Hinüberschwimmen
Ein Erlebnis an einem Sommermorgen am Lago di Lugano, an das ich immer noch denken muss. Die Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten».
Jedesmal, beim Hinausschwimmen in den See, lockt das gegenüberliegende Ufer. Ich sehe es immer vor mir, während ich schwimme, und weil es Zug um Zug näherkommt, spiele ich mit dem Gedanken, hinüberzuschwimmen. Ich verzichte dann doch darauf, weil mir die Zeit fehlt oder weil ich mir überlege, dass ich dann wieder zurückschwimmen muss. Aber eigentlich hat das Umkehren jedesmal etwas Enttäuschendes. Ich will gar nicht umkehren. Und ich denke dann an den Sommer in Brusimpiano – an das Dorf, das auf der italienischen Seite liegt. Am Lago di Lugano.
Es ist Morgen, der erste Morgen in Brusimpiano, über der Welt erhebt sich die Sonne, und ich schwimme hinaus in den See. Ich schwimme ins Glück, den Garten Eden betreten zu dürfen, ohne Eintritt bezahlen zu müssen. Der Lago di Lugano verengt sich hier zu einem jugendlich schlanken Handgelenk, und die Schweiz auf der anderen Seite, das Dorf Figino, liegt nahe. Mit jedem Zug, den ich schwimme, rücken die Häuser des Dorfes deutlicher in mein Blickfeld. ich unterscheide bereits die Anlegestellen der Boote, die Gärten – und die Möglichkeiten, an Land zu gehen.
Plötzlich ist die Verrücktheit da und übernimmt das Kommando: Ich könnte hinüberschwimmen. In die Schweiz will ich schwimmen, noch vor dem Frühstück, und wieder zurück. Einen Augenblick halte ich inne. Die Vernunft soll ihre Bedenken äussern. Ich wollte doch nur ein paar Züge schwimmen, um wachzuwerden. Ich wollte doch nur, ungestört und für mich allein, in der Stille des Sees die Sommertage im Süden begrüssen.
Ein Blick zurück an das Ufer, von dem ich komme, zeigt mir, dass ich noch lange nicht in der Seemitte bin. Ich sehe noch immer die Leute am Strand, den Hund im Wasser, das Kind auf der Schaukel. Die Menschen auf der anderen Seite dagegen sind nicht erkennbar. Doch ich erlaube mir kein Zurück mehr. Nur die Mitte muss ich erreichen. Wer es bis in die Mitte schafft, ist so gut wie am Ziel.
Jetzt erkenne ich eine Schweizerfahne in einem der Gärten. Ihr Rotweiss vor dem Grün des Uferbereichs winkt mich zu sich, und mein kleines, privates Abenteuer bekommt auf einmal Bedeutung. Ich überquere nicht nur einen See – ich überquere die Grenze. Ich schwimme zurück in mein Land. Und da die Grenze mitten im See verläuft, bin ich vielleicht bereits in der Schweiz. Dann bin ich im Grunde schon angekommen.
Für einen Augenblick verlagere ich mich auf den Rücken, um etwas auszuruhen. Ich blicke hinauf in den blauen Himmel, bewege mich kaum und finde es so allein in der Mitte des Sees richtig feierlich. Auch das Wasser umspielt mich nur leicht. Es will den Frieden des Sommermorgens nicht stören, der über dem See liegt.
In gewissen Situationen – unter Menschen zum Beispiel, in einem Gedränge – kann es geschehen, dass man plötzlich gestossen oder berührt wird. Darauf muss man gefasst sein. Doch mitten in einem See den Kopf anzuschlagen, kommt unerwartet. Ich fahre zusammen, von Panik ergriffen. Als ich mich umwende, sehe ich, was mich gestossen hat. Es war bloss ein Stück Holz. Ein im Wasser schwimmendes Treibholz hat meinen Kopf gestreift. Kein Grund zur Beunruhigung.
Das denke ich auch. Ich könnte beruhigt sein und weiterschwimmen – aber das geht nicht. Diese gänzlich unerwartete Kollision hat ihre Wirkung. Ich schwimme langsamer, blicke um mich – und finde den See, den ich am Ufer so klein fand, auf einmal sehr gross. Beide Ufer, das italienische ebenso wie das schweizerische, erscheinen mir gleichermassen weit weg. Wasser, nichts als Wasser umgibt mich, und ich stelle mir jetzt auch vor, wieviel Wasser unter mir liegt, wie unergründlich tief der See ist.
Dass ein gesunder, durchaus trainierter Mensch plötzlich, ohne Vorwarnung eine Schwäche erleidet, einen Kollaps – das kommt gelegentlich vor. Vor allem, wenn dieser Mensch, so wie ich, so weit schwimmt, ohne vorher etwas gegessen zu haben. Ich könnte auch einen Krampf bekommen. Niemand würde mir helfen. Suchend wandert mein Blick übers Wasser. Als ich losschwamm, war es halb neun. Weit und breit ist kein Boot unterwegs.
Die Stille, die mich umgibt, ist auf einmal nicht mehr so friedlich wie vorher. Sie hat etwas Lauerndes. Die Oberfläche des Sees gleicht einem Spiegel, und ich bin nichts als ein Fleckchen darauf. Ein angefeuchteter Finger würde genügen, um den Fleck auf dem Spiegel zu tilgen. Dann wäre der See vollkommen glatt. Niemandem würde auffallen, dass das kleine, hilflose Fleckchen verschwunden ist.
Vielleicht hat mich jemand hinausschwimmen sehen. Doch diese letzte Person, die mich noch lebend gesehen hat, ist weitergegangen und hat mich vergessen.
Irgendwann gegen Mittag, wenn der schlimme Verdacht sich verdichtet, werden jene, die mich lieben, am Strand mein Badetuch finden. Es ist unverkennbar mein Tuch. Zusammengerollt auf einem Stein wird es liegen – eine stumme Bestätigung dafür, dass hier ein Mensch sich verführen liess. Die Idylle des Sommermorgens hat ihn geschluckt.
Es war eine Niederlage. Doch ich entschloss mich zur Umkehr.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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