Konflikte, Hunger, Armut

Wir sollten endlich über die Ursachen reden, die Menschen in die Flucht treiben, und was wir dem entgegensetzen können. Vor allem Hilfe zur Selbsthilfe, findet David Fritz

Flucht und Migration kann viele Ursachen haben - vor allem aber extreme Armut, Konflikte, Diskriminierung, Verlust der Lebensgrundlagen durch Klimawandel oder anderen nicht kontrollierbaren Veränderungen.
Den Menschen dieser Welt ihre Heimat zu erhalten, das fordern auch viele der 17 Nachhaltigkeitsziele, die die UNO-Generalversammlung im September verabschiedet hat. Anders als die Millenniumsziele beschränken sie sich nicht auf südliche Länder, sondern geben den Regierungen aller Länder eine Roadmap vor, wie wir künftigen Generationen unseren Planeten als Lebensgrundlage erhalten.
Inwieweit diese Ziele nun auch umgesetzt werden, ist natürlich noch offen. Aber wenn wir Hunger und Armut massiv reduzieren können, dann reduziert sich auch das Konfliktpotential. Die meisten Konflikte sind das Resultat von Machtkämpfen, die mehr mit Gier als mit Armut zu tun haben. Aber mit steigendem Wohlstand aller Bevölkerungsgruppen würden solche Konflikte eher friedlicher ausgetragen.

Wissensvermittlung als Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung
Die Stiftung Biovision, die einzige Schweizer NGO mit generellem Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der UNO, hat vor allem an der Formulierung von Ziel 2 mitgearbeitet: «Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern».
Dieses Ziel verfolgt Biovision schon seit ihrer Gründung 1998. Ein globaler Kurswechsel in der Landwirtschaft, der kleinbäuerliche Strukturen auf agro-ökologischer Basis und mehr lokale Nahrungssysteme unterstützt, ist laut Weltagrarbericht von 2008 der einzige Weg, um bis 2050 neun Milliarden Menschen mit Essen zu versorgen. An diesem Bericht arbeiteten vier Jahre lang über 400 Wissenschaftler und Forscherinnen aus aller Welt.
Hans R. Herren, Präsident von Biovision und Co-Vorsitzender des Weltagrarberichts, kommentiert: «In einem nachhaltigen System werden alle in der Nahrungskette vorhandenen Elemente wie Umwelt, Mensch, Rohstoffe, Verarbeitung, Infrastruktur und Institutionen berücksichtigt, wodurch der Welthunger gelindert und Ernährungssicherheit gewährleistet werden kann». Die Agroindustrie mit ihrem enormen Aufwand an fossiler Energie, Kunstdünger, Chemikalien, importierten Futtermitteln und Medikamenten kann dagegen kein Rezept für eine langfristig tragfähige Welternährung sein.
Zum einen können sich die weltweit über 500 Millionen kleinbäuerlichen Betriebe, die 70 Prozent sämtlicher Nahrungsmittel produzieren, solch teure Inputs meist gar nicht leisten. Zum anderen zerstört dieses «Doping» auf Dauer unsere Böden und damit natürliche Lebensgrundlagen. Die Kehrseite der industrialisierten Landwirtschaft sind degradierte Böden, verseuchte und übernutzte Gewässer und ein dramatischer Rückgang der Artenvielfalt. Zudem trägt sie erheblich zum Klimawandel bei.
Hinzu kommt das «Land Grabbing» durch Grosskonzerne, das kleinbäuerlichen Familien ihre Lebensgrundlage entzieht. Nach ein paar Jahren intensiver Kultivierung sind die Böden degradiert, der Konzern zieht weiter und hinterlässt der lokalen Bevölkerung eine Wüste.
Auch sonst schrumpfen die Grundlagen der Landwirtschaft. Heute stehen der Menschheit fünf Milliarden Hektaren Agrarland zur Verfügung: etwa 1,5 Milliarden Hektaren Ackerland und Dauerkulturen sowie rund 3,5 Milliarden Hektaren Gras- und Weideland. Davon sind 1,9 Milliarden Hektaren bereits mehr oder weniger stark degradiert. Laut dem unabhängigen Worldwatch Institute gehen jedes Jahr zehn Millionen Hektaren durch Erosion verloren. Zudem verschlingen die wachsenden Siedlungen auch in südlichen Ländern immer mehr Böden. Jedem Menschen steht heute global nur noch halb so viel Agrarland zur Verfügung wie 1960.
Trotzdem produzieren wir heute weltweit rund 4'600 Kalorien pro Kopf und Tag – mehr als das Doppelte, was die Menschheit zum Essen benötigt. Doch durch massive Verluste von der Produktion bis zum Konsumenten, die Herstellung von Biotreibstoffen und die Fleischproduktion hungern noch immer 800 Millionen Menschen. Andere ernähren sich qualitativ schlecht, Konsequenz: Weltweit sind 1,5 Milliarden Menschen übergewichtig und 300 Millionen haben Diabetes Typ2.
Der agrar-ökologische Ansatz ist allerdings sehr wissensintensiv. Dieses Wissen an die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern zu vermitteln ist eine grosse Herausforderung – und das wichtigste Projekt von Biovision in Ostafrika mit ihrem Farmer Communication Programme (FCP). Die Wissensverbreitung darf natürlich nicht auf Ostafrika beschränkt bleiben und sollte Bäuerinnen und Bauern weltweit erreichen. Zudem muss noch sehr viel geforscht werden, auch unter Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten. Diese Aufgabe sollten Staaten übernehmen, weil Grosskonzerne an agrar-ökologischen Methoden nicht interessiert sind, da damit für sie kein Geld zu verdienen ist.
Armutsbekämpfung, nachhaltige Lebensperspektiven und vermehrte Investitionen in Bildung tragen auch zu einer Reduktion des Bevölkerungswachstums bei. Das zeigt auch der UNO-Weltbevölkerungsbericht: In den letzten Jahrzehnten hat die Kinderzahl pro Familie weltweit im Schnitt um mehr als die Hälfte abgenommen, bei gleichzeitigem Rückgang der Säuglingssterblichkeit und Anstieg der Lebenserwartung. Frauenrechte und Bildung für Frauen scheinen die besten Verhütungsmittel zu sein – gebildete Frauen bekommen weniger Kinder und kümmern sich besser um sie.

Die Nachhaltigkeit punktet
Für den Erdgipfel Rio+20 im Juni 2012 publizierte das UNO-Umweltprogramm UNEP den Green Economy Report. Die Autoren empfehlen, jährlich zwei Prozent des weltweiten Sozialprodukts in den Übergang in eine klimafreundliche, ressourceneffiziente Weltwirtschaft zu investieren. Jährlich sollten 198 Milliarden US-Dollar – oder gerade mal 0,16 Prozent des weltweiten Sozialprodukts – in die Landwirtschaft fliessen.
Die Gelder sollten für die Regeneration degradierter Böden und den Kampf gegen Erosion eingesetzt werden. Zudem sollten Regierungen und internationale Organisationen in effiziente Bewässerungssysteme investieren, in diversifizierte Betriebe mit Pflanzenbau und Viehhaltung, in biologische Schädlingskon­trolle, erleichterte Marktzugänge und eine Verminderung der Lebensmittelverluste.
Im UNEP-Bericht werden zwei Entwicklungsmodelle bis zum Jahr 2050 gegenübergestellt. Das eine ist nachhaltige Landwirtschaft, das andere die Fortsetzung der gegenwärtigen Agrarpolitik. Die Überlegenheit des nachhaltigen Szenarios ist eindrücklich: Es ermöglicht eine Steigerung der Nahrungsmittelverfügbarkeit pro Kopf um 14 Prozent, schafft 47 Millionen mehr Jobs in ländlichen Räumen und hilft so wirksam, die Armut zu lindern. Gleichzeitig wird weniger Wasser als heute benötigt, wogegen ohne Kurswechsel 40 Prozent mehr Bewässerung anfallen würde. Dieser Wandel der Landwirtschaft würde bewirken, dass sie bis 2050 nicht mehr zur Klimaerwärmung beiträgt, sondern ein Teil der Lösung wird.
Um allen Menschen dieser Welt eine Heimat zu bieten, fehlt es nicht an Lösungsansätzen. Wenn die Regierungen die UN-Nachhaltigsziele ernst nehmen und umsetzen, dann gibt es durchaus Hoffnung für die Zukunft der Menschheit. Mit der Schaffung einer gesunden Lebensgrundlage für alle werden Migrationsströme mit Sicherheit abnehmen. Eine Zukunft für alle – natürlich!

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Der Autor ist Leiter der Kommunikation und Kampagnen bei Biovision, Stiftung für ökologische Entwicklung.
Eine Zukunft für alle, natürlich
Biovision fördert seit 1998 die Entwicklung, Verbreitung und Anwendung von nachhaltigen ökologischen landwirtschaftlichen Methoden, mit denen Menschen in Entwicklungsregionen sich selber helfen können. Dabei spielt der ganzheitliche Ansatz eine zentrale Rolle: Gesunde Menschen, Tiere, Pflanzen und eine intakte Umwelt sind Ziel in allen Projekten. Biovision ist gemeinnützig und von der ZEWO anerkannt. 2013 wurde die Stiftung Biovision, zusammen mit ihrem Gründer Hans Rudolf Herren, einem führenden Experten für nachhaltige Landwirtschaft, mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
www.biovision.ch
Biovision Spendenkonto: 87-193093-4

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04. November 2015
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