Schweiz: Ist 100 Prozent Bio möglich?

Mehr Bio in der Landwirtschaft ist jedenfalls in greifbarer Nähe. Bisher folgten die Stimmbürger noch dem Bauernverband. Doch die Visionäre naturnahe Landwirtschaft legen nach.

Bioland Schweiz
Foto: Mia Leu

Wäre das nicht wunderbar? Keine Pestizide, kein Kunstdünger. Schmetterlinge und Wildbienen. Seen, die nicht mehr belüftet werden müssten. Sauberes Grundwasser überall. Die Vision heisst Bioland Schweiz.

Im Jahr 2022 betrieben 7819 von 48 344 Schweizer Bauernhöfen (18 Prozent) biologische Landwirtschaft. Da ist also viel Luft nach oben. Nur noch Biobauern? Das entspricht tatsächlich auch den EU-Zielen. Noch sind es im EU-Raum 9,65 Prozent der Betriebe, die nach ökologischen Prinzipien wirtschaften. Bis 2030 soll jeder vierte Hof auf Bio umgestellt haben. Die Luxemburger wollen spätestens 2050 sogar ganz auf Biobasis produzieren. Dabei hilft ihnen das Schweizer Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FIBL).

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Auch die Schweizer Agrarintelligenzia interessiert sich für die Voraussetzungen für den Totalumbau der Schweizer Landwirtschaft. So hat sich die dem Bund nahestehende landwirtschaftliche Forschungsstelle Agroscope bereits im Jahr 2013 mit den ökonomischen Implikationen eines Umbaus in Richtung «Bioland Schweiz» beschäftigt. Das Land, so stellten die Autoren damals fest, erfülle dafür ideale Voraussetzungen: So seien die hiesigen Konsumenten wohlhabend genug, um sich Bioprodukte leisten zu können. Ausserdem könne der Schweizer Staat als einer der wenigen in Europa eine Totalumstellung überhaupt anordnen.

Eine komplett umgestellte Landwirtschaft würde gegenüber heute 42 Prozent weniger Energie verbrauchen. Allerdings gehen damit auch Ertragseinbussen zwischen 17 (Getreide) bis 50 Prozent (Zuckerrüben) einher. Zu rechnen ist auch mit weniger Fleischerzeugnissen, da Tiere in der Biolandwirtschaft mehr Ackerflächen, grössere Ställe und Ausläufe benötigen. Die Studienautoren rechnen hier mit einem Rückgang der Produktion um 25 Prozent.

Und was machen die Konsumenten nach der Umstellung? Die Studie «Bioland Schweiz» prognostiziert: Entschieden sich Herr und Frau Schweizer wirklich konsequent für Bio, stiege das Einkommen der Bauern gegenüber heute um 25 Prozent. Umgekehrt, wenn die Konsumenten auf günstigere Importprodukte auswichen, müssten die Landwirte Einkommenseinbusse bis zu 50 Prozent in Kauf nehmen.

Nicht nur Agroscope, auch das FIBL, das mehrere Ableger in Europa hat, befasst sich intensiv mit den Implikationen der Umstellung auf Bio. Es betreibt in der Nähe von Basel seit 1978 einen einzigartigen Feldversuch, bei dem der biologisch-dynamische, der organisch-biologische und der herkömmliche Landbau miteinander verglichen werden. Zwar stellen die Versuchsleiter auch hier fest, dass biologisch angebaute Kulturen um einen Fünftel weniger ertragreich sind. Allerdings fällt die Bilanz positiver aus, bezieht man die Ersparnis an Düngemineralien mit ein: 65 Prozent weniger Stickstoff, 40 Prozent weniger Phosphor und 45 Prozent weniger Kalium braucht biologisch gezogenes Gemüse. Und es braucht null chemische Pestizide.

Solche klingenden Umweltnachrichten sollten auch Stimmbürger überzeugen. Tun sie aber nicht: Im Jahr 2021 schickten die Schweizer gleich zwei Initiativen den Bach runter: Die Trinkwasserinitiative wollte den Einsatz von Pestiziden einschränken, die Pestizidinitiative den Einsatz von synthetischen Pestiziden gar generell verbieten. Was war geschehen? Der Schweizerische Bauernverband (SBV) hatte erfolgreich postuliert, dass die nationale Landwirtschaft im Falle der Annahme der beiden Initiativen gegenüber dem Ausland ihre Wettbewerbsfähigkeit einbüssen würde. In der Folge würden Schweizer Konsumenten vermehrt zu importierten Nahrungsmitteln greifen. Allerdings hat die Schweiz heute auch so nur eine Selbstversorgungsrate von 50 Prozent.

Item, der Schweizer Bauernverband siegte vor zwei Jahren, indem er den Bürgern Angst machte vor einer angeblich fehlenden Ernährungssicherheit. Die Initianden der Pestizid- und der Trinkwasserinitiative, darunter Franziska Herren, haben diesen Ball geschickt aufgenommen. Ihr neuer Volksvorschlag, der sich für mehr Bio und weniger Pestizide und Kunstdünger einsetzt, nennt sich nun «Initiative für eine sichere Ernährung».

In ihrem ausführlichen Argumentarium wenden sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die niedrigeren Erträge im Biolandbau an, um neue Ziele zu formulieren. Nicht die Umstellung auf Bio, sondern der hohe Anteil an tierischen Erzeugnissen gefährde die Ernährungssicherheit der Schweiz. 60 Prozent der Ackerfläche, so die Initianten, werden heute für die tierische Nahrung verwendet. Ein Teil dieser Ackerflächen sollte mit Hülsenfrüchten und Gemüse bepflanzt werden. Damit könne die Selbstversorgungsrate der Schweiz auf 70 Prozent gesteigert werden.

Dass dies nicht nur blosse Utopie oder extremistisch ist, zeigen auch Berechnungen der Agroscope. Die Forschungsstelle geht davon aus, dass die Schweiz sich sogar zu 100 Prozent selber versorgen könnte, wenn der Fleisch- und Eierkonsum drastisch eingeschränkt würde.

Für die Umstellung auf Biolandwirtschaft schlägt die Ernährungssicherheits-Initiative eine Übergangsfrist von zehn Jahren vor. Zudem solle der Bund das finanzpolitische Umfeld so gestalten, dass den Landwirten die Umstellung leichtfällt, etwa durch gezielte Subventionen oder Importbeschränkungen. Die Sammelfrist für die Ernährungsinitiative endet am 13. Dezember 2024.

Der Schweizer Bauernverband sitzt allerdings schon in den Startlöchern, um all jene gesellschaftlichen Bestrebungen abzuwehren, die in den nächsten Monaten von Landwirten mehr Naturschutz fordern, so etwa auch die Biodiversitäts-Initiative, die in diesem Sommer zur Abstimmung ansteht. In einem SBV-Blogbeitrag ruft «ein Autor» zum Kampf auf gegen die «neue Vegi-Initiative von Franziska Herren», womit er die Ernährungsinitiative meint.