Ich bezeichne mich als relativ aufmerksamen Beobachter der Zeitgeschichte. Aber dass Israel nicht über eine Verfassung verfügt, das wusste ich nicht.
Auf diesen wichtigen Umstand hat die Gesellschaft Schweiz-Palästina aufmerksam gemacht, die einen Artikel von B. Michael aus der israelischen Tageszeitung Haaretz vom 8. August übersetzt und hier veröffentlich hat.
B. Michael schreibt u.a.:
«In der Resolution 181 der UN-Generalversammlung vom 29. November 1947, mit der (auch) der Staat Israel gegründet wurde, wurde festgelegt, dass der Staat eine demokratische Verfassung erlassen muss, in der die Menschenrechte, der Gleichheitsgrundsatz, die Rechte von Minderheiten, die Religionsfreiheit und die Freiheit von der Religion neben vielen anderen beneidenswerten Gütern garantiert sind.
Das Gremium, das diese großartige Verfassung erlassen wird, heißt Verfassungsgebende Versammlung und wird in demokratischen Wahlen gewählt.
In seiner Unabhängigkeitserklärung hat sich Israel tatsächlich verpflichtet, eine demokratische Verfassung auszuarbeiten, und sogar eine Frist für deren Verabschiedung gesetzt: ‹nicht später als am 1. Oktober 1948›. Aber die verfassungsgebende Versammlung wurde erst Ende Januar 1949 gewählt. Keine große Sache. Nur eine kleine Verzögerung. Sie dauert bis zum heutigen Tag an.»
Staatsgründer David Ben Gurion wollte aber keine Verfassung. Und so bildete er seine erste Regierung mit religiösen Parteien, die ebenfalls keine Verfassung wollten.
Am 16. Februar 1049, drei Wochen nach ihrer Wahl, löste sich die verfassungsgebende Versammlung durch ein von ihr erlassenes Gesetz (war sie dazu überhaupt befugt?) wieder auf.
Stattdessen setzte sich das Konzept der «Basic Laws» durch, grundlegende, von der Knesset verabschiedete Gesetze.
Nochmals B. Michael:
«Auf diese Weise wurde die Verfassung ein für alle Mal zu Grabe getragen. Neben ihr liegen die Menschenrechte, die Gleichheitsgesetze, die Gesetze gegen Kriegsverbrechen, das Gesetz gegen religiösen Zwang und allerlei andere schädliche demokratische Torheiten.
Übrigens: Seit sie die ‹schleichende Verfassung› erfunden hat, trägt die Knesset zwei Hüte, den der ‹verfassungsgebenden Versammlung› und den des ‹Gesetze erlassenden Parlaments›. Ziemlich viel für eine Institution, die kaum einen einzigen Hut trägt (geschweige denn eine Kippa).
Oh, und zu Ihrer Information für Bibis Papageien: Es gibt kein Gesetz, keine Verordnung, keinen Erlass oder andere juristische Akrobatik, die es dem Obersten Gerichtshof verbietet, Grundgesetze zu überprüfen und/oder zu kippen. Und die Zeit ist sicherlich reif dafür, dies zu tun. Der Todesgeruch geht seit langem von diesem 1950 geborenen ‹verfassungsmässigen› Kadaver aus.»
Christoph Pfluger
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