Aus der Zeit gefallen

Nach 1200 Jahren wird in Süddeutschland erstmals der St. Galler ­Klosterplan realisiert. Mit alter Technik, ein paar Ochsen und vielen ­Freiwilligen. Zeithorizont: 60 Jahre. Die Geschichte eines verrückten ­Unterfangens.

Als Bürgermeister Arne Zwick an einem Vormittag im Mai 2010 dieses elende Dokument auf dem Schreibtisch hatte, dachte er: Nicht schon wieder so ein Spinner. Täglich bekam er solche Nachrichten. Ideen von Leuten, die Phantasie hatten, aber keinen Sinn für Realität. Und jetzt lag da dieses Dokument, fünf A4-Seiten Text und Skizzen, ein Abbild des St. Galler Klosterplans aus dem 9. Jahrhundert. Gebaut werden sollte das Dorf mit nichts als Menschenkraft und ein paar Ochsen. Mit Mitarbeitern, die allesamt in Leinenkutten rumlaufen und aus Tonkrügen trinken würden. Die Zahl Vierzig hatten die Initianten in den Zeitplan geschrieben. Vierzig Jahre, bis alles stehen sollte. Achtundzwanzig Hektare Land, die sie brauchten. Und natürlich fragten sie auch nach Geld. Denn Bert Geurten und Verena Scondo hatten bis dahin nur eine Idee. Und viel Zeit.

Der weltbekannte St. Galler Klosterplan wurde vor über 1200 Jahren auf der Insel Reichenau im Bodensee gezeichnet, aber nie in die Tat umgesetzt. Er liegt bis heute in der Stiftsbibliothek St. Gallen, wo die zwei Initianten ihn fanden und beschlossen, dass die Vision nun endlich Realität werden sollte. Danach hörten die Schweizerin Scondo und der Deutsche Geurten neunundvierzig Mal das Wort Nein – über Jahre stiessen sie auf taube Ohren, versuchten überall im Land Fläche für ihren Campus Galli zu finden und jemanden, der zahlt. Bis die zwei alten Freunde in Messkirch endlich Erfolg hatten, einer Kleinstadt in Baden-Württemberg, zwischen Donau und Bodensee. Weit genug von den Städten entfernt, aber zu weit weg von Ausflugszielen wie der Uferpromenade des Bodensees, um tatsächlich Touristen anzuziehen. Ein Niemandsort, schön, aber nicht schön genug, unbekannt bisher. Ein Ort, der verrückte Pläne gut gebrauchen kann.

Als gäbe es kein Heute
August 2016, Mittagshitze. Die ehemalige Sekretärin Scondo sitzt am Eingang der Baustelle und verkauft im Minutentakt Tickets. Geduldig erklärt sie den Familien, Rentnern, Mittelalter-Fetischisten und Wanderern die Idee hinter der Sache, wo der Töpfer gerade töpfert und wo die Toiletten sind. Seit 2013 ist die Baustelle für die Öffentlichkeit zugänglich, von April bis Oktober. 12 000 Besucher hatte Campus Galli im ersten Jahr, Tendenz steigend. Das Ziel sind 120 000 pro Jahr; dann würde sich das Unterfangen selbst finanzieren.
Dass dies gelingt, ist sehr wahrscheinlich. An Sonntagen ist der Parkplatz vor der Baustelle rappelvoll, die Führungen sind ausgebucht. Trauben von Besuchern machen sich auf den Weg zur Waldlichtung, vorbei an Blumenwiesen, der Ochsenweide und frei gepflanzter Gerste, hin zum Startpunkt des Rundwegs, der die Baustellengrenze markiert. Alles, was links vom Weg ist, soll irgendwann verbaut sein. Und zwar so, wie es der St. Galler Klosterplan vorsieht: Eine riesige Steinkirche in der Mitte, mit Platz für bis zu 1000 Personen. Ein Kräutergarten, ein Dormitorium für die Mönche, eine Apotheke, Arbeitsplätze für die Seiler und Besenmacher, die Färber und Weber. Eben alles, was Klostermönche zu dieser Zeit brauchten, um autark leben und arbeiten zu können. Bis in ein paar Jahrzehnten sollen über vierzig Gebäude und Einheiten stehen, eine Mischung aus Freilichtmuseum und ewiger Baustelle.

Alles wie im 9. Jahrhundert …
Bis in Messkirch tatsächlich eine Klosterstadt steht, werden statt der budgetierten vierzig allerdings mehr als sechzig Jahre ins Land ziehen. Auch, weil hier ein Stück Geschichte neu geschrieben wird. Campus Galli ist ein Experimentierfeld für die Forschung, hier wird Wissen neu aufgearbeitet. Der Guss einer Kirchenglocke wurde letztes Jahr abgebrochen, weil die Gussform nicht dicht war. Der Töpfer brennt dieses Wochenende das erste Mal allein Tongefässe in einem Ofen aus Lehm, den er selbst zusammengebaut hat. Er weiss noch nicht, ob das Brennen funktionieren wird. Deshalb dauert alles länger. Und kostet mehr. Die Stadt Messkirch hatte mit 600 000 Euro für die ersten fünf Jahre gerechnet, nun sind es nach knapp drei Jahren schon 1,5 Millionen. Die Initianten haben die deutsche Bürokratie unterschätzt, die nötige Infrastruktur, die Bedürfnisse der Gäste.
Das Projekt Campus Galli ist eine Gratwanderung zwischen Plan und Zufall, zwischen Machbarem und Unrealistischem, Mittelalter und 21. Jahrhundert. Ein eigens dafür eingestellter Historiker segnet jedes Gewand ab, jeden Hammer und jede Wurstzutat. Jeder Besen, jedes Messer, jede Schindel ist von Hand gefertigt, in stundenlanger Arbeit. So wie im 9. Jahrhundert, als Klöster gebaut wurden, werden die meisten Arbeiter die Fertigstellung ihrer Anlage wohl nicht mehr erleben.

… oder doch nicht?
Um die dreissig Leute arbeiten auf der Baustelle, viele waren früher Langzeitarbeitslose. Sie stiegen bei Campus Galli als 1-Euro-Jobber ein, das verheimlicht hier keiner. Für manche war das Projekt die Rettung, ein Neuanfang. So wie für Mario Angelo Marani. In aller Seelenruhe spult er wie ein Kassettengerät die immer gleichen Sätze herunter, wie er die Weiden ins Wasser legen muss, damit er sie biegen und damit Körbe fertigen kann. Der Fünfzigjährige hat in seinem Leben achtundvierzig Menschen zusammengehauen, sass fast zwei Jahre im Gefängnis. Jetzt sitzt er den ganzen Tag im 9. Jahrhundert und schlägt niemanden mehr zusammen. «Campus Galli hat mein Leben verändert», sagt Marani; hier gebe es keinen Druck, nur die Gemeinschaft, man helfe sich gegenseitig, man produziere Sinnvolles.

«Keiner von uns würde im Mittelalter leben wollen», sagen die Arbeiter einstimmig, nachdem sie ihr Geschirr fürs Mittagessen in die Spülmaschine gestellt haben. Natürlich müsse man ein Faible haben für diese Zeit, man müsse das Handwerk lieben und gerne in der Natur sein. Aber hier leben? «Nur, wenn es eine Satellitenschüssel auf dem Dach gibt.» Die Leute hier sähen vielleicht aus wie Aussteiger, in ihren Kutten und mit den zerzausten Haaren. Aber schliesslich lebe man nur von 10 bis 18 Uhr im Mittelalter. Da ist die Baustelle geöffnet, dann wird hier gearbeitet, und dann wollen die Besucher auch Authentizität sehen. Man muss fähig sein, über achthundert Besucher am Tag zu bespassen. «Da bleibt fast gar keine Zeit mehr für die eigentliche Arbeit», sagt der Töpfer Martin Rogier.

Ein Stück weit Kommerz
Die Arbeiter stehen an ihren Stationen des Rundwegs, den ganzen Tag, und erklären den Besuchern, was und wie sie hier eigentlich werken. Denn Campus Galli ist nicht nur Handwerks-Schmiede und Freilichtmuseum, sondern auch ein Stück weit Kommerz: Es gibt bereits Jugend-Beschäftigungstage und professionelle Führungen mit Historikern. Man kann sich Kaffee in sechs verschiedenen Ausführungen aus dem Automaten holen, Magnum-Glace aus der Tiefkühltruhe. Kristalle und Trockenfrüchte werden bereits von externen Anbietern feilgeboten, die Standmiete zahlen.
Das Spanferkel, das hier ursprünglich am Spiess drehen sollte, wurde von den Behörden untersagt. Die Wege wollten sie schmaler bauen, «ging aber nicht, sonst kommt die Feuerwehr nicht mehr durch», sagt Scondo. Kritiker sagen, die Baustelle sei ihnen nicht authentisch genug. Doch das sei eben Vorschrift, bauen wie früher, das gehe nicht ohne Kompromisse. Die Leute wollen etwas erleben, und sie wollen konsumieren. Die Betreiber brauchen das Geld. Auch, weil die Bürger von Messkirch das Projekt nicht ewig unterstützen wollen.

Kritik an der Finanzierung
Von den acht Anwesenden am Stammtisch des Gasthofs zum Adler waren nur drei jemals auf dem Bauareal, der Rest weigert sich dezidiert. Man habe nicht wirklich etwas gegen das Projekt, heisst es hier, sondern eher etwas gegen die Finanzierung. Vernünftige Sportanlagen gäbe es hier seit Jahren nicht, Löcher in den Strassen umso mehr, man habe keine Rennbahn und jedem Verein werde das Geld gekürzt, aber das Klosterdorf, das erhalte Hunderttausende Euro. Ein wenig verloren zwischen den Gegnern aus dem Dorf sitzt Thomas Schlude auf der Eckbank, auch er einer von hier, aber auf der anderen Seite der Geschichte. Er ist Finanzberater des Projekts und sitzt auch im Gemeinderat. Auch er hat das Projekt durchgewinkt, «weil Messkirch Tourismus braucht» und er die Vision verstanden habe. Natürlich sei man in der Startphase defizitär, und ja, das Projekt habe von Anfang an viel mehr Geld verschlungen als ursprünglich vorgesehen, «aber vor uns hat ja auch keiner je sowas gemacht». Eckwerte gebe es keine, nur Versuch und Irrtum, bisher nun mal auf Kosten der Fördergelder.
Selbsttragend sein, das sei das Ziel, bis 2018 wolle man es erreichen, sagt Schlude. Klar sei: Campus Galli sei eine grosse Chance für diese Gegend. «Das bringt Kaufkraft nach Messkirch. Wenn Saison ist, sind hier alle Ferienwohnungen ausgebucht.» Campus Galli könnte zum Jahrhundertprojekt werden.

Freiwillige schuften gratis
Neben den dreissig Angestellten kommen jedes Jahr Hunderte Freiwillige auf die Baustelle, ohne sie ginge es nicht. Sie arbeiten gratis hier, müssen für die Unterkunft sogar noch draufzahlen. Ihnen mache das aber nichts, sagen sie. «Natürlich gibt das alles keinen Sinn, in einer Welt, in der es nur um Optimierung von Nutzen geht», sagt Stefan Mercamp, IT-Projektleiter in einem grossen Unternehmen. Er ist mit Frau und drei Kindern hier, eine Woche Schuften auf dem Bau. Man sei im Job immer online, kontinuierlich verfügbar, da frage man sich auch mal: Was mache ich hier eigentlich den ganzen Tag? Hier stelle sich diese Frage nicht. Man könne auch ins Kloster gehen, für eine Auszeit. «Aber da baue ich lieber eins.» Diese Idee vom Wert des Menschen, vom Wert der Arbeit habe auch etwas Religiöses, sagt Verena Scondo, und schliesslich werde hier ja auch ein Kloster nachgebaut.

Am Ende ist Campus Galli ein bisschen Erlebniswelt, Kulturbewahrung, Burnout-Therapie. Auf dem Brachland wird experimentelle Architektur betrieben, Gruppentherapie für Manager, Beschäftigungstherapie für Jugendliche. Man müsse hier bei Regen arbeiten, bei Kälte, sagt Finanzberater Schlude nicht ohne Stolz. Man arbeite den ganzen Tag in der Natur, mit einfachen Mitteln. «Uns fehlen noch viele Erfahrungswerte. Diese Unsicherheit müssen wir akzeptieren.» Dafür würden die Leute viel Anerkennung erfahren für ihre Arbeit auf der Mittelalterbaustelle, für ihr handwerkliches Geschick. «Wo sonst im Berufsleben kriegen Sie das noch?»
Verena Scondo sagt, dieser Ort tue den Leuten gut, er beruhige sie, gebe ihnen einen Sinn. Er gebe den Menschen Würde zurück und lasse sie auf getane Arbeit blicken, etwas Konkretes, einen Ziegel, eine Schindel, ein Stück gesponnene Wolle. «Wir leben in einer so technologisierten Zeit. Die Menschen sind verloren in diesen ganzen Prozessen. Sie wollen einfach mal runterkommen, die Natur spüren, etwas mit den Händen machen.» Und so wird man hier weiterbauen, nach Versuch und Irrtum. Zeit ist ja genug.

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Campus Galli
Hackenberg 92, DE-88605 Messkirch
Saison: 24. März bis 4. November
Di–So 10–18 Uhr
Erwachsene: EUR 9, Kinder 6–16 Jahre: EUR 6, Familien: EUR 21.50
Gruppen ab 12 Pers.: Ermäss., Führung EUR 3
Informationen und Buchung: www.campus-galli.de

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Anna Miller ist freie Journalistin und Autorin. Ihr Hauptarbeitsort ist Zürich. www.anna-miller.ch
Die Fotografin Claudia Link arbeitet in Basel. www.claudialink.ch
Erstmals erschienen in bref No.18; leicht gekürzte Fassung