Die Zukunft der Hamas nach dem 7. Oktober 2023 / Teil 1

Dieser längere Text (hier Teil 1) enthält das meiste von dem, was der Autor in den letzten Jahren über die Hamas, über den Konflikt, über den Frieden und über unseren Weg nach vorn gedacht hat. Es ist ein Wissen, welches über einen sehr langen Zeitraum hinweg entstanden ist.

Zerstörung von Gaza
Die Zerstörung von Gaza. Foto: gloucester2gaza

Ich habe seit 2006 immer wieder mit der Hamas verhandelt. Einige Male sogar offiziell, als Privatperson, aber in voller Abstimmung mit den israelischen Behörden. Die meiste Zeit tat ich es jedoch ohne offizielle Unterstützung, informierte aber immer die israelischen Beamten darüber, was ich tat und zu erreichen versuchte. 

Es gab nie einen israelischen Einwand gegen meine Gespräche mit Hamas-Führern. Meistens wurde ich ermutigt, weiter zu machen. Die meiste Zeit der vergangenen acht Jahre habe ich mich auf die Herausgabe der Leichen der 2014 in Gaza getöteten israelischen Soldaten Oron Shaul und Hadar Goldin sowie die Freilassung der noch lebenden israelischen Zivilisten Avera Mengisto und Hisham A-Sayed konzentriert. Ich habe hunderte Stunden in Gesprächen verbracht, um sie nach Hause zu holen. 

Im Laufe von acht Jahren wurden Fortschritte erzielt und Kompromisse von beiden Seiten akzeptiert. Unterm Strich kam das Abkommen jedoch nie zustande. Denn die Hamas verlangte, dass unter den mehreren hundert Gefangenen, die Israel freizulassen bereit war, auch Gefangene mit lebenslanger Freiheitsstrafe sein sollten. Das sind Palästinenser, die wegen der Tötung von Israelis verurteilt wurden. Dies war eine rote Linie für Israel, die nicht überschritten werden durfte. Mehrere Jahre lang haben diese Verhandlungen also keine Fortschritte gemacht.

Als mir klar wurde, dass die Verhandlungen in eine unüberwindbare Sackgasse geraten waren, versuchte ich es mit einer anderen Taktik. Die israelischen Beamten schlugen mir vor, der Hamas wirtschaftliche Anreize anzubieten – Wasser, Strom, sogar Barzahlungen. Die Hamas entgegnete, dass diese Dinge nichts mit den Gefangenen zu tun hätten und unabhängig von der Gefangenenfrage gewährt werden sollten, da es sich um grundlegende Menschenrechte handele, für die Israel verantwortlich sei, da es zusammen mit Ägypten die gesamten Aussengrenzen des Gazastreifens kontrolliere. 

Dann dachte ich, dass wir versuchen sollten, was in der klassischen Verhandlungstheorie gemacht wird – die Wertförderung («expanding the pie»). (Damit ist gemeint, dass mehr Ressourcen in die Verhandlung einbezogen werden, die beiden Seiten dienen – d.Ü.) Ich schlug vor, dass wir zu dem zurückkehren, was ich 2012 versucht hatte und was mit der Ermordung von Ahmad Jabaari, dem Chef des militärischen Flügels der Hamas, durch Israel abrupt endete. 

Damals hatten Ghazi Hamad von der Hamas und ich Texte für einen vorgeschlagenen langfristigen Waffenstillstand und die Öffnung der zivilen Blockade des Gazastreifens ausgearbeitet. Wir waren mehrere Entwürfe durchgegangen, von denen ich einen dem damaligen Verteidigungsminister Ehud Barak und dem Sondergesandten des UN-Generalsekretärs vorlegte. 

An dem Morgen, an dem Jaabri den letzten Entwurf, an dem wir arbeiteten, erhielt, wurde er von Israel ermordet. Jaabri war die Schlüsselperson hinter der Entführung und Gefangenschaft von Gilad Schalit. Vor etwa zwei Jahren holte ich diesen Entwurf aus meinem Computer und teilte ihn erneut mit Hamad in Gaza. Seitdem habe ich versucht, ihn davon zu überzeugen, einige Tage mit mir zu verbringen, entweder in Norwegen, der Schweiz oder in Ägypten, wo wir darüber nachdenken würden, wie wir die Beziehungen zwischen Israel und Gaza ändern könnten. 

Hamad stimmte zunächst einem Treffen zu, und ich traf Vorkehrungen, damit er nach Norwegen reisen konnte. Die norwegischen Behörden schickten jemanden nach Gaza, um mit ihm zu sprechen, und er bekam Angst, dass zu viele Leute wüssten, dass er zu einem Treffen mit mir reisen würde. Es stellte sich heraus, dass die norwegische Aussenministerin beschloss, die Israelis über das geplante Treffen in Norwegen zu informieren, woraufhin ich die Pläne absagte und den norwegischen Beamten mitteilte, dass wir uns nicht treffen würden.

Daraufhin hatte ich ein Treffen in der Schweiz geplant. Ich erhielt eine Einladung von einer Schweizer NGO für Ghazi Hamad, wie von den Schweizer Behörden gefordert, damit sie ihm ein nationales Visum nur für die Schweiz ausstellen konnten. Ich sagte Hamad, dass wir den Schweizern sagen würden, dass wir uns in Genf treffen würden, obwohl der eigentliche Plan war, dass wir uns in einer Privatwohnung in einer anderen Schweizer Stadt treffen würden. 

Aber Hamad wurde ängstlich und misstrauisch und sagte, er habe von Yehya Sinwar – dem Chef der Hamas in Gaza – keine Erlaubnis erhalten, mich in Europa zu treffen. In den letzten Monaten habe ich ihn immer wieder gedrängt, sich mit mir in Kairo zu treffen, und dass niemand davon erfahren dürfe. Er sagte, er könne das nicht. 

Ich denke heute, dass er zu diesem Zeitpunkt in das Geheimnis eines bevorstehenden militärischen Angriffs auf Israel eingeweiht gewesen sein muss – das ist meine Einschätzung. Das bedeutet nicht, dass er alle Einzelheiten der Planung und Durchführung kannte, aber ich glaube, dass die Al-Qassam-Kräfte ohne das Wissen und die Zustimmung der obersten politischen Führung in Gaza nicht hätten tun können, was sie taten.

Jahrelang habe ich geglaubt, dass es möglich gewesen wäre, ein langfristiges Hudna (arabisch für Waffenstillstand) oder Friedensabkommen mit der Hamas auszuhandeln, das die Belagerung des Gazastreifens hätte aufheben und den Gazastreifen wieder in die Wirtschaft des Westjordanlands, Israels und der Welt integrieren sollen/können. Studenten aus dem Gazastreifen hätten an Universitäten im Westjordanland oder in der ganzen Welt studieren können. Ärzte hätten nach Gaza kommen und Krebspatienten in den Krankenhäusern von Gaza behandeln können. Neue Unternehmen hätten eröffnet werden können. Die mehr als 2 Millionen Menschen im Gazastreifen hätten eine Aussicht auf ein besseres Leben haben können. Junge Menschen hätten die Hoffnung haben können, die Welt nicht nur auf den Bildschirmen ihrer Telefone zu sehen. Vor diesem Krieg gab es in Gaza sieben funktionierende Universitäten und Hochschulen, aber keine Arbeit für die Absolventen. Die Arbeitslosigkeit unter den jungen Menschen in Gaza lag bei über 60 %, und selbst diejenigen, die Arbeit hatten, verdienten nicht genug, um der Armut zu entkommen.

Den Gazastreifen arm und unter der Kontrolle der Hamas zu halten, war Teil der von Netanjahu entwickelten Strategie. Er setzte sie mit der Erwartung um, dass eine geschwächte Hamas den Interessen Israels dient, eine Regierung zu haben, die die Hälfte des palästinensischen Volkes kontrolliert und sich der Zerstörung Israels verschrieben hat. Netanjahu ermöglichte und gestattete sogar die Finanzierung der Hamas-Regierung mit Geldern aus einem Staat, der die Hamas und die Muslimbruderschaft offen unterstützt – Katar. 

Die politische Spaltung mit der Hamas auf der einen und der Palästinensischen Autonomiebehörde auf der anderen Seite ermöglichte es Israel, weiterhin zu behaupten, es gebe keinen Partner für den Frieden. 

Gleichzeitig folgte er der Strategie, die Herrschaft von Mahmoud Abbas im Westjordanland zu delegitimieren, aber den Erhalt von genügend Kapital und anderen Interessen im Westjordanland zuzulassen und zu fördern. Er versprach, dass Israel die Sicherheit der Westbank weiterhin mit der Palästinensischen Autonomiebehörde koordinieren würde. Damit wollte Netanjahu den Druck auf Israel verhindern, sich mit der palästinensischen Frage zu befassen. 

In den Augen der meisten Palästinenser arbeitete die Palästinensische Autonomiebehörde für Israel und schützte die Siedler, während sie den Palästinensern keine Sicherheit bot. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat in den Augen der meisten Palästinenser schon vor Jahren den grössten Teil ihrer Legitimität verloren. 

Hamas-Demonstration in Gaza am 15. Juni 2007
Hamas-Demonstration in Gaza am 15. Juni 2007. Foto: Bundesamt für politische Bildung

Die politische Spaltung mit der Hamas auf der einen und der Palästinensischen Autonomiebehörde auf der anderen Seite ermöglichte es Israel, weiterhin zu behaupten, es gebe keinen Partner für den Frieden. Gleichzeitig erklärten Netanjahu und andere Israelis, darunter Bennett, Gantz, Lapid und im Grunde die gesamte israelische Führung, sie würden sich auf keinen Friedensprozess mit den Palästinensern einlassen. Mit dem Abraham-Abkommen von 2020 (ein Abkommen Israels mit arabischen Partnern, das die Gründung eines palästinensischen Staates ausklammert – d.Ü.) wurde die palästinensische Frage vollständig von der israelischen Tagesordnung gestrichen und tauchte in den wiederholten israelischen Wahlgängen überhaupt nicht mehr auf. 

Seit Olmerts Versuchen, 2008 mit den Palästinensern zu verhandeln, hat es keine ernsthaften israelischen Bemühungen mehr gegeben, Lösungen für ein friedliches Zusammenleben im Land zwischen Fluss und Meer zu finden.

Diese für die israelische Gesellschaft angenehme Situation hat es der israelischen Gesellschaft ermöglicht, die Siedlungen auszuweiten und immer mehr Land im Westjordanland unter israelische Kontrolle zu bringen. Netanjahu hat den USA versprochen, keine neuen Siedlungen zu bauen – also wurden «neue Stadtteile» bestehender Siedlungen gebaut, einige viele Kilometer von den bestehenden Siedlungen entfernt. Wilde, gewalttätige, religiös-fanatische Siedler nahmen palästinensisches Land in Besitz und vertrieben die Palästinenser weiter von ihrem Land. Gewalt gegen Palästinenser und Vandalismus gegen palästinensisches Eigentum nahmen zu, alles unter dem Schutz der israelischen Armee und Grenzpolizei. 

Es sollte uns allen klar werden, dass man nicht 56 Jahre lang ein anderes Volk besetzen und erwarten kann, Frieden zu haben. 

Palästinensische Gewalt, in Dschenin, Nablus und anderswo, sowohl organisiert als auch von Einzelpersonen, war eine natürliche Reaktion auf die israelische Taktik, die Palästinenser aus Palästina zu vertreiben – alles aus dem Lehrbuch von Bezalel Smotrich (dem israelischen Finanzminister) und Itamar Ben-Gvir (dem israelischen Minister für Sicherheit – beide rechtsextreme Regierungsangehörige Israels – d.Ü.), mit Netanjahu an ihrer Seite. 

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, der Palästinenser, Araber und Muslime immer wieder gegen Israel vereint, sind die Angriffe auf die Al-Aqsa-Moschee. Die ständige Änderung des «Status quo», der besagt, dass Al Aqsa – das gesamte Gelände des Haram a-Sharif/Tempelbergs – nur für muslimische Gebete und die Kotel für jüdische Gebete bestimmt ist, wird von Palästinensern und Muslimen als Teil eines grossen Plans Israels zur Beseitigung der Moscheen und zum Wiederaufbau des Tempels angesehen. 

Die israelischen Versicherungen, dass dies nicht geschehen wird, werden nicht geglaubt. Sie führen als Beispiel das Grab der Patriarchen in Hebron an, um zu zeigen, wie die Juden den Ort in Besitz genommen und mit Gewalt die heilige Stätte geteilt haben, mit dem Plan, den Muslimen schliesslich zu verbieten, dort zu beten. Al Aqsa ist der «nukleare» Nerv des israelisch-palästinensischen Konflikts, und wenn er berührt wird, kommt es zu Explosionen.

Ein Shaheed zu werden ist die Garantie für das ewige Paradies, das so viel wichtiger ist als das kurze Leben in dieser Welt. Wie kann man dagegen Abschreckung aufbauen? 

Es gibt keinerlei Legitimation für das, was die Hamas und andere am 7. Oktober innerhalb Israels getan haben. Es handelte sich um unmenschliche, unentschuldbare Verbrechen, die niemals vergessen oder verziehen werden können. Die Hamas hat es verdient, ihr Existenzrecht als Regierung für jedes Gebiet und insbesondere für das Gebiet neben Israel zu verlieren. 

Es ist sehr zweifelhaft, dass die Hamas bei palästinensischen Wahlen vor dem 7. Oktober mehr als 30 % der Stimmen erhalten hätte – im Gazastreifen sogar weniger als im Westjordanland, denn im Gazastreifen hat man die Erfahrung von 17 Jahren Hamas-Herrschaft gemacht. Die Hamas hat sich bei ihrem Angriff auf Israel wie ISIS verhalten, und obwohl die Hamas nicht ISIS ist (es gibt viele Unterschiede zwischen ihnen), hat die Hamas die Entschlossenheit Israels, sie als politische und militärische Instanz, die den Gazastreifen kontrolliert, zu beseitigen, voll und ganz verdient.

Wir Israelis müssen endlich damit beginnen, uns der Täuschung zu stellen, die wir seit Jahrzehnten mit fast völliger Akzeptanz gelebt haben. Es sollte uns allen klar werden, dass man nicht 56 Jahre lang ein anderes Volk besetzen und erwarten kann, Frieden zu haben. Man kann nicht mehr als 2 Millionen Menschen in einen menschlichen Käfig sperren und erwarten, dass man Ruhe hat. 17.000 palästinensische Arbeiter in Israel waren ein guter Anfang der Bennett-Lapid-Regierung. Aber es sind viel zu wenige und viel zu spät, um die Realität in Gaza zu verändern und ein wirkliches Interesse an der Wahrung der relativen Ruhe zu schaffen. 

Das gescheiterte Konzept, die Hamas abzuschreckenwird endlich verstanden, aber aus den falschen Gründen. Ich habe während und nach jeder Runde der Kämpfe mit der Hamas und dem Islamischen Dschihad im Gazastreifen der Vorstellung widersprochen, dass die Hamas abgeschreckt werden könnte. Ich habe in den Studios des israelischen Fernsehens wiederholt gesagt, dass Israel keine Abschreckung gegen die Hamas schaffen kann. 

Nicht nur, dass die Hamas-Kämpfer und -Führer keine Angst vor dem Tod haben. Sie rekrutieren Hamas-Kämpfer von klein auf aus den Familien der Hinterbliebenen unmittelbar nach jeder Runde des Konflikts. Sie werden dann in den (verzerrten) islamischen Werten des Sterbens für Palästina, für Allah, für den Islam, für Al Aqsa und zur Rache für den Tod ihres Vaters, Bruders, ihrer Mutter, Schwester usw. erzogen. Sie glauben wirklich, dass das Leben auf der Erde kurz ist und nur dann einen wahren Sinn hat, wenn man ein Märtyrer wird, ein Shaheed für Allah, Palästina, Al Aqsa, den Islam und um Rache zu nehmen. 

Ein Shaheed zu werden ist die Garantie für das ewige Paradies, das so viel wichtiger ist als das kurze Leben in dieser Welt. Wie kann man dagegen Abschreckung aufbauen? Aber die pensionierten Generäle in den Fernsehstudios haben nie zugestimmt und nie zugehört, ebenso wenig wie die Generäle und Politiker, die die wirklichen Entscheidungen darüber treffen, was Israel tut.

Teil 2 folgt am Donnerstag.


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