Die Verunwortung

«Wir brauchen keine historischen Figuren zu werden. Es reicht schon, wenn wir besser auf uns hören und der inneren Verantwortung Raum geben.»

«Alles in Ordnung?», fragte ich den Mann, der prüfend vor dem Brotregal stand.
Es war, wie sich herausstellte, der Filialleiter eines schweizerischen Grossverteilers. Und weil kurz vor Ladenschluss kaum noch Kunden im Geschäft waren, entwickelte sich ein Gespräch. Er rechnete gerade nach, wie viel unverkauftes Brot zu verbrennen war. Ob ihn das nicht nachdenklich mache und ob es keine bessere Verwendung dafür gebe, wollte ich von ihm wissen. Wenn er das Brot verschenken würde, müsse er mit seiner Entlassung rechnen, sagte er; auch eine wohltätige Organisation käme nicht in Frage. Und dann den entscheidenden Satz: «Ich muss bei dieser Arbeit immer innerlich abstellen.»


Der Mann, und mit ihm hunderte in derselben Position und hunderttausende in vergleichbaren Lagen, ist gefangen im Niemandsland zwischen zwei Verantwortungen – der Verantwortung, zum Nutzen der Firma etwas zu tun, was der Allgemeinheit schadet, und der Verantwortung als Mensch, es zu unterlassen. Was tun in dieser Situation?
Die grossen Konzerne, die ihre Mitarbeiter laufend mit solchen und ähnlichen Pflichten in die Verantwortung nehmen, haben eine Antwort dafür gefunden: Corporate Social Responsibility. Zur Stärkung der sozialen Verantwortung der Konzerne gibt es seit 15 Jahren die Stiftung «Philias» mit Sitz in Genf, gegründet von der ehemaligen PR-Frau Bettina Ferdman Guerrier. Die Stiftung hat 25 «Mitglieder» – als ob Stiftungen «Mitglieder» haben könnten –, darunter die Tabakkonzerne Philip Morris und British American Tobacco, die Banken UBS, Julius Bär und Lombard Odier sowie Nestlé,, Microsoft und Johnson&Johnson.


Mit sozialer Verantwortung haben die Mitglieder einschlägige Erfahrung: Microsoft liess seine Kunden mit dem Betriebssystem Windows XP im Regen stehen und verlangt Preise, die in offiziellen Berichten als «rip-off» (Abzockerei) bezeichnet werden. Gegen Johnson&Johnson haben 20 US-Bundesstaaten ein Verfahren wegen fortgesetzten Betrugs eingereicht. Nestlé ist in mehreren Staaten wegen der illegalen Aneignung von Wasserrechten, der gewaltsamen Behinderung von Gewerkschaften oder Preisabsprachen unter Beschuss, bzw. unter Anklage. Über die Tabakkonzerne wollen wir nicht reden, die Weste der UBS sieht man vor lauter Flecken schon gar nicht mehr, und dass die beiden anderen genannten Banken mit Lebensmitteln spekulieren, in Waffengeschäfte investieren oder Land Grabbing finanzieren, sei hier der Einfachheit halber als Behauptung stehengelassen.
Ziel dieser ehrenwerten Gesellschaften ist es also, mit Philias «die soziale Verantwortung von Unternehmen – die Corporate Social Responsibility (CSR) – und ihre Umsetzung in die Praxis zu fördern»! Da kann man genausogut Abzocker zu Zentralbankern ernennen (Draghi), Kriegsherren den Friedensnobelpreis verleihen (Obama) oder die Banken das Bankenrettungsgesetz selber schreiben lassen (wie in Deutschland geschehen).
Philias beschäftigt in Genf und Zürich sieben Mitarbeiterinnen, berät u. a. Firmen bei der Umsetzung von CRS-Projekten, organisiert Tagungen und verleiht zwei Preise — alles geleitet von den Werten «Humanität, Offenheit, Pragmatismus und Unternehmergeist». Glanz und Gloria!


Die «Gegenseite» mit den «BINGOs» (Big NGOs) steckt im selben Dilemma zwischen proklamierten Zielen und gelebter Praxis. Bei den Programmen zum Schutz der Regenwälder werden klitzekleine Waldgebiete geschützt und die Indigenen vertrieben. Dafür darf eine riesige Fläche gerodet, mit Monokultur bepflanzt und die daraus entstehende Produktion als «nachhhaltig» oder «responsible» verkauft werden. Dass die BINGOs an gemeinsamen Roundtables mit Urwaldschändern, Soja-Monokulturisten und Grossgrundbesitzern Platz nehmen und ihr Logo für tropenwaldverträgliches Toilettenpapier hergeben, wird dann fürstlich honoriert. Solange man in den hauseigenen Blättern neben dem Einzahlungsschein für Spenden einen schleichenden Tiger und einen putzigen Panda abbilden kann, ist alles im grünen Bereich. Wer die Praktik kritisiert, wie der deutsche Journalist Wilfried Huisman mit seinem «Schwarzbuch WWF», wird mit einstweiligen Verfügungen eingedeckt und vor Gericht gezogen. Die immer wieder beschworene «Verantwortung für den Planeten» ist bei den BINGOs nicht viel mehr als die geschönte Verantwortung für das Geschäft.


Sich das Greenwashing anzusehen und das Geschwurbel über Verantwortung zu lesen ist fast so sinnlos, wie darüber zu schreiben, weshalb wir jetzt das Thema wechseln.
Wenn schon die Konzerne und ihre Gegenspieler nichts Glaubhaftes zur Verantwortung zu sagen haben, dann vielleicht die ältere Dame, die wir hier Frau Ehrismann nennen. Wer sie in der Nähe von Solothurn besucht, betritt zuerst einen gepflegten Garten, der auf eine tatkräftige Hand schliessen lässt. Aber Frau Ehrismann ist 91 und sorgt nicht nicht nur für Haus, Garten und sich selber, sondern auch für ihre Tochter Bernadette, und das seit 58 Jahren. Bernadette wurde mit einem Down-Syndrom geboren. Als sie ins Alter für den Kindergarten kam, wurde den Eltern von den Nonnen, die den Kindergarten führten, beschieden, Bernadette passe nicht zu den Kindern aus den noblen Familien im Quartier. In einem anderen Kindergarten klappte es dann; Bernadette war der Sonnenschein und heimliche Liebling, dem die anderen Kinder immer die schönsten Puppen zuhielten. Als der Zeitpunkt der Einschulung heranrückte, erhielten die Ehrismanns keine Aufforderung. Bernadette schien irgendwie nicht zu existieren. Im Gespräch mit dem Stadtpräsidenten erklärte dieser, man werde für die drei behinderten Erstklässler schon ein passendes Heim finden. Doch die Ehrismanns setzten alle Hebel in Bewegung, der Vater wurde Präsident eines neu gegründeten Elternvereins behinderter Kinder. Gemeinsam erreichten sie schliesslich, dass Solothurn eine heilpädagogische Schule bekam. Plötzlich, so erzählt Frau Ehrismann, habe es viel mehr behinderte Kinder gegeben, die auch zur Schule wollten; oder ihre Eltern wollten es, die ihre Sprösslinge bisher zu Hause versteckten, weil irgendeine gesellschaftliche Schmach allein auf der Tatsache lag, dass es sie überhaupt gab.
Eine Episode aus der frühen Kindheit von Bernadette ist ihr immer noch gegenwärtig. Das Kind, noch nicht einmal einjährig, litt an einer Lungenentzündung und wurde von einer Kinderärztin erfolgreich behandelt. Weil sie vor der vollständigen Genesung in Urlaub ging, übernahm ein Stellvertreter. Dieser sagte bei der ersten Konsultation, er hätte dem Kind keine lebensrettenden Medikamente gegeben – ein Schock für die Eltern. Den Namen dieses Arztes kennen wir nicht mehr und so können wir ihn auch nicht fragen, welche Form von Verantwortung ihn zu dieser Aussage getrieben hat. Sicher ist: Heute wäre er kein Einzelfall.
Frau Ehrismann und ihr vor einigen Jahren verstorbener Ehemann haben nicht nur Bernadette und ihrem eigenen Gewissen viel gegeben, sondern auch sehr viel erhalten dafür. Frau Ehrismann sagt selber, ohne Bernadette wäre sie bestimmt nicht so rüstig. Von Verantwortung mag sie nicht sprechen. Das Kind in der Familie zu behalten sei immer selbstverständlich gewesen.
Und profitiert von dem zunächst unbequemen Verantwortungsgefühl der Ehrismanns hat auch die Gesellschaft, deren Qualität sich bekanntlich an ihrem Umgang mit den Schwächsten misst.


Zwischen dem ergreifenden Leben der Ehrismanns und der grossen Welt mit der Gesellschaft von uns Menschen gibt es eine mehrspurige Brücke.
Die erste Spur: Sie sind kein Einzelfall. Es wimmelt auf der Welt von Menschen, die einer inneren Verantwortung gerecht zu werden versuchen und dabei unbemerkt und ohne Applaus Grossartiges leisten. Man muss nur den Blickwinkel ein bisschen verändern und die Fokussierung vom globalen Desaster lösen, und schon werden die Wunder sichtbar, die der von innen heraus motivierte Mensch hervorbringt, oft ohne es zu merken. Deshalb sind auch die Preise für Mut und Responsibility, die seit einigen Jahren in Mode sind, der Sache, die sie fördern wollen, eher hinderlich. Mir ist jedenfalls kein stichhaltiger Hinweis bekannt, dass intrinsische Stärke durch extrinsische Kräfte wie Rampenlicht, Belohnungen oder Zertifikate genährt würde. Im Gegenteil: Schon Schulkinder lernen weniger, wenn sie belohnt werden. Und bis wir erwachsen sind, haben die meisten von uns schon die Erfahrung gemacht, dass die Wahrnehmung einer inneren Verantwortung für uns selber fast immer mit persönlichen Opfern oder erheblichen Risiken verbunden ist – so ziemlich das Gegenteil eines Schecks. Die Preise dürften also eher den Stiftern nützen als der social responsibility.
Die zweite Spur: Die Kraft der Ehrismanns – die in uns allen schlummert – ist genau dieselbe, die auch in den ganz grossen Weltbewegern wirkte. Luthers «Hier stehe ich und kann nicht anders» hat die ganze Christenheit umgepflügt. Gandhis Marsch hat die Entkolonialisierung angebahnt. Martin Luther Kings Traum hat die Rassentrennung beseitigt, wobei sein Traum nie das Licht der Welt erblickt hätte, wenn Rosa Parks sich nicht geweigert hätte, ihren Sitzplatz in einem Bus von Montgomery einem Weissen zu überlassen.


Wir brauchen keine historischen Figuren zu werden. Es reicht schon, wenn wir besser auf uns hören und der inneren Verantwortung Raum geben. Es reicht, wenn der Filialleiter das unverkaufte Brot der Gassenküche oder den Schweizer Tafeln verschenkt. Vermutlich würde ihm nicht einmal gekündigt, schon gar nicht, wenn sich ein paar Kolleginnen und Kollegen mit ihm solidarisieren. Aber noch tut er vor dem Brotgestell, was er schon gestern getan hat: innerlich abstellen. Aber er hat einen Vorteil: Im Gegensatz zu den höchstbezahlten Managern an den Schalthebeln der globalen Wirtschaft spürt er sich noch. Und er ist noch zu jung, um von der Pensionierung Befreiung zu erhoffen.
Irgendwie scheinen wir individuell und kollektiv auf ein Signal zu warten, das uns zur Verantwortung ruft, das uns endlich weckt und uns in die Wirklichkeit holt; nicht in die Wirklichkeit des Geldes, der Organisation und der Konventionen, sondern in die unausweichliche Wahrheit des Blicks in den Spiegel. Nur: Dieses Signal tönt bereits, und zwar ziemlich laut.
Dass wir es nicht hören, ist nicht nur einer gewissen eigenen Taubheit geschuldet, sondern auch dem Lärm des grössten Feindes der inneren Verantwortung: der äusseren Verantwortung. Man kann die Zunahme an formalisierter Responsibility in den letzten Jahrzehnten und der Kontrollen zu ihrer Einhaltung ohne weiteres als Resultat der Verdrängung der inneren Verantwortung verstehen, durch Monetarisierung, Konkurrenzdruck und kollektive Ängste. Wer ums Überleben kämpft, hat keine Zeit für Gefühle. Wer sich verleugnen muss, kann die eigene Wahrheit nicht wahrhaben. Und wer ständig auf die Stimme des Herrn hören muss, hat kein Ohr für seine innere Stimme. Diesem Menschen muss die Gesellschaft sagen, was seine Verantwortung ist: Brot zu verbrennen, die Kinder ins Frühenglisch zu schicken, sich beim Geschlechtsverkehr mit Fremden zu schützen. Je mehr Kommandos, desto weniger Mensch – weniger Mensch, noch mehr Kontrolle.


Deshalb sind die Appelle an die Verantwortung vermutlich so fruchtlos – an die Verantwortung fürs Klima, die Verantwortung für eine gerechte Wirtschaft durch fairen Einkauf, die Verantwortung für ein gelingendes Leben durch ständige Bildung und regelmässige Brustkrebs-Screenings, an die Verantwortung für alles. Am Ende  dieser Entwicklung steht ein Mensch, der für nichts, und ein System, das für alles Verantwortung trägt.
Man mag das Wort bald nicht mehr hören. Es lenkt ab vom Leben, wie es gelebt werden möchte: aus vollem Herzen. Auch ist es – in seltsamem Kontrast zu seinem elementaren Anspruch – ein eigentümlicher, komplizierter Begriff. Wie verworren klingt doch Verantwortung im Vergleich zu Mut, Pflicht oder Kraft! Selbst seine Herkunft ist unklar: Im etymologischen Wörterbuch des DTV mit 1800 Seiten ist der Begriff nicht einmal verzeichnet. Erstmals aufgetaucht ist er Ende des 15. Jahrhunderts – in Rechtsschriften, was wohl auch damit zusammenhängen dürfte, dass diese Dokumentengattung besonders sorgfältig überliefert wurde.
Lassen wir die Verantwortung doch, wo sie hingehört: bei den Rechtsgelehrten. Dort ist sie bestens aufgehoben, wie die Tatsache zeigt, dass Richter immer weniger Urteile fällen, sondern die Entscheidung Experten übertragen, die keine Verantwortung zu tragen haben. Je schneller wir die Verantwortung entmenschlichen, desto besser. Dann erkennen wir vielleicht, wo sie liegt – auch vor dem Brotregal.         

20. November 2014
von:

Über

Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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