Die Revolution geht durch den Gaumen

Die Slow-Food-Bewegung wächst schnell - und fordert grundlegende Änderungen der Nahrungsmittelproduktion

Am Anfang der Slow-Food-Bewegung vor 17 Jahren stand zwar der Genuss. Jetzt aber steht der Schutz der kleingewerblichen Lebensmittelproduktion vor dem globalen Industrie-Food im Vordergrund. Der Slow-Food-Kongress von Ende Oktober in Turin zeigt: Hier wird Politik gemacht, mit Geschmack, Herz und Power.

Für einmal geht der Massengeschmack in die richtige Richtung. 7000 Delegierte der Slow-Food-Bewegung aus aller Welt pilgerten Ende Oktober nach Turin. 200‘000 Besucher strömten an die gleichzeitige Fachmesse «Salone del Gusto», an der hunderte von Nahrungsmittelproduzenten ihre Produkte, die den Richtlinien von Slow-Food entsprechen, vorstellten. Der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano machte seine Aufwartung und der italienische Aussenminister Massimo D‘Alema sprach an der Schlusszeremonie. Trotz des überwältigenden Echos war der Slow-Food-Kongress unseren Medien kaum eine Zeile wert. Die 1989 gegründete Slow-Food-Bewegung zählt heute weltweit gegen 100‘000 Mitglieder und gewinnt ständig an Einfluss. Sie wehrt sich erfolgreich gegen die Vereinnahmung durch mächtige Lobbygruppen und ist eine strikte Non-profit-Organisation. Die vielfältige und aktive Bewegung der Bündnisse zwischen Produzenten, Verarbeitern und Händlern ist ein wachsender Faktor innerhalb einer gesellschaftlichen Realität, bei der es nicht nur um Lebensqualität geht, sondern um das Leben selbst. Denn: Nahrung ist Leben! Nicht die Industrie, die uns ständig mit neuen Labels und gewinnorientierten Marktstrategien zur Kasse bittet, ernährt uns, sondern BäuerInnen und VerarbeiterInnen.

Grossveranstaltung des guten Geschmacks
Der von der Stiftung Terra Madre und der internationalen Slow-Food-Bewegung organisierte Kongress war eine Grossveranstaltung des guten Geschmacks und der solidarischen Politik. 1500 NGOs und Kooperativen aus dem Lebensmittelbereich nahmen teil, 1000 Köche, Vertreter von 400 Universitäten und prominente
Aktivisten aus der Umweltbewegung. Der bewegende Aufmarsch der Delegierten aus 148 Ländern erinnerte an den Aufzug der Athleten an olympischen Spielen. Sie vertraten rund zwei Millionen in der Nahrungsmittelbranche tätige Menschen.
Zur Debatte stand der bedrohliche Status quo von Produktion, Verarbeitung und Handel mit Nahrungsmitteln. Zur Debatte standen die Verarmung der Biodiversität, die Überfischung der Meere, gentechnisch veränderte Nahrungsmittel, Verschuldung und Verarmung von Kleinproduzenten, Behinderung durch bürokratische Vorschriften und soziale Ökologie und Ökonomie. In Vorträgen, Seminaren und Podiumsgesprächen wurden Informationen ausgetauscht, neue Perspektiven erläutert und Netzwerke geknüpft.
Ein Programm mit dem schlichten Titel «Über die Zukunft der Ernährung» wurde verabschiedet. Der Inhalt ist ein revolutionärer Aufruf, den Missbrauch der menschlichen und natürlichen Ressourcen in der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft zu stoppen und benennt «Ross und Reiter» der sozialen und ökologischen Apokalypse der Ernährungs- und Landwirtschaft.

Gut, sauber und richtig
Wie sollten unsere Lebensmittel sein? Carlo Petrini, Gründer und Präsident von Slow Food und charismatischer Vordenker der Bewegung, bringt es auf den Punkt: Gut, sauber und richtig!
Gut – weil es einsichtig und klar ist, dass Essen gut und gesund sein soll. Gut im Sinne von schmackhaft, dem kulturellen und klimatischen Hintergrund entsprechend. Gut – weil Essen und Trinken mehr ist als die Aufnahme von Kalorien und Vitaminen und das Essen auch einen gesellschaftlichen Hintergrund hat.
Sauber – weil es einsichtig und klar ist, dass Essen sauber sein soll. Nicht die hygienischen Vorschriften, die den kleinen Produzenten die Arbeit verunmöglichen, machen das Essen sauber. Vorschriften, wie die zwei Toiletten in der Alpkäserei, eine für Männer, eine für Frauen, sind unsinnig. Es braucht die Sauberkeit der Tradition, das Einhalten und Weitergeben von überliefertem Wissen, die Anerkennung der handwerklichen, landwirtschaftlichen, gastronomischen Fähigkeiten. Sauber im Sinne von natürlichen Anbau- und Zuchtmethoden, wie sie sich im Laufe der Jahrtausende herausgebildet haben. Respekt vor den Pflanzen und Tieren, Gewässern und Böden ist wichtiger als kurzfristige Ertragssteigerungen mit Hilfe von Pestiziden, unnatürlichen Futtermitteln und hybridem Saatgut!
Richtig – weil es einsichtig und klar ist, dass der Bauer für seine Arbeit anständig bezahlt wird und der Händler seine Marge nicht in obszöne Höhen schraubt. In den letzten Jahren gab es unter den indischen Bauern, die von den Grossproduzenten in die Schuldenfalle getrieben wurden, 140‘000 Selbstmorde.
Richtig ist auch die angestrebte Verbindung von Produzenten und Konsumenten. Petrini spricht in diesem Zusammenhang vom Konsumenten als Co-Produzenten. Wer weiss, woher die Lebensmittel kommen, und die Zusammenhänge kennt, kann die Fragen nach der «Richtigkeit» eines Produktes selbst beantworten.

Der Geschmack überwindet politische Grenzen
Die Ziele und Programme von Terra Madre sind nicht nur menschlich, sie überwinden auch Gräben, die von der Politik nicht mehr bewältigt werden können. So trafen sich Produzenten und Gastronomen aus Israel, Palästina, Syrien und Libanon zum Erfahrungsaustausch. Sie baten jedoch darum, weder fotografiert, noch zitiert zu werden, da ihnen eine solche Öffentlichkeit in ihren Ländern mehr Schaden als Nutzen bringen würde. Carlo Petrini bedauerte diese Entwicklung und forderte den Mut und das Recht, auf diese Art von Gesten zu bestehen, die die Seelen der Menschen verbinde und die Solidarität untereinander betone. Wer auf gutem Geschmack besteht, hat auch gute Beziehungen.

David Höner ist Koch, Journalist, Hörspielautor und Gründer von «cuisine sans frontières». Ausgehend von der Erfahrung, dass Gaststätten in Krisengebieten zentrale, unverzichtbare Begegnungsorte darstellen, will «cuisine sans frontières» die Gründung von unabhängigen Gaststätten fördern. Wir werden das Hilfswerk in der nächsten Ausgabe vorstellen.
25. April 2007
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