Häuser ohne Dach
In unserem Dorf macht sich ein weiteres Mehrfamilienhaus breit. Und wie alle Neubauten, die bei uns in den letzten Jahren entstanden sind, zeichnet sich auch dieses Haus dadurch aus, dass es im Grunde kein Haus ist. Weil es eckig und flach ist. Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Ältere Menschen wissen, dass das nicht immer so war. Es gab eine Zeit, da wurden hierzulande noch Häuser gebaut. Die Häuser, in denen die Menschen wohnten, trugen ein Dach, und das Dach sah aus wie ein Dreieck. Die Krone des Dreiecks wurde Giebel genannt. Die Giebeldächer halfen dem Regen, vom Dach zu fliessen, sie boten Platz für den Estrich – den Estrich mit seinen Spinnweben, seinen Schätzen –, die Giebeldächer schützten das Haus und verliehen ihm ein Gesicht. Das Dach war der Kopf, der Schornstein das Ohr, die Fenster blickten ins Land hinaus, die Haustür diente als Mund. Das Gesicht war ein freundliches. Giebeldächer gehörten zum Land wie die Berge und die Blumen am Fenster.
Es gab eine Zeit, da wurden hierzulande Häuser gebaut, deren Ecken gerundet waren, deren Fassaden verschnörkelt waren, deren Fenster Verzierungen hatten. Früher war jeder Türgriff, jedes Treppengeländer, jede Zimmerdecke verziert. Früher legte man Wert auf Schönheit. Doch dann wurde die Welt ganz schnell modern, und das Moderne wollte nicht schön sein, weil das Schöne mit dem Herzen zu tun hat und nicht mit dem Kopf. Das Moderne wollte vernünftig, praktisch und schnörkellos sein, so sollten die Menschen denken, so sollten sie wohnen.
Alles Natürliche, in hunderten von Jahren Gewachsene wurde ersetzt durch das in kürzester Zeit aus dem Boden Gestampfte. Und vor allem das Giebeldach wurde ersetzt. An die Stelle des Dreiecks trat das unmissverständliche, klare Rechteck. Die vollkommene Raumausnützung. Der Block. Die Blöcke. Wie Legoklötze tauchten sie auf in der Landschaft, schoben sich zwischen Giebelhäuser und Flarze, besetzten die Dörfer, die Wiesen, die Aussicht. Und sie vervielfachten sich. Verbreiteten sich wie ein krankhafter Ausschlag. Die Agglomeration entstand. Der Grossraum.
Eines Tages merkten die Menschen, dass sie die Geister, die sie gerufen hatten, nicht mehr aufhalten konnten. Sie blickten zum Fenster hinaus, sahen überall Beton, überall Grau – und sehnten sich nach richtigen Häusern mit richtigen Dächern zurück. Wie durch den Asphalt die Blume bricht, brach durch die dünne Oberfläche des Zeitgeists das Urempfinden für das, was hässlich ist und was schön ist. Den Menschen wurde bewusst, dass die Unansehnlichkeit dieser Klötze und Blöcke zum Himmel schrie. Sie hatten sich von vermeintlichen Zauberern, die bloss Zauberlehrlinge waren, verführen lassen zu einer Architektur, die aus Menschen Kaninchen machte.
So betroffen waren sie davon, dass sie mitten in der modern gewordenen Zeit ganz biblisch von «Bausünden» sprachen. Als wären die Baugeschwüre der 60er- und der 70er-Jahre nicht nur eine Fehlentwicklung gewesen, sondern geradezu eine Sünde. Ihren Anblick ertragen zu müssen, bedeutete Busse zu tun.
So kehrte man zurück zu den Giebeldächern. Fassaden aus rohem Beton wurden plötzlich als unschön empfunden. Man bemühte sich wieder um Qualität. Auch Holz war wieder ein Baumaterial, das in Frage kam, und die Farbe, die keine Farbe ist, wurde gemieden. Tradition wurde wieder zu einem Kriterium. Auf einmal durfte ein Haus sogar wieder schön sein.
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Aber so blieb es nicht. Der vorwärts stürmende Zeitgeist wollte nicht rückwärts schauen, und die Giebeldachhäuser waren von gestern. Definitiv. Die Baugespanne des neuen Jahrtausends verhiessen nichts Gutes. Immer mehr Menschen brauchten immer mehr Wohnraum. Für freundliche Häuser fehlte der Platz. Plötzlich wurden wieder Flachdachbauten gebaut. Nur noch Flachdachbauten. Jedes Mal, wenn die Bagger auffuhren und die Presslufthämmer ihr Stakkato erdröhnen liessen, stand am Ende ein weiterer futuristischer Klotz auf der misshandelten Wiese. Seine Kanten verletzen die runde Landschaft. Seine Gleichförmigkeit verlachte die verspielte, freie Natur. Aber das kümmert niemanden mehr. Inzwischen sind die Verkehrswege, die das Land durchschneiden, in dichten Reihen gesäumt von den Kästen und Boxen, in denen keine Kaninchen wohnen, sondern Menschen. Und auch die letzte freie Wiese dazwischen wird wohl demnächst erobert sein.
Der Wohnraum ist knapp. Doch die Menschen haben gar keine Wahl. Sie müssen in Wohnungen wohnen, die sich in Häusern befinden, die keine Häuser sind. Eher gleichen sie Bürogebäuden, Kasernen oder Vollzugsanstalten. Die Inneneinrichtung ist komfortabel, funktionell und selbstverständlich klimaneutral. Doch von aussen betrachtet sind diese Häuser, die keine Häuser sind, tote Materie. Die einstigen Plattenbauten des Ostens erleben im Westen ihre neuzeitliche Auferstehung. Und die Mentalität, die diese Bauten entwirft, finanziert und erstellt, ist im Grunde dieselbe. Es ist eine Flachdachmentalität.
Nicht alle neuen Plattenbauten sind gleich. Ein anderer Farbton, spezielle Fenster, Backstein statt Beton, viel Grün: Ein Hauch von Individualität soll gewahrt sein. Aber Blöcke, Flachdachblöcke bleiben sie doch. Denn das Dach, das dem Haus ein Gesicht verleiht, fehlt. Der Abschluss fehlt. Ein Haus hat auch deshalb ein Dach wie ein Dreieck, weil sich das Dreieck nach oben zuspitzt. Weil es zum Himmel gerichtet ist. Ein Flachdachhaus strebt nicht dem Himmel entgegen. Es genügt sich selbst.
Was ist geschehen? Damals, in den 60er-Jahren, als die Zauberlehrlinge der Moderne um jeden Preis etwas Neues in die Welt stellen wollten, konnte man sagen: Sie wissen nicht, was sie tun. Heute wissen sie, was sie tun, wenn sie Klötze statt Häuser planen. Sie wollen Akzente setzen – das sagen sie selbst. Künstliche Akzente in einer natürlich gewachsenen Ordnung. Sie handeln aus Überzeugung, die Architekten ebenso wie die Bauherren, die Bauingenieure ebenso wie die Beamten im Bauamt. Doch warum tun sie das? Warum gibt es Menschen, die aus freien Stücken, in voller Absicht Einfamilienhäuser und Wohnblöcke bauen, denen das Dach fehlt?
Weil ihr Denken selber kein Dach hat. Weil es selber kein Ganzes ist, sondern ein Flachdachdenken. Ein Mensch, der so denkt, erfreut sich an der Natur, hat aber keine Ehrfurcht vor ihr. Das natürlich Gewachsene und Bewährte ist nicht heilig für ihn. Er sieht darin bloss ein Hindernis. Eine Altlast.
Wenn hierzulande seit Menschengedenken Häuser mit Giebeldächern gebaut worden sind, ist das für ihn ein weiterer Grund, keines zu bauen. Er mag keine ewigen Werte, keine Giebeldächer aus Tradition, er findet sie langweilig und es gefällt ihm, die Menschen mit seiner Vorstellung von Architektur zu erziehen. So wohnt man heute, belehrt er sie und drückt ihnen seinen Prospekt mit dem Flachdachhausprojekt in die Hand. Und die Wohnungssuchenden ebenso wie die Eigenheiminteressenten lassen sich überzeugen. Der Innenausbau entspricht ihren Wünschen. Wie das Haus von aussen aussieht, hat für sie nicht dieselbe Bedeutung. Aber ein Flachdach ist toll. So wohnt man doch heute?
Sie merken es bereits nicht mehr. Sie merken nicht, was mit ihnen geschehen ist. Wenn die Sachverständigen sagen, dass ein richtiges Haus ein Flachdachhaus ist, dann glauben sie es, weil es die Sachverständigen sagen, die Politiker und die Medien. Alle sagen es. Alle feiern das neue Bauen. Und so werden die Menschen auch in die hässliche neue Box in unserem Dorf ziehen – und sich freuen, so zeitgemäss wohnen zu dürfen.
Erinnern sie sich keinen Moment daran, welche Häuser sie als Kinder gezeichnet haben? Damals wussten sie noch, was ein schönes Haus ist. Ein schönes Haus ist ein Haus, das dich anschaut. Ein Haus, das vielleicht ein Zuhause wird.
Die Meinung der Kolumnisten braucht mit derer der Redaktion nicht übereinzustimmen.
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Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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