Der dressierte Bürger

Parkraumbewirtschaftung und Verfolgung von Bagatell-Verkehrssünden. Stress mit Mautpflicht, Sonderparkzonen und Umweltzonen. Hartz IV-Schikanen und Alkoholverbot in U-Bahnen: Das Motto der Staatsorgane lautet immer häufiger: Im Zweifel gegen die Freiheit. Bürger in Deutschland zu sein, bedeutet, sein Leben ständig im Hinblick auf mögliche Bestrafung zu führen. Wozu sind Verbote wirklich da? Mit ihrer Hilfe bringt der Staat seine Macht ins Spiel, schärft seine Repressionsinstrumente und testet die Gehorsamsbereitschaft der dem Gesetz Unterworfenen. Er reduziert den Homo sapiens auf seine Schrumpfform: den Homo obediens (gehorchenden Mensch), der sich reflexartig der jeweiligen Erlaubnis- oder Verbotslage anzupassen hat. Der Kampf um eine menschlichere Gesellschaft muss daher immer auch ein Kampf gegen unnötige und überhöhte Strafen sein. (Roland Rottenfußer)

Wie nennt man eigentlich das Gegenteil von „Smily“ – also ein stark vereinfachtes Gesicht mit heruntergezogenem Mundwinkel? Die Internetgemeinde favorisiert „Sady“ (von „sad“ – traurig). Dieses Sady also begegnet mir immer häufiger an Ortseinfahrten. Ich gestehe, dass ich gelegentlich da mit 60 km/h reinbrettere, besonders, wenn links und rechts noch Wiese ist. Das setzt mich der strengen Ermahnung eines interaktiven Verkehrsschilds aus, das meine Geschwindigkeit misst und unverzüglich mit Sadies ahndet. 55 km/h: Sady. 51 km/h: Sady. 50 km/h: Smily – geschafft!



Wie erzeuge ich ein Unrechtsbewusstsein?



Smily und Sady – das ist der ultimative binäre Code der Volkserziehung. Darin manifestieren sich die beiden Funktionen des Staats: Nikolaus und Knecht Ruprecht. Dabei kann man über diese sanfte Form der Ermahnung noch froh sein. Normalerweise sind Strafen nämlich die einzige Methode des Staates, um seine Bürger auf die Existenz eines Gesetzes aufmerksam zu machen. Nach Schätzungen waren 2005 auf Bundesebene 2.100 Gesetze mit knapp 46.000 Einzelvorschriften sowie 3.140 Rechtsverordnungen mit fast 41.000 Einzelvorschriften in Kraft – Tendenz steigend. Praktischerweise gilt der Grundsatz „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ – sonst würden sich Missetäter womöglich noch auf Unkenntnis herausreden. Wenn es aber so leicht ist, alle Gesetze zu kennen, warum absolvieren Juristen dann ein fünfjähriges Studium?



Die meisten Menschen lösen das Dilemma, indem sie einer Art „natürlicher Ethik“ folgen: Man töten nicht, ist nicht gewalttätig, stiehlt nicht und man beleidigt niemanden. Wer das berücksichtigt, kommt normalerweise gut durchs Leben. Was aber wenn natürliche Ethik und real existierende Gesetzeslage immer stärker auseinander klaffen. Dann bleibt für den Staat nur das Mittel, die Repression zu verschärfen, die den Appell an das Gerechtigkeitsgefühl dann vollständig ersetzt. Zu deutsch: Wer nicht hören will, muss fühlen.



Der Führerschein als Hebel der Bürgerdressur



Ein Fall aus der Praxis: Eine Frau fährt in die Innenstadt von Augsburg ohne eine entsprechende Feinstaubplakette ein. Die Strafe: 110 Euro und ein Punkt in Flensburg. Dabei war ihr Auto nur zwei Jahre alt und natürlich ASU-zertifiziert. Die Strafe entsprach der, die einem wirklichen Umweltverschmutzer gedroht hätte, der mit einer alten Dreckschleuder in die Innenstadt eingefahren wäre. Menschen, die niemanden geschädigt oder gefährdet haben, können also heute mit einer hohen Geldstrafe belegt und mit Führerscheinentzug bedroht werden. Darauf läuft ja das Anschwellen des Punktekontos in Flensburg hinaus. Das bedeutet nichts anderes als die Kriminalisierung der Normalität. Es wird keine Straftat geahndet, sondern nur die Tatsache, dass jemand die Ermittlungen, ob überhaupt eine Straftat vorliegt, nicht vorbeugend erleichtert hat. Ein solches Delikt ist vergleichbar mit der Weigerung, eine Parkscheibe an der Windschutzscheibe zu platzieren. Hier stellt sich eine grundsätzliche Frage. Ist der Bürger verpflichtet, es dem Staat leichter zu machen, ihn zu kontrollieren? Muss er quasi als Hilfssheriff gegen sich selbst tätig werden?



„Schuldvermutung“ auf dem Vormarsch



Der Strafverfolgungsstaat mutiert zunehmend zum Präventivstaat, der das Verhalten seiner Bürger in immer feinere Verzweigungen des Alltags hinein zu steuern versucht. Nehmen wir die Pflicht, nur mit Feinstaubplakette in eine deutsche Innenstadt einzufahren. Übertragen auf andere Delikte bedeutet dies: Man dürfte sich nur dann im öffentlichen Raum bewegen, wenn man sich das polizeiliche Führungszeugnis auf die Stirn klebt. Wer nicht vorab beweist, kein Mörder zu sein, wird verfolgt und bestraft wie ein Mörder. Ein Paradigmenwechsel von der Unschulds- zur Schuldvermutung. Die Abläufe sind automatisiert. Wir werden dazu erzogen, dass Widerstand so zwecklos ist wie bei der Begegnung mit einem Borg-Kollektiv. Einem Bürger einen Strafbefehl zu schicken ist eine so sichere Einnahmequelle wie Geld aus dem Automaten zu ziehen.



Gerade auch die Parkraumbewirtschaftung scheint ein willkommenes Instrument, um jedem Bürger das Erlebnis des Bestraftwerdens zu verschaffen. Ein Beispiel ist meine Nachbarstadt Weilheim. Dort werden seit Jahren die Parkgebühren stufenweise erhöht. Bisher unregulierte Zonen werden reguliert, mit Parkuhren und einem Schilderwald versehen. So wurde in einer Seitenstraße der Beginn der Freiparkzeit von bisher 18 Uhr auf 20 Uhr verschoben. Die Folge: Wer um 19 Uhr in eines der Restaurants essen gehen will, muss zahlen – obwohl die Parkplätze dort schon immer großflächig frei waren.



Gentrifizierung des Autoverkehrs



Wem die Parkgebühren für längeres Parken zu hoch sind, der wird zu einem hektischen und flüchtigen Einkaufsverhalten gezwungen. Betroffen sind vor allem spontane Menschen, die sich mal im Laden verquatschen und nicht bedenken, dass sie ab 13.45 schlagartig vom legalen Parker zum „Parksünder“ mutieren. Benachteiligt sind Menschen mit Gehbehinderung, die den Weg von den kostenfreien Außenbezirken bis zur Einkaufsmeile zu Fuß nicht schaffen und deshalb teuer parken müssen. Benachteiligt sind natürlich auch einkommensschwache Bürger. Es findet eine Gentrifizierung des Autoverkehrs statt. In den teuren Einkaufsstraßen parken die Wohlhabenderen; die Ärmeren müssen einen längeren Anmarsch sowie Zeitverlust in Kauf nehmen.



Typisch ist im Fall Weilheim (und nicht nur dort), dass von oben herab entschieden wird. Statt den Dialog mit den Bürgern zu suchen, um zu prüfen, wie viel Kontrolle bzw. Freiheit erwünscht ist, agieren die Verkehrsüberwacher nach dem Motto: „Die werden es schon schlucken. Es wird ihnen schon nichts anderes übrig bleiben.“ Mit der Würde des Bürgers als Souverän im demokratischen Prozess hat das nichts zu tun.



Anwesenheitsstrafe für Innenstadt-Besucher



Auch verletzt es das Gebot der Gastfreundschaft, Menschen, die von auswärts in eine Stadt kommen, aufzulauern und ihre mangelnde Ortskenntnis auszunutzen, um sie nach Kräften abzuzocken. Ein Beispiel hierfür sind Sonderparkzonen, deren Gültigkeit nur an den Grenzen der betreffenden Zonen erkennbar ist, nicht an jedem Parkplatz. Solche Einrichtungen sind Autofahrerfallen, die helfen, die Parksünden, die sie verhindern sollen, erst zu kreieren. Wenn ich in meinem Briefkasten einen Brief mit der Aufschrift „Stadt“ finde (z.B. Stadt Weilheim), zucke ich ängstlich zusammen. Das kann nur bedeuten, dass von mir eine Geldzahlung erpresst werden soll. Städte kommunizieren mit ihren Gästen fast nur noch zum Zweck der Bestrafung.



Das Argument, solche Maßnahmen sorgten für „Verkehrsberuhigung“ in der Stadt, kann ich nicht akzeptieren. Wenn eine autofreie Innenstadt gewollt ist, muss die entsprechende Zone eben ganz für den Verkehr gesperrt werden. Es geht nicht an, die Menschen mit reichhaltigem Einkaufsangebot in die Innenstädte zu locken und sie gleichzeitig mit einer Art „Anwesenheitsstrafe“ zu belegen. Der Verdacht, dass es da nur um möglichst reich sprudelnde Geldeinnahmen geht, ist nahe liegend. Denn zu den regulären Parkgebühren kommen die Einnahmen aus Verwarnungsgeldern und Bußbescheiden.



Delikt-Design nach Kassenlage



Den Gemeinden fehlt das Geld, heißt es; für das Aufstellen von Schildern, die Umrüstung von Parkuhren und die Bezahlung der Politessen ist jedoch offenbar immer genügend Geld da. Hat man erst mal ein Delikt neu kreiert (wer vor 20 Uhr umsonst hier parkt, wird bestraft), so muss man es auch durchsetzen. Arbeitskräfte müssen Schilder aufstellen und das Chaos grauer Parkflächen mit einem dichten Gitter weißer Striche bändigen. Der Lebensraum muss parzelliert und in Zonen des Erlaubten und Verbotenen unterteilt werden. Für die Kontrolle vor Ort sowie die Strafenverwaltung muss Personal eingestellt werden. Mindestens diese Kosten müssen wieder hereinkommen, schon deshalb ist mit „Gnade“ von Seiten der Ordnungshüter kaum zu rechnen.



Die Kriminalisierung der Normalität



Ein weiteres Mittel der Bürgerdressur ist natürlich die Ahndung von Bagatelldelikten im Straßenverkehr. Nicht wenige Autofahrer werden in jüngster Zeit mit dem Vorwurf behelligt, 57 km/h in der Ortschaft gefahren zu sein. Die Verkehrsüberwacher haben damit ohne Not ein Stillhalteabkommen zwischen Bürgern und Polizei aufgekündigt, das als Gewohnheitsrecht galt: Schon Fahrlehrer bringen ihren Schülern bei: Bis 59 km/h kann dir nichts passieren. Manche Polizisten winken speziell Fahrer heraus, die mit exakt 50 km/h durch die Ortschaft schleichen. Sie finden es verdächtig, wenn jemand in derart auffälliger Weise unauffällig erscheinen will. Unverdächtige Autofahrer fließen bei 55 bis 60 km/h mit dem Verkehr mit. Dafür drohen aber heutzutage bereits 15 Euro Verwarnungsgeld. Also was jetzt?



Dabei ist die Fahrgeschwindigkeit ohne Zweifel wichtig, und Übertretungen können die Unfallgefahr erhöhen. Allerdings ist hier eine schematische Vorgehensweise nicht sinnvoll. In bestimmten Fällen kann schon eine Geschwindigkeit von 20 km/h unverantwortlich sein, obwohl sie legal ist. In anderen Fällen sind 60 km/h keineswegs gefährlich, z.B. am Ortsausgang oder in sehr übersichtlichen Bereichen. Die Ahndung von Bagatellen ist per se Heuchelei, weil mir niemand weismachen kann, dass ihm nicht schon einmal Fehler in dieser Größenordnung unterlaufen sind. Auch kein Polizist. Anders als bei der Ahndung von Schwerverbrechen kriminalisiert die Polizei in solchen Fällen die Normalität, also die menschliche Fehleranfälligkeit im Minimalbereich.



Blitzen verhütet keine Unfälle



Fragwürdig ist auch die Vermischung zweier verschiedener Zwecke: Unfallprävention durch Abschreckung und Geldbeschaffung für die Staatsorgane. Werden diese beiden Bereiche nicht streng getrennt, ist dies genau genommen nicht seriös. Die Regeltreue der Bürger wird so zu einer Gefahr für die finanzielle Ausstattung der Polizeireviere oder Gemeinden. Dies verleitet die Polizei dazu, immer strengere Maßstäbe dafür anzusetzen, was ein Bürger leisten muss, um straffrei davonzukommen. Bußgelder werden so zu Sondersteuern, die mit einem Schuldvorwurf vergiftet sind. Die Vorwürfe sind seit Jahren bekannt und werden u.a. vom ADAC erhoben: Die Polizei blitze nicht dort, wo Schnellfahren gefährlich sei, sondern gerade an ungefährlichen Stellen, wo viele Autos durchkämen. So könne ein Maximum an Einnahmen aus Verwarnungen und Strafen erzielt werden. Kritisieren kann man diese Praxis schon deshalb, weil die personellen Kapazitäten, die aufgewendet werden, um Bagatellen an ungefährlicher Stelle zu ahnden, ja anderswo fehlen:  z.B. bei der Verkehrsüberwachung in kinderreichen Wohnstraßen oder bei der Bekämpfung schwererer Verbrechen.



Was viele Autofahrer bisher nur vage fühlten, scheint nur auch erwiesen. Der Verkehrspsychologe Karl-Friedrich Voss veröffentlichte Ende Februar eine Studie, wonach Radarfallen keine Unfälle verhinderten. „Fahrer aus Altersgruppen mit einem geringen Unfallrisiko werden übermäßig mit Punkten belastet, und Fahrer mit hohem Unfallrisiko werden zu selten kontrolliert.“ Ein Beispiel: In „Vergnügungsmeilen“, wo junge, unerfahrene Fahrer mit dem Auto von der Kneipe zur Diskothek fahren, stehen kaum Blitzer. Dagegen werden routinierte Pendler rasch mal mit 10 km/h zu viel erwischt, wenn sie vor dem Autobahnende nicht schnell genug abbremsen. Das Verhältnis Staat/Bürger leidet jedoch, wenn Zweifel daran aufkommen, ob die Ordnungsmacht nach gerechten und legitimen Kriterien verfährt.



Zum Thema „Bürgerdressur“ noch ein paar weitere Beispiel:



Hartz IV wurde von den Behörden als Schikanenparcours gestaltet, mit dem sich staatlicherseits nicht nur viel Geld sparen lässt, sondern auch Menschen diszipliniert werden. Hartz-IV-Bestimmungen dienen als „Gesslerhut“, als Gehorsamstest, der die Unterwerfungsbereitschaft der Betroffenen austestet.



Verkehrsbetriebe und Privatfirmen übernehmen zunehmen staatliche Funktionen mit eigener Pseudogerichtsbarkeit bzw. Exekutive. Ein Beispiel ist die jüngste Welle der Alkoholverbote in U-Bahnen. Dadurch werden Freiheitsrechte klar verletzt. Nicht mehr Randalieren, Verschmutzen und Belästigen werden verfolgt, sondern Verhaltensweisen, die zu diesen Delikten führen könnten.



Das Autofahren im Ausland wird zunehmend zur Kostenfalle mit hoher Bestrafungswahrscheinlichkeit. Wenn ich mich im Ausland aufhalte, werde ich fast immer von einem gutwilligen Einheimischen zur Einhaltung der Vorschriften ermahnt – und zwar in meinem Interesse. Die Behörden seien hierzulande besonders scharf, heißt es dann. Die Strafen für Geschwindigkeitsüberschreitung besonders streng. Meist wird dann eine Summe genannt, die vielleicht für eine Körperverletzung angemessen wäre, nicht für Bagatelldelikte.



Ein Universum von Strafbarkeiten



Immer stärker zeigt sich die Tendenz, das weite Feld möglicher menschlicher Verhaltensweisen auf einen schmalen Pfad zu begrenzen und geringste Abweichungen mit Übelzufügung zu ahnden. Man denkt unwillkürlich an einen Viehabtrieb. An den Rändern der Herde stehen Treiber mit Ruten, die ausscherenden Kühen kleine Elektroschocks verpassen, um sie auf die vorgesehene Route zurück zu zwingen.



Wozu sind Verbote wirklich da? Die Frage stellt sich vor allem, wenn es um weit verbreitete, bisher selbstverständliche Verhaltensweisen geht, z.B Alkoholtrinken auf Stadtplätzen oder Handybenutzung auf dem Schulhof. Durch Verbote positioniert sich der Staat als verbietende oder erlaubende Ordnungsmacht und drängt den Bürger gewaltsam in die Rolle zurück, die ihm in der modernen gelenkten Demokratie zugedacht ist. So wird der Bürger/Untertan dressiert, „bis jedes Subjekt in einem Universum von Strafbarkeiten und Strafmitteln heimisch wird.“ (Michel Foucault) Je mehr der Bereich des Strafbaren anschwillt und auf das Terrain der Normalität übergreift, desto mehr wandelt sich Bestraftwerden von einem Ausnahmeschicksal (das nur Kriminelle betrifft) zum Normalfall.



Die schwarze Pädagogik des Staates



Wenn wir einmal die Metapher vom „Vater Staat“ weiterspinnen – was für eine Art von Vater zeigt sich uns da? Stellen wir uns einen Erzeuger vor, der seinen Kindern mit grundsätzlichem Misstrauen begegnet, der auf jeder kleinen Verfehlung unnachsichtig herumhackt; der das (meist vorherrschende) Wohlverhalten jedoch als selbstverständlich hinnimmt und Belohnung und Würdigung überhaupt nicht in seinem Verhaltensrepertoire hat. Wie würden wir einen solchen Vater bezeichnen? Man muss sich da schon einen freudlosen und kleinlichen Haustyrannen vorstellen, der seine Kinder argwöhnisch belauert, um aus der Ahndung ihrer Fehler eine Art giftiger Befriedigung zu ziehen. In der Psychologie spricht man in solchen Fällen von Schwarzer Pädagogik.



Eine grundlegende Reform im Umgang mit Bagatelldelikten ist nötig. Alle freiheitsliebenden Menschen müssen sich dafür einsetzen, einen Trend zur Entkriminalisierung zu kreieren. Es ist ein gutes Zeichen, dass mit der Piratenpartei erstmals ein politischer Akteur die Bühne betreten hat, der die Legalisierung bestimmter Delikte zu einem Hauptprogrammpunkt gemacht hat. Die Bewegung darf sich jedoch nicht auf „Videopiraterie“ und Cannabis beschränken, sie muss auf andere Lebensbereiche ausgedehnt werden, besonders auf den Bereich der „Verkehrssünden“.



Neben der ersatzlosen Streichung der geringfügigsten Delikte habe ich zur Reform der Verkehrsüberwachung vor allem drei Vorschläge:



1. Regulierung über Kfz-Steuer: Hier könnte man analog zur Kfz-Versicherung verfahren: Wer sein erstes Auto anschafft, bekommt zunächst einen durchschnittlichen Steuertarif. Fährt er einige Jahre ohne gravierende Verfehlungen Auto, erhält er einen günstigeren Tarif. Treten dagegen Verkehrsverstöße auf, verliert der Fahrer zunächst seinen Vorzugstarif. Bei drastischen und wiederholten Verstößen schnellt die Kfz-Steuer weiter nach oben. Der Fahrer kann dies in der Zukunft aber wieder durch korrektes Verhalten ausgleichen. Auf diese Weise wird gewürdigt, dass „normales“ unfall- und deliktfreies Fahren seitens der Bürger eine Leistung darstellt, die nicht selbstverständlich ist. Strafen sind wieder das, wozu sie eigentlich geschaffen wurden: Sanktionen für tatsächlich gefährliche Verstöße gegen die Sicherheit. Wichtig ist aber, dass die Einnahmen aus Strafen keine Begehrlichkeiten bei den Behörden wecken. Sie müssen zur Gänze wieder an gute Autofahrer ausgeschüttet werden.



2. Entkoppelung von Strafverfolgung und pekuniärer Selbstversorgung der Staatsorgane. Das von der Verkehrspolizei oder Gemeinde eingesammelte Geld sollte niemals diesen Institutionen selbst, sondern immer anderen Begünstigten zufließen. Polizisten und Behörden werden ja bereits durch unsere Steuern vergütet, obwohl sicher in vielen Fällen eine bessere Bezahlung wünschenswert wäre.



3. Ein Bürgerbeirat für die Gemeinden. Über Fragen wie Parkraumbewirtschaftung, Parkzeiten, Radarfallen u.ä. sollten Gemeinden nicht mehr allein entscheiden können. Hierbei sollte ein Kontrollgremium beratend tätig sein, das mit abstimmen und besonders krude Entscheidungen der Stadtväter notfalls blockieren kann. Der Bürgerbeirat könnte eine Funktion ähnlich dem Verbraucherschutz ausüben. Er sollte sicherstellen, dass die Interessen der anliegender Geschäfte, der Einheimischen, Kunden und Besucher, aber auch der körperlich schwächeren und weniger wohlhabenden Menschen berücksichtigt werden. Außerdem sollte er dafür sorgen, dass Radarfallen im Sinn der Unfallprävention wirklich gut platziert sind und dass bei Strafen das Augenmaß gewahrt bleibt.



More Tolerance!



Wie sinnvoll diese Reformen auch sein mögen – die beste Strafe ist noch immer: keine Strafe. Das Motto sollte lauten: So viel Freiheit wie möglich und nur so viel Verhaltenssteuerung wie unbedingt nötig. Den Willen eines Staatsbürgers zu brechen, sollte nur das allerletzte Mittel sein, das ein Vollzugsbeamter eher ungern ausführt. Schließlich ist dessen Wohlergehen das Hauptziel und der letzte Daseinszweck staatlicher Organe. Leider ist derzeit aber die gegenteilige Tendenz festzustellen: Strafen sind der Normalfall, ihr Ausbleiben muss sich der Bürger durch ein geradezu unnatürlich leisetreterisches Verhalten erkaufen. Man straft gern und viel, dem Anschein nach geradezu mit Lust.



Der Kampf um eine menschlichere Gesellschaft muss daher immer auch ein Kampf gegen unnötige und überhöhte Strafen sein. Der Weg in den Orwell-Staat endet mit Totalüberwachung und unmenschlichen Gefängnissen; aber er beginnt damit, dass menschliche Verhaltensweisen zu Verbrechen erklärt werden, die eigentlich keine sind. Die Entwicklung, die in den USA unter dem Schlagwort „Zero Tolerance“  eingesetzt hat, muss umgekehrt werden. „More Tolerance“ könnte eine neue Bewegung heißen. Kämpfen wir weiter dafür, die Zügel, an denen man uns hält, abzuschütteln oder wenigstens zu lockern!


29. Mai 2012
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