Zu Kreuze kriechen vor dem Mammon der Zertifikate
Wer arbeitsfähig bleiben will, von dem wird viel Masochismus verlangt. Oder wie soll man den Überregulierungswahn sonst nennen? Die Samstags-Kolumne.
Ich weiss noch nicht, wie ich das Phänomen bezeichnen soll. Das Zitronenauspress-Phänomen vielleicht? Oder das Sicherheitswahn-Phänomen? Auf jeden Fall geht es in Richtung Selbstzerstörung. Vielleicht wäre überschiessende Bürokratie auch ein valabler Name.
Aber es ist nur ein Teil von diesem selbstzerstörerischen Drang, den der Staat, aber auch Ausbildungsstätten und andere staatsähnliche Gebilde haben, Dinge überzuregulieren.
Als ich Seby Elsener und Bärti Amstutz, die beiden Gründer der KMU-Familie befragte, bin ich dem wieder begegnet. Diesen riesigen Steinen, die Leuten in den Weg gelegt werden, die einfach arbeiten wollen. Leute, die seit 15 Jahren wissen, wie man eine Motorsäge bedient und eine entsprechende Lehre abgeschlossen haben, müssen antraben, um ein Zertifikat für die Bedienung für Motorsägen abzuschliessen, bevor sie ein solches Gerät wieder in die Hand nehmen dürfen. Lehrer, die in der Aula jahrzehntelang Lampen selber ausgewechselt haben, müssen jetzt den Hausdienst darum bitten, aber bitte nur für jene Beschäftigten, die einen Lampenaufhängkurs absolviert haben.
Auch die Bildungsszene bleibt vom Überregulierungswahn nicht verschont. Da wollen Gymnasiallehrer freiwillig an die viel schlechter bezahlte Primarschule wechseln, und dürfen das nur, wenn sie die gesamte dreijährige Primarschulausbildung nachholen. Spätestens hier kippt der Regulierungswahn ins Wahnwitzig und Zerstörerisch. Denn an der Primarschule werden händeringend Lehrkräfte gesucht. In einem Artikel habe ich Dutzende solcher Beispiele gesammelt.
Als ginge es den Regulierern darum, den gesunden Menschenverstand auszuschalten. Aber nicht nur ihn. Es geht tiefer. Anstelle des Zwischenmenschlichen tritt die Kontrolle oder die Selbstkontrolle. Überzeugten sich Mentoren früher persönlich an Lehrproben, ob künftige Lehrerinnen auch unterrichten können, müssen sich heutige Kandidaten selber per Kamera aufnehmen und in 40--seitigen schematisch vorgegebenen Dokumenten über ihre Fehler und wie man sie verbessern könnte, Auskunft geben. Als wolle man das Momentum der Beziehung zwischen Prüfern und Prüfling, die ja zum Beispiel von Sympathie oder zufälligen Begebenheiten abhängig sein kann, ganz ausschalten. Der Algorithmus des genau bestimmten Ablaufs des Protokolls der eigenen Videoaufnahme ersetzt das Allzumenschliche, die in einer Begegnung und in Arbeitsbeziehungen hineinspielt.
Was ist hier am Werk? Was schaltet hier Willkür, die jeder menschlichen (Arbeits)-Beziehung innewohnt, brutal entgegentritt, indem sie sie gleich ganz ausschaltet?
Was ist am Werk, wenn gestandene Berufsleute noch einmal ganze Studiengänge oder Zertifikatslehrgänge absolvieren müssen, nur, weil sie jetzt jüngere Schüler oder eine neue Marke von Motorsägen bedienen müssen?
Ich spüre eine Angst, Eine Angst vor Rekursverfahren, wenn sich Studierende ungerecht beurteilt fühlen von Experten. Angst vor Versicherungen, die nicht zahlen, wenn nicht alle Teilkurse absolviert wurden? Diese Angst kann jederzeit neue Blüten treiben. Es sind Scheinblüten, und es werden Scheinblüten bleiben. Denn es ist eine Scheingarantie, dass ein Primarlehrer, der ordnungsgemäss die Pädagogische Hochschule durchlaufen hat, auch gut unterrichtet.
Nicht nur das: Der Arbeitsmarkt wird künstlich verengt: Es wären mehr Lehrkräfte vorhanden, die unterrichten wollten, wenn die Bedingungen nicht künstlich hochgehalten würden. Es würden auch mehr Lehrlinge zunächst eine Anlehre machen, wenn der Zugang zum anschliessend anerkannten Lehrabschluss nicht zum Flaschenhals gemacht würde.
Wie gesagt, noch kann ich das Phänomen nicht richtig fassen. Vielleicht handelt es sich ja auch um den Sadismus des Spätkapitalismus?. Jedenfalls wird von jenen, die arbeiten und sich ausbilden wollen, viel Masochismus gefordert. Eine zu Kreuze kriechen vor dem Mammon der Zertifikate.
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Das Wort als Waffe
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