Die Sache mit der linken Wange
Einer der beeindruckendsten Menschen, denen ich im vergangenen Jahr begegnet bin, ist Eugen Drewermann, der streitbare Theologe. In seinem aktuellen Buch «Nur durch Frieden bewahren wir uns selber» erklärt er die Frage der Gewaltlosigkeit und der anderen Wange, die wir hinhalten sollen, auf mir neue Weise.
Eugen Drewermann habe ich zum ersten Mal vor etwa 30 Jahren gehört, auf einem Vortrag bei den Psychotherapietagen von Basel. Damals rief er die Zuhörer dazu auf, sich statt des strafenden, richtenden Gottes da oben eine überaus wohlwollende Entität vorzustellen. Ein Kraft, die uns liebt, so wie wir sind, die uns willkommen heißt mit allem, was wir sind – und nur manchmal und ohne ja das überfließende Wohlwollen zu verlassen, behutsam darauf hinweist: Schau, an dieser Stelle hättest du nicht so ängstlich agieren müssen. Es hat mich damals berührt, ich habe den Saal beflügelt verlassen im inneren Licht dieser göttlich-gütigen Quelle.
Damals war er bereits vom Kirchenlehramt suspendiert worden, weil er die Jungfrauengeburt öffentlich in den Bereich der Mythologie verwiesen hatte. Inzwischen macht er vor allem in der Friedensbewegung von sich hören. Im letzten Jahr traf ich ihn wieder und hatte die Ehre, seinen Vortrag auf der Schremser Pfingsttagung zu moderieren und später auch ein wenig mit ihm ins Gespräch zu kommen. Älter ist er geworden – und politischer: Mit seinem fast dreistündigen, schonungslosen Vortrag über die Brutalität der derzeitigen Kriege und ihre geistigen Ursachen überforderte er viele der Zuhörer. Einige verliessen empört den Saal wegen angeblich einseitiger Verurteilung des Westens für den Ukraine-Krieg. Andere blieben zu stehenden Ovationen und weiterführenden Fragen. Ich hatte ein wenig Angst, dass der zierliche alte Mann spät abends und nach langer Anreise an seine Grenzen kommen könnte – doch er winkte ab: Selten werde ihm so viel zugestimmt, meistens höre er wütende Proteste bei seinen Reden.
Am frühen Morgen reiste er wieder ab, statt Frühstück nahm er nur eine trockene Scheibe Brot mit sich. Ein Gast fragte ihn, ob man ihm etwas schenken dürfe und was, denn er habe doch sicher schon alles. «Bücher», war seine Antwort, das sei das Einzige, von dem man nie genug haben könne. «Ich lebe mit Büchern wie mit Menschen.» Mit Beruhigung habe ich von anderen gehört, dass er nicht ganz so einsam lebt, wie das klang.
Ich fragte ihn, ob er noch Hoffnung für die Menschheit habe. «Nein», sagte er sofort. Um nach im Weggehen hinzuzufügen: «Doch, natürlich, Hoffnung gibt es immer. Aber sie wird sich nur erfüllen, wenn wir radikal dem Beispiel von Jesus Christus folgen.»
Sicherheit ist immer die Sicherheit der anderen.
Monate später denke ich an diese Antwort, als ich Material sammle für unsere nächste Zeitpunkt-Ausgabe mit dem Titelthema: «Du sollst dir kein Bildnis machen.» Ich erinnerte mich, dass er jeden Brief beantwortet, und schrieb ihm mit der Frage: «Wer oder was ist Gott für Sie? Brauchen wir Gott, um Frieden unter Menschen zu schaffen?»
Tatsächlich kam die Antwort postwendend und handgeschrieben: Er habe, schrieb er, schon sehr viel dazu geschrieben und wolle sich nicht wiederholen. Er empfahl mir sei sein letztes Buch «Nur durch Frieden bewahren wir uns selber – die Bergpredigt als Zeitenwende», aus dem ich gerne zitieren dürfe.
Seitdem lese ich darin – und lasse mich aufwühlen von den beiden Seiten seiner Kernaussage: von dem Entsetzen über die immer brutalere Kriegsgeschichte – und von der Existenz einer absolut liebenden, wohlwollenden Gotteskraft. Eine Existenz, die wir Menschen hartnäckig verleugnen, wenn wir blind auf unsere angst-gesteuerten Illusionen reagieren.
Krieg, das ist nach Drewermanns Erkenntnis das Resultat der menschlichen Strategie, auf Angst mit Angstverbreitung zu reagieren – immer weiter, immer technisierter und skrupelloser bis zur zwangsläufigen Eskalation in der Zerstörung. Wenn wir nicht die Kette von Angst und Gewalt an den ersten Stellen beginnen aufzulösen.
Für den Frieden müsste man «...davon lassen, den Angstgegner vernichten zu wollen. Man müsste ein für allemal in sich selbst, im eigenen Herzen, die Angst überwinden» - eine zutiefst religiöse Aufgabe, wie Drewermann sagt.
Der 11. September wäre so ein geschichtlicher Moment gewesen. Wenn die USA, die sich christlich nennen, damals dem Jesus-Wort gefolgt wären statt der Angst, hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Ebenso wenn Israel nach dem 7. Oktober 2023 sich für etwas anderes als Rache und Zurückschlagen entschieden hätte. Statt Krieg gegen Terror hätte ein Weg zu echter Sicherheit begonnen werden können. Denn «Sicherheit ist immer die Sicherheit der anderen», sagt Drewermann dazu in Abwandlung des berühmten Spruchs von Rosa Luxemburg «Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden».
Doch die Regierungen von «God´s Own Country» als auch des «Auserwählten Landes» ignorierten die Kernaussage der Bibel. Aber was meinte Jesus, als er in der Bergpredigt forderte: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin (Mt 5,39)? Ist das überhaupt realistisch – für einen Einzelnen, geschweige denn einen Staat?Drewermann findet eine für mich neue und erhellende Erklärung für Jesus-Wort, die ich hier gerne zitiere:
Gewiss, man kann bei einer übergriffigen Tätlichkeit, im Fall eines erlittenen Unrechts, «zurückschlagen» und seine Genugtuung darin finden, dem anderen ein Gleiches zuzufügen; statt Frieden entsteht dann ein Kampf um das Recht, das womöglich beide Parteien für sich in Anspruch nehmen. Das heisst: Selbst wenn es dir gelingt, den «Übeltäter» in die Knie zu zwingen, wird sich in seinen Augen doch nur erneut das Recht des Stärkeren bestätigen, und du wirst seine Feindschaft verewigen.
Doch weisst du eigentlich, was er beabsichtigte mit seinem Tun? Weiss er es selber? – Ein Schlag auf die rechte Wange kann nur mit der linken Hand geführt werden, die seit altersher dem Unbewussten zugeordnet wird; wäre es da nicht möglich, dass dein Gegner etwas ganz anderes wollte, als sich in seiner Tat auszudrücken scheint? Geschlagen hat er dich, das stimmt; aber vielleicht meint er in dir jemanden ganz anderen – seinen Vater, seinen Bruder, und er übertrug uralte Gefühle auf dich. Was ging und geht da in ihm vor sich?
Du kannst es nur für ihn oder für dich selbst herausfinden, wenn du den Schlag bewusst, von rechts, sich wiederholen lässt. Du weisst, dass du seine Attacke nicht verdient hast, und wenn du jetzt ruhig und ohne Angst nicht deinen Rachephantasien nachgehst, sondern auf den Angreifer zugehst, klärst du unter Umständen sein mögliches Missverständnis auf; durch dein eigenes Vertrauen machst du ihn zu deinem Vertrauten und eines Tages womöglich zu deinem Freund und Verbündeten; in jedem Fall zeigst du ihm, dass du anders bist, als er geglaubt oder gefürchtet hat. Die todverschattete Welt der Angst bricht auf und öffnet sich dem Licht.
Eugen Drewermann: Nur durch Frieden bewahren wir uns selber – die Bergpredigt als Zeitenwende, Patmos-Verlag 2023
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Christa Leila Dregger
Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.
Weitere Projekte:
Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth
Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de
Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
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Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei?
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