und Ausbildung. Dazu kommt eine ausreichende Zahl von Erwerbsarbeitsplätzen, für die keine Spitzenmuskelkraft erforderlich ist. Dann die Kindergärten und Schulen, all die Krippen und Horte, in denen unsere Kinder versorgt werden. Ebenso teuer: Der aufwändige Rechtsapparat, der inzwischen in der Schweiz sowohl im öffentlichen Raum als auch in der Familie, sogar bis ins Ehebett für Ordnung sorgt – alles Errungenschaften, die im armen Teil der Welt für den Grossteil der Frauen aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu haben sind.
Als zweites Beispiel die One-Love-Kampagne:
Sie hat in Qatar einen neuen Höhepunkt erreicht: eine Kampagne, die von einer Bewegung getragen wird, die sich seit drei Dekaden lauthals – wie an der Züricher Street-Parade – und publikumswirksam – wie die deutsche Innenministerin im Bild – in Szene setzt und das dank der neuen Medien immer effektiver kann. Als die Fussballer aufgefordert wurden, eine One-Love-Armbinde zu tragen, hat die Fifa diese öffentliche Inszenierung westlicher Werte jedoch gestoppt und damit »on the spot” für eine Quasi-Ordnung gesorgt.
Weit wichtiger: Die ganze Kampagne ist, obwohl ich persönlich die Anliegen der LGBTQ-Community durchaus verstehe und ernst nehme, erschreckend system- und strukturblind! Wir haben es erneut mit Moralisieren zu tun, statt mit einer Moral, die ihre Voraussetzungen beachtet und sich auf ihre Rahmenbedingungen besinnt.
Die LGBTQueers fragen nämlich nie, was das alles kostet:
• künstliche Befruchtung & Besamung
• Leihmutterschaft
• Geschlechtsumwandlung etc.
Auch nicht wie und von wem ihre Any-thing-goes-Wünsche(12) finanziert werden sollen. Stattdessen wird unethisch – weil weder auf dem Kontext noch auf die verfügbaren Ressourcen bezogen – ignoriert, dass im Jahr 2021 4.1 Milliarden Menschen ohne monetär abgesicherte Solidarnetze überleben mussten (13).
Konkret heisst das: Für die Hälfte der Menschheit sind die eigenen Kinder die Altersversicherung! Es sei denn, die Kirchen, die Moscheen, die Tempel springen ein.
Deshalb ist in armen Staaten aus höchst rationalen Gründen die Homosexualität oft verpönt oder wird u. U. sogar bestraft. Nota bene sind die nicht-monetär abgesicherten Solidarinstitutionen auch ein gewichtiger Grund dafür, dass im arme Teil der Welt vielerorts an verbindlichen Verwandtschafts-, Generationen-, Geschlechtsrollen festgehalten wird.
Richtig: Es sind Ordnungsvorstellungen, die den Menschenrechten widersprechen bzw. mit den Erwartungen der LGBTQ-Community und von vielen Feministinnen unvereinbar sind!
Doch wenn wir genauer hinsehen, sind die Gründe dafür wirtschaftlicher Art: Sie haben zu tun mit den weltweiten Ungleichgewichten und dem hoch ungleichen Zugriff auf die Ressourcen – bei den einen ist er global, bei den anderen lokal, wobei er für die Letzteren sogar im Nahraum schwindet. Dabei mangelt es an den weltwirtschaftlichen Rändern nicht nur an Kapital und der energetisch-technologischen Ausrüstung, sondern aufgrund der geringen Zahl an formellen Erwerbsarbeitsplätzen fehlen auch überfamiliale Ausgleichs- und Solidarinstitutionen.
Besonnene NeuschweizerInnen aus armen Ländern messen die Zustände in ihrer alten Heimat deshalb nicht am Schweizer Lebensstandard. Auch nicht am hiesigen De-Luxe-Rechtskonsum. Sie kennen die Ursachen der Armut in ihrem Herkunftsland und sind mit den Gründen für deren «menschenrechtliche Besonderheiten» vertraut.
Denn genauso wie die Besonnenen unter den AltschweizerInnen wissen sie, dass jedes Recht an wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden ist, wenn es denn verlässlich und konstruktiv zum Tragen kommen soll. Und beide, besonnene Alt- und NeuschweizerInnen, sind sich bewusst, dass die anstössigen und problematischen Ungleichgewichte sich im Rahmen des westlichen Weltwirtschaftens herausgebildet haben: Wer einst über mehr Kapital und den effizienteren energetisch-technologischen Machtapparat verfügte, der konnte früher die Welt kolonisieren. Und er kann sie bis heute beherrschen.
Nur passiert das seit der Entkolonialisierung über den Freihandel und seit den 70er Jahren noch effektiver im Rahmen der vier neoliberalen Freiheiten. Das sind die Grundlagen nicht nur für das Blocher’sche Wirtschaftsimperium, sondern für alle Schweizer Konzerne, die im Ausland erfolgreich sind und selbstverständlich auch für unseren Wohlfahrtsstaat.
Es hat aber nicht nur mit firmenspezifischen, sondern auch mit nationalen Interessen zu tun: mit dem energetisch-technologischen, finanziellen und juristischen Machtapparat, der unserem Land für den Zugriff auf die Ressourcen zur Verfügung steht, so dass wir von drei Planeten leben können
Und wer noch genauer hinsieht, wird irritiert oder sogar erschreckt feststellen, dass - damals wie heute – das mit dem Machtapparat assoziierte Machtgefälle und die damit verbundenen Zumutungen in Namen einer angeblich höherer Kultur, einer besseren Moral bzw. von zivilisatorischen westlichen Werten legitimiert werden.
Fazit und Ausblick
Karl Marx hat einmal gesagt: Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal: Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Kolonialisierung, Sklaverei, Ausbeutung – die einstige Tragödie.
Die heutige Farce? Das system- und strukturblinde Moralisieren, wie es derzeit von Woke-Linken und zahlreichen westlichen StaatschefInnen und AmtsträgerInnen betrieben wird: ein Wertegeschwurbel, das die realen Interessen verdeckt. Wer effektiv sensibel ist, der wird feststellen, dass dieses Gerede sowohl die Gemeinschaften und Gesellschaften als auch die Mehrheit der Frauen und Männer an den weltwirtschaftlichen Rändern abwertet und immer tiefer in Not und Bedrängnis bringt.
Wer noch genauer hinsieht, wird zudem erkennen, dass sogar jene Menschen in den USA, die von Hillary Cliton als die «Deplorables» bezeichnet wurden, ebenfalls mit im Boot dieser Aussätzigen sitzen.
Veränderungen sind dringend nötig! Bei uns in der Schweiz und selbstverständlich auch in der armen Welt. Was es für diese Veränderungen sicher nicht braucht, sind Kriege. Auch kein system- und strukturblindes Moralisieren – erst recht nicht im Namen der Menschenrechte!
Was es hingegen für die nötigen Veränderungen und für universelle Menschenrechte dringend braucht, sind neue Weltwirtschaftsregeln: Regeln, die einen Ausgleich zwischen arm und reich ermöglichen und die es ermöglichen, dass weltweit an der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit gearbeitet werden kann. Dafür legen besonnene Alt- und NeuschweizerInnen ihre Hand ins Feuer.
Deshalb gilt: Lassen wir in der demokratischen Schweiz das Lagerdenken und die Schwarz-Weiss-Malerei hinter uns. Stehen wir ein für die Neutralitätsinitiative. Sie öffnet der Schweiz das Tor zu jener informierten und weltoffenen Besonnenheit, von der letztlich, da bin ich mir schier sicher, nicht nur besonnene Alt- und NeuschweizerInnen, sondern auch system- und strukturblinde Alt- und NeuschweizerInnen träumen.
Anhang
10 Vgl. NZZ, 14.05.2019: Wie Georg Soros vom Messias zum Volksfeind wurde.
11 Ich erlaube mit eine ausführliche Anmerkung: Mit «Vertikaler Integration» bezeichne ich einen vieldimensionalen Prozess, der Mechanismen, Prozesse, Regeln erfasst, die in der liberalen Wirtschaft zum Tragen kommen und die dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ungleichgewichte sowohl zwischen als auch innerhalb von Staaten rasant zunehmen. Vertikale Integration hat zum Resultat dass sich die wirtschaftliche und politische Macht zunehmend im transnationalen Hochoben konzentriert, d.h. in der Verfügungsgewalt von immer weniger, dafür umso mächtigeren Konzernen, Einzelpersonen und Staaten. Vertikale Integration passiert:
a) über den Markt bzw. den sog. Freihandel: Unternehmungen, die mit mehr Kapital, den leistungsfähigeren energetisch-technologischen Apparaturen ausgestattet sind, über das raffiniertere wissenschaftliche Know How verfügen und die effizientere Organisationskapazität verfügen, bewirken im transnationalen Kontext, dass in armen Staaten Unternehmungen gar nicht erst aufkommen können oder aber, als schwächere, aus dem Markt gedrängt oder aber aufgefressen werden. Der Neoliberalismus mit seinen vier Freiheiten verschärft diese Entwicklung rasant.
b) über transnationale Strukturen: Export von Landwirtschaftsprodukten und Rohstoffen aus den wenig entwickelten Ländern, Export von High-Tech-Produkten aus den hoch entwickelten Staaten – mit entsprechend sinkenden Terms of Trade für die landwirtschaftlichen Produkte der armen Staaten und einer enormen Massierung der Macht bei der Regierung im export-finanzierten armen Staat.
c) über die transnationale Migration: die ungleichen Lebensstandards in reichen und armen Staaten Regionen lösen die Migration von Süd nach Nord aus mit dem Resultat: Abwanderung und Brain Drain aus armen Staaten, Zuwanderung und Brain Gain in den reichen Ländern. Und der Irrsinn: Immer mehr Menschen bewegen sich – aus begreiflichen Gründen – von dort, wo man i. d. R. noch einen kleinen ökologischen Fussabdruck hat, in jene Staaten, die für ihren Wohlstand drei, vier, sechs Planeten verkonsumieren.
d) über die internationale Hilfe: Entwicklungszusammenarbeit und der Kampf für Menschenrechte können – müssen allerdings nicht – ebenfalls zur Vertikalen Integration beitragen. Dabei kann die Entwicklungszusammenarbeit effektiv wichtige, ja unverzichtbare Voraussetzungen für Entwicklung bereitstellten: Ausbildung, Brücken, Strassen, Gesundheitsversorgung etc. Werden aber die Wirtschaftsregeln nicht so verändert, dass auch im armen Staat horizontale wirtschaftliche Verflechtungen mit lokaler Kapitalakkumulation, Gewerbebetrieben, KMUS mit einer ausreichenden Zahl an Erwerbsarbeitsplätzen samt lokalen Märkten und einer ebensolchen
Nachtrage möglich werden, dann mündet auch die Entwicklungszusammenarbeit in eine Sackgasse bzw. sie vertieft die Vertikale Integration. Denn so lange die Bevölkerungsmehrheit keine formelle Erwerbsarbeit hat, weder Steuern noch Abgaben leistet kann, sind weder staatlich organisierte Solidarinstitutionen noch wird eine Demokratie möglich, die ihren Namen verdient. Entwicklungszusammenarbeit, die sich nicht in einen Rahmen abspielt, in dem – dank neuen Wirtschaftsregeln - Entwicklung effektiv möglich wird, bringt viele «nur» auf den Geschmack. Wer nicht mehr oder nicht bei einer westlichen NGOs angestellt wird, wandert dann ab in hoch entwickelte Staaten. Jüngstes Beispiel ist die Abwanderung der einheimischen Hilfskräfte aus Afghanistan. Gleichzeitig führen die permanent fliessenden Entwicklungsgelder für humanitäre Hilfe, Budgethilfe, neuerdings Klimaschutz und Konzessionsabgaben für Erdöl und Schürfrechte zu total auslandsabhängigen Regierungseliten. Die Zerrüttung – präziser: die Spaltung der nationalstaatlichen Strukturen sind deshalb weitere Faktoren, welche die Wirtschaftsentwicklung blockieren und eine horizontale Integration verhindern.
Bei der Vertikalen Integration handelt sich ausserdem um einen Prozess, der zunehmend in jenen Totalitarismus mündet, den wir bereits in zwei Varianten kennen – in der stalinistischen und in der nationalsozialistischen. Zunehmend ist er auch in den westlichen Staaten mit ihren alten Demokratien spürbar und beobachtbar: Die Bürgerliche Freiheiten und Rechte verschwinden. Nicht nur die Rede- und Meinungsfreiheit, sondern auch das Recht auf umfassende und sachliche Information wird über die im entrückten Hochoben zentrierten Medienplattformen abgeschafft. Statt sachbezogene und vielseitige Informationen anzubieten, betreiben viele Medienmonopole inzwischen Manipulation. In der milderen Form wird der Zugang zu anderen Auffassungen und zusätzlichen Fakten gesperrt; in der schwerwiegenderen werden altbekannte Formen von Rassismus aufgewärmt. So feiert z. B. die Slawenfeindlichkeit, mit der Hitler einst für seinen Russlandfeldzug mobilisiert hatte, nicht nur in Deutschland wieder Urstände, sondern hält auch wieder Einzug in der Schweiz. Am 22.4.22 wurde in der Stadt St. Gallen ein Konzert von Tschaikowsky abgesagt, weil die Aufführung russischer Musik im öffentlichen Raum des Klosterhofs unzumutbar sei. https://www.tagblatt.ch/kultur/ostschweizerkultur/oper-tschaikowski-wir….
Nota bene konnten sich China und die asiatischen Tigerstaaten der vertikalen Integrationsdynamik entziehen. Der eine Grund dafür: Sie hatten seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden eine staatliche Organisation, die einerseits auf Märkte, professionelle Arbeitsteilung, Berufsausbildung und Geld abstellte, die andererseits mit Bürokratie, Steuern bzw. Abschöpfungs- und Organisationsprozessen sowie mit Schrift und Buchhaltung zusammenging. Der andere Grund: Diese Staaten öffneten sich erst für den Welthandel, als sie sich intern auf einen energetisch-technologischen Stand gebracht hatten, der es ihnen gestattete, im Freihandel erfolgreich mitzumachen.
12 Ich war im Jahr 2000 an einen feministischen Kongress eingeladen, um dort über die Situation der Frauen im armen Teil der Welt zu referieren. Am Schluss der Tagung forderten LGBTQ-AktivistInnen eine neues Menschenrecht: Jeder Mensch soll nach der Geburt eigenständig sein Geschlecht bestimmen können. In der Schlussrunde stellte ich die Frage, wer denn dieses Recht finanzieren soll.
Der Jurist Rainer Schweizer leitete die Diskussion und schloss sie mit der Bemerkung: «Jetzt haben wir alle Fragen beantwortet ausser jener von Verena Tobler. Und ich gebe zu, auch ich habe mir diese Frage noch nie gestellt. Aber ich versichere ihr: Ich nehme sie jetzt mit mir nach Hause!»
13 Eine Welt Nr.2 / Juni 2022; DEZA-Magazin für Entwicklung und Zusammenarbeit: S. 25
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