Der Glückliche und der Unglückliche, ein Märchen

Es waren einmal zwei Bauern, die lebten nicht weit voneinander. Der eine war reich, der andere arm. Der Arme war nicht etwa faul, er rackerte und arbeitete, aber dennoch wurde er nicht reicher als er war.
Einmal ging er in der Nacht noch auf sein Feld, um dort nach dem Rechten zu schauen. Da sah er, wie ein Mann auf dem Feld des Reichen Roggen säte.
«Was tust du hier?», fragte der Arme.
«Ich säe Roggen», war die Antwort.
«Warum tust du das?» –
«Ich bin das Glück des anderen.»
«Und – wo ist denn mein Glück?», fragte der Arme.
«Dein Glück schläft dort hinter dem grossen Stein», sprach der Sämann.
Der Arme eilte zum Stein, um sein Glück zu wecken.
«Höre, Mann, steh auf und geh Roggen säen!»
«Ich gehe nicht», antwortete der Schläfer.
«Warum gehst du nicht? Du bist doch mein Glück!»
«Nun, ich bin eben nicht das Glück eines Landwirts.»
«Was soll ich denn tun?», fragte der Arme.
«Wähle dir nur ein anderes Handwerk, dann werde ich schon dein Glück sein. Was wolltest du denn immer sein?»
Der Arme überlegte: «Kaufmann!» – «Also gut, dann werde ein Kaufmann!»
Am nächsten Tag verkaufte er sein Haus und sein Land und eröffnete in der Stadt einen Laden. Nun kam sein Glück zu ihm und blieb bei ihm bis an sein Lebensende.

Märchen aus Estland, in der Erzählfassung von Hasib Jaenike. Hasib Jaenike bildet als Leiter der «Mutabor Märchenstiftung» MärchenerzählerInnen aus und ist Organisator der «Rüttihubel Märchentage» vom 7. bis 9. September 2007.Kontakt: Mutabor Märchenstiftung, Postfach , 3432 Lützelflüh-Goldbach, Tel. 034 431 51 31, mailto:[email protected]
http://www.maerchenstiftung.ch
01. Juli 2007
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