In Panama

Die meisten Kunden im Supermarkt reden an der Kasse kein Wort zuviel. Aber die Kassiererin will nicht schweigen. Und plötzlich erzählt sie. Eine Adventsgeschichte aus dem Podcast «Mitten im Leben».

«Zwischen der Kasse Nr. 5 und Panama liegt ein Ozean.» (Bild Netzfund)
«Zwischen der Kasse Nr. 5 und Panama liegt ein Ozean.» (Bild Netzfund)

Die Frau an der Kasse Nr. 5 sieht müde aus. Sie sieht aus wie eine Kassiererin, an der den ganzen Tag Menschen vorbeigehen, ohne sie anzuschauen. Würden sie ihre Augen öffnen, dann könnten sie sehen, auch an diesem Dezembertag: Die Frau hat sich schön gemacht, einfach nur für die Arbeit. Sie tut es immer, weil sie Wert darauf legt. Sie trägt sogar Schmuck. Sie will elegant, gepflegt und noch etwas jung sein. Sie will es sein für sich selbst, aber auch für die Kunden. Vielleicht sogar für die Männer. Doch den wenigsten fällt es auf.

Auch der Mann vor mir schaut die Frau an der Kasse nicht an. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig, er könnte offen fürs Leben sein, doch er ist mit sich selbst beschäftigt, mit der Ware, die er gekauft hat, und vielleicht mit der Frage, ob seine Frau ihn noch liebt. Als er seine Brieftasche aus der Jacke nimmt, um zu bezahlen, sagt die Kassiererin:

«Verrückt, dieses Hundegebell. So extrem wie heute ist es sonst nie.» 

Jetzt höre auch ich es. Vor dem Supermarkt draussen kläffen die wartenden Hunde dissonant um die Wette. Das Gebell tönt so laut, dass eine Bemerkung darüber angebracht ist. Doch die Frau hat das Hundegebell nicht erwähnt, um das Hundegebell zu erwähnen. Sie sagte es, um das Schweigen zu brechen – das Schweigen der Kunden, die mehr oder weniger schweigend die Ware aufs Band verteilen, mehr oder weniger schweigend bezahlen und das Gekaufte schweigend in ihre Säcke packen. 

Es wurde zu still für die Frau an der Kasse. 

Also sagte sie etwas. Einfach nur die paar Worte. Und der Mann schaut sie an, zum erstenmal schaut er sie an, er hört, was sie sagt – doch warum sie es sagt, merkt er nicht. Er meint, sie meine das Hundegebell. Der Kunde verzieht das Gesicht zu einem höflichen, sparsamen Lächeln, zu mehr reicht es nicht für die Frau an der Kasse, mehr will er nicht von sich zeigen. Vielleicht weiss er auch nicht, was er antworten könnte. Er bezahlt, verschiebt sich ans Ende der Kasse und packt seine Ware ein.

«Also, mein Hund ist jedenfalls nicht dabei», sage ich, als die Reihe an mir ist. «Das Gebell meines Hundes würde ich kennen.» 

Etwas Besseres ist mir nicht eingefallen. Aber jemand muss ihr doch antworten. Die Kassiererin wird auf mich aufmerksam. Sie schaut mich an, und ich sehe in ihrem Gesicht, dass an die Kasse Nr. 5 das Leben zurückgekehrt ist. 

«Was für einen Hund haben Sie denn?» fragt sie mich, während sie Ware um Ware einscannt. 

Ich erzähle von unserem Hund – während ich einzupacken beginne – und will von ihr wissen, ob sie auch eine Hundebesitzerin sei?

«Leider nicht», meint sie bedauernd. «Er wäre ganz allein in der Wohnung. Aber meine Tochter hat einen Hund. Einen Labrador.»

Ich hole die Karte hervor, um zu zahlen. «Dann ist er sicher manchmal bei Ihnen? Oder Sie gehen mit ihm spazieren!»

«Das auch nicht», sagt die Kassiererin und gibt mir die Quittung, «meine Tochter wohnt nicht in der Schweiz. Sie wohnt in Panama.»

Das habe ich nicht erwartet. Die Kasse Nr. 5 ist vorübergehend geschlossen – denn da sitzt eine Mutter, die sich nach ihrer Tochter sehnt. Die Tochter hat auf einer Reise durch Mittelamerika ihre Liebe gefunden und ist geblieben. Sie hat einen Hund und schon bald ein Kind, dann wird die Frau an der Kasse Grossmutter sein. Doch ihr Enkelkind wird sie ebenso selten sehen. 

Ich wünsche ihr eine schöne Weihnacht und dass die Tochter hoffentlich bald zu Besuch kommt. Zwischen der Supermarktkasse und Panama liegt ein Ozean. Doch in diesem Moment ist der Weg dahin nicht so weit. Es müssen nur ein paar Hunde bellen. Schon ist man dort.


CoverVom Autor soeben erschienen:«Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli

Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

12. Dezember 2024
von:

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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