Der Ursprung des Bösen

Woher stammt das Böse? Und ist nicht der Glaube an Gut und Böse in sich schon böse? Erster Teil eines Essays.

Bild von Rebecka Celastrina

Wenn man sieht, in welchem Zustand sich unser Planet heute befindet, kommt man kaum umhin zu glauben, dass das Böse die Welt beherrscht. Überall scheinen gewaltige, unpersönliche Mächte sich zu verschwören, um alles Gute und Schöne zu zerstören. Grünflächen und lebendiger Boden werden zubetoniert und in Parkplätze und Einkaufszentren verwandelt. Regenwälder werden abgeholzt, Feuchtgebiete trockengelegt, Seen werden verseucht und die Atmosphäre vergiftet – und all das nur, um eine Geldmaschine zu füttern, die nicht der Erlangung wirklichen menschlichen Glücks dient. 

Menschen verschwinden in geheimen Gefängnissen, Mauern und Zäune schiessen überall aus dem Boden, indigene Stämme werden von ihrem Land vertrieben, und politische Führer, die die Absicht haben, dem Volk seine Macht zurückzugeben, werden durch Putsche gestürzt. 

Das Vermögen befindet sich im Besitz einer stetig schrumpfenden Minderheit, ganze Nationen und Völker widmen ihr gesamtes produktives Leben der Tilgung ihrer Schulden. Jeden Abend gehen eine Milliarde Menschen hungrig zu Bett. Und all dies wird von menschlichem Handeln verursacht. Wir können keiner Instanz ausserhalb von uns die Schuld dafür zuschieben.

Anmerkung des Autors: Ich schrieb den grössten Teil dieses Essays 2010 und bin immer mal wieder auf ihn zurückgekommen. Die letzte Woche verbrachte ich damit, ihn für die Veröffentlichung zu überarbeiten, wobei ich es ganz bewusst vermied, aktuelle Beispiele aus der Corona-Zeit einzufügen. Warum? Weil ich klarmachen möchte, dass dieses Phänomen - trotz der Orwell’schen Dimensionen der Corona-Politik – weit über die Corona-Thematik hinausgeht. «Das Böse» gibt es nicht erst seit 2019.

Da dieser Essay um die 12.000 Wörter umfasst, habe ich ihn in sechs Teile unterteilt, die ich nacheinander veröffentlichen werde. Dieser erste Teil enthält Gedanken, über die ich schon viel geschrieben habe. In den folgenden Teilen, in denen ich tief in Orwells Denken eintauchen werde, gibt es viel Neues, vor allem was die revolutionäre Bruderschaft angeht. In den Tiefen des Romans «1984» versteckt sich ein unverhofftes Licht, ein Licht, das uns den Weg weist.
C.E.

Manch einer glaubt, dass es nicht etwa irgendwelche «gewaltigen, abstrakten Mächte» sind, die sich hier verschwören, um alles Leben und alle Schönheit zu zerstören, sondern eine ganz bewusste und gesteuerte Macht: die Illuminaten, eine satanische Verschwörergruppe. 

Wenn überall Ungeheuerliches geschieht, liegt der Schluss nahe, dass eine ungeheuerliche Macht hinter all dem steckt; eine Macht, die gesellschaftliche Institutionen zu teuflischen Zwecken manipuliert. Über das Thema Verschwörungstheorien und deren Wahrheitsgehalt bzw. deren Unzulänglichkeiten habe ich mich bereits an anderer Stelle geäussert. Hier will ich nur Folgendes dazu sagen: Die Verschwörungstheorien sind ein mythischer Ausdruck der authentischen Wahrnehmung, dass eine lebensfeindliche Macht die Welt im Griff hat.

Wenn ich von «mythischem Ausdruck» spreche, dann meine ich «Mythos» nicht etwa im Sinne von Fantasterei. Etwas, was mythisch ist, kann gleichzeitig auch wahr sein. Die Wirklichkeit ist, mehr als die konventionelle Wissenschaft es zuzugeben vermag, ein gesellschaftliches, kulturelles und psychisches Konstrukt. 

Die mächtigste Waffe des Bösen in dieser gigantischen kosmischen Schlacht zwischen Gut und Böse ist die Idee einer gigantischen kosmischen Schlacht zwischen Gut und Böse.

Völlig unabhängig davon, ob es eine bewusste Verschwörung gibt oder nicht – es gibt sicherlich stets eine unbewusste. Wie sonst liesse sich die teuflisch inszenierte Plünderung von Natur, Kultur und Geist erklären? 

Vielleicht sind der Mythos von den bösen Illuminaten und die zwielichtigen Realitäten, die diesen Mythos umgeben, nur das psychische Gewand, in das wir etwas kleiden, das sehr real, wenn auch abstrakt ist: die Macht des Bösen in dieser Welt. Selbst wenn es diese obskure Verschwörer-Clique «in Wirklichkeit» nicht gibt - was nützt uns das, wenn die Welt so aussieht, als gäbe es sie? Müssen wir dann nicht mit den Mächten des Guten gegen die Mächte des Bösen kämpfen?

Nun, nicht wirklich. Das Modell von Gut gegen Böse ist ebenso ein Mythos, eine Geschichte, die für einige der dunkelsten und schädlichsten Ideologien unserer Zivilisation mitverantwortlich ist. Ich könnte dir nun sagen, dass es die «dunklen Mächte» und die «Mächte des Lichts» nicht gibt, aber das wäre weniger wahr als folgendes Paradoxon: Die mächtigste Waffe des Bösen in dieser gigantischen kosmischen Schlacht zwischen Gut und Böse ist die Idee einer gigantischen kosmischen Schlacht zwischen Gut und Böse.

Ich bediene mich des Paradoxons, um möglichen undifferenzierten Fehldeutungen dessen, was ich sagen will, vorzubeugen. Ich sage zum Beispiel nicht: «Das Böse existiert nicht.» 

Worauf ich hinauswill, ist, dass wir durch die Verwendung dieser Begriffe einen wesentlichen Aspekt ihrer Bedeutung ausser Acht lassen. Im vorliegenden Essay werde ich versuchen, dieses Paradoxon anhand der wohl offenkundigsten und unverblümtesten literarischen Studie des Bösen, die je geschaffen wurde, zu entschlüsseln: George Orwells 1984.

Die Vorstellung der Welt als ein Schlachtfeld, auf dem zwei gegnerische Kräfte – das Gute und das Böse – gegeneinander kämpfen, hat zwei in der Geschichte unterschiedlich tief verwurzelte Ursachen. Die nicht so tiefe reicht lediglich in die Zeiten zurück, als die landwirtschaftlichen Zivilisationen entstanden. Frühere Kosmologien, in denen mehrere polare Kräfte wesentliche Teile einer übergeordneten Perfektion, einer organischen Harmonie waren, wurden damals ersetzt durch den Kampf von Gut gegen Böse. 

Für vor-agrarische Kosmologen wäre die Vorstellung, das Gute könne eines Tages das Böse besiegen, genauso absurd wie die Hoffnung, dass der Tag die Nacht, der Sommer den Winter, das Leben den Tod besiegen kann. Das würde genauso wenig Sinn machen, wie es für dich oder für mich Sinn macht zu hoffen, dass die Protonen irgendwann einmal die Elektronen besiegen.

So absurd derartige Ambitionen auch scheinen mögen, hat die Zivilisation sie auf fatale Weise in die Tat umgesetzt. Der scheinbare Triumph des Mannes über die Frau, der Vernunft über das Gefühl, des Menschen über die Natur, des Geistes über die Materie, der Quantität über die Qualität und der Wissenschaft über die Seele hat eine Welt hinterlassen, die nicht mehr ist als eine leere Hülse. Keiner der Sieger kann ohne sein Gegenstück wirklich er selbst sein; letztendlich ist der verteufelte und besiegte Andere auch ein Teil von uns.

Sobald die Wildnis von uns getrennt war, wurde sie zuerst zu einem Konzept und dann zum Feind. 

Die Konzepte Gut und Böse entstanden zu Zeiten von Ackerbau und Viehzucht, als der Mensch begann, Wildkräuter und Wölfe auszulöschen und weit und breit alles zu domestizieren. 

Wir waren nun nicht mehr Teil der Wildnis. Sobald die Wildnis von uns getrennt war, wurde sie zuerst zu einem Konzept und dann zum Feind. Das Böse wurde plötzlich mit dem Chaos assoziiert, das Gute mit der Ordnung. 

Auf gleiche Weise entstand auch die Idee des Fortschritts. Die Menschheit war dazu bestimmt, sich die Natur untertan zu machen, ihre Grausamkeit mit Güte und ihr Chaos mit Vorhersehbarkeit und Sicherheit zu bändigen. Seit einigen Jahrhunderten träumen wir davon, diesen Feldzug zu vollenden, indem wir die Natur gänzlich hinter uns lassen und in den Weltraum emporsteigen; indem wir Bewusstsein auf eine Matrix aus Silizium übertragen; indem wir die zellulären Prozesse des Todes überwinden und ewiges Leben erlangen.

Die zweite, tiefer liegende Wurzel dieser Unterteilung der Welt in Gut und Böse ist die gesellschaftliche Dynamik von Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Diejenigen, die dazugehören, die also von der Gesellschaft als vollwertige Menschen und vollwertige Mitglieder akzeptiert und anerkannt werden, sind gut. Diejenigen, die sich hierfür nicht qualifizieren, egal ob selbstverschuldet oder nicht, sind böse. Um sich zu qualifizieren, muss man sich an die Gepflogenheiten und Tabus halten, das richtige Gewand tragen, die richtigen Meinungen vertreten und die Insignien zur Schau stellen, die von allen für richtig gehalten werden. Es gibt gewisse Tabus und Moralvorstellungen (wie z.B. Mord oder Inzest), die in nahezu allen menschlichen Gesellschaften gelten. Die meisten jedoch sind kulturspezifisch.

Ein Zeichen dafür, wie stark die Konzepte Gut und Böse mit Zugehörigkeit und Ausgrenzung assoziiert werden, ist die Tatsache, dass jeder Feind von aussen, sei es ein feindlicher Stamm, eine Naturgewalt, ein Virus oder eine fremde Macht, immer auch einen internen Feind widerspiegeln wird: den Verräter, den Ketzer, die fünfte Kolonne, den Sympathisanten, die Unpatriotische, und so weiter. Mit anderen Worten: Der Feind von aussen ermöglicht es uns, unsere eigene Gesellschaft in gute Menschen und böse Menschen zu unterteilen.

Beide erwähnten Ursachen entspringen derselben vergifteten Quelle, dem, was wir «Das Andere» nennen könnten.

Heute befinden wir uns inmitten eines Prozesses tiefgreifender Veränderungen im menschlichen Bewusstsein, denn wir haben erkannt, dass dieses Konzept der Kontrolle, dieser Eroberungsfeldzug, an seine Grenzen gestossen ist. Obwohl wir das Böse seit Jahrtausenden bekämpfen, scheint es doch weiterhin überall emporzuspriessen, unbeherrschbar und in ständig neuen Mutationen. 

Trotz fortschrittlicher Technologien, die auf genetischer, molekularer und sogar subatomarer Ebene agieren, sind wir dem Ziel der perfekten Kontrolle kein bisschen nähergekommen. Unsicherheit, Krankheit, Ungerechtigkeit, Gewalt und Tod sind heute in unserem Leben nicht weniger präsent als noch vor zehntausend Jahren. Die unendlich vielen Errungenschaften, die unser Leben erleichtern – Heizungen und Klimaanlagen, Maschinen, die uns die Arbeit abnehmen, Essen auf Knopfdruck – verheissen grenzenlosen Komfort. Dennoch sind wir auch in unseren geschützten Räumen vor körperlichen und psychischen Leiden keineswegs sicher. 

Scheinbar hatten wir den Krieg gegen die Natur schon fast gewonnen. Doch plötzlich erkennen wir, dass wir auf der Verliererseite stehen.

Gibt es einen Politiker, einen Diktator, der sich nicht selbst auf der Seite des Guten gewähnt hat?

Die Aufteilung der Welt in Gut und Böse hat auch eine innere Dimension: Der Krieg gegen die Natur äussert sich als Krieg gegen das Selbst. Verstand und Geist stehen den «niederen Instinkten», den Überbleibseln unserer Tiernatur, unserer Wildheit entgegen. Als guter Mensch gilt, wer egoistischen Begierden widersteht, indem er sich an einen ethischen oder moralischen Verhaltenskodex hält, Selbstkontrolle übt und linientreu durchs Leben geht. Jeden Fehltritt in diesem Kontrollregime deuten wir als Charakterschwäche. Und wir urteilen über uns selbst und über andere, indem wir sie als böse abstempeln.

Der Kampf gegen das Böse, sei es in seiner äusseren oder inneren Erscheinungsform, hat eine Spur der Zerstörung hinterlassen. Im Namen des Kampfes gegen das Böse haben Menschen anderen Menschen, dem Planeten und sich selbst Unsägliches angetan. Und gibt es einen Politiker oder einen Diktator, der sich nicht selbst auf der Seite des Guten gewähnt hat?

Auf welcher Seite stehst du eigentlich? Wenn wir uns wirklich in einem kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse befinden und es nun an der Zeit ist, Farbe zu bekennen: Auf welcher Seite stehst du? Auf der Seite der Schattenregierung, der reptiloiden Ausserirdischen, der militärisch-industriellen Verschwörer oder der Banken-Mafia, die unseren Planeten plündert? Oder bist du auf der Seite der Engel und Erzengel, der aufgestiegenen Meister, der Lichtwesen? 

Auch wenn du kein New-Ager bist, kann ich dir diese Frage stellen. Ich könnte ebenso gut fragen, ob du auf der moralischen oder der unmoralischen, der ethischen oder der unethischen Seite stehst. Auf der Seite derer, die es kapiert haben, oder derer, die es nicht kapiert haben? Auf der Seite der Gerechtigkeit oder auf der der «Weissen Vorherrschaft»? Auf der Seite der Wissenschaft oder auf der des Aberglaubens? Auf der Seite der Fakten und der Vernunft oder auf der der Ignoranz? Auf der Seite der Gläubigen oder der der Ungläubigen? Auf der Seite der Freiheit oder auf der Seite derer, die die Freiheit hassen? All dies sind Schlüsselwörter für dieselbe psycho-soziale Spaltung: gut oder böse, wir oder die Anderen.

Mit der Kategorie des Bösen erhalten wir Zielscheiben, auf die wir ungeniert unseren Hass und unsere Wut abfeuern können. Dieser Hass und diese Wut haben einen sehr realen Ursprung. Denn das System, in dem wir leben, ist in der Tat monströs. 

Unsere Herzen sagen uns, dass eine schönere Welt möglich ist. Und hin und wieder erhaschen wir einen Blick von ihr. 

Stell dir nur vor, du isst, nachdem du dein Leben lang Doritos gegessen hast, einmal in einem mexikanischen Dorf eine Tortilla, die aus frisch gemahlenem Mais gemacht wurde, und sie ist köstlicher als alles, was du dir je hast vorstellen können. Hast du jemals so etwas erlebt? 

Das ist der Unterschied zwischen der Welt, an die wir gewöhnt sind und der Welt, die möglich ist. Es wäre nur zu verständlich, auf diesen Verlust mit Wut zu reagieren. Aber da wir weder genau wissen, was wir überhaupt verloren haben, noch erkennen, wer oder was es uns genommen hat, nehmen wir als Ersatz, was wir finden können. 

Wir finden uns plötzlich in einer minderwertigen Welt wieder und verstehen nicht, wie oder warum es so weit kommen konnte. Aber dank des «Bösen» müssen wir gar nichts verstehen. Denn das Böse ist eine grundlegende Eigenschaft, eine endgültige Erklärung. 

«Hitler war einfach böse. Manche Menschen sind einfach böse». Weitere Erklärungen sind weder notwendig, noch möglich, und die einzig akzeptable Reaktion lautet: das Böse muss zerstört werden.

Und dann kommt dieser unbequeme Verdacht auf: «Vielleicht bin auch ich einfach böse?» Hattest du jemals diesen Verdacht? 

Religiöse Mystiker kennen diesen Gedanken sehr gut. Im Christentum bildet er die Grundlage für die Calvinistische Lehre der völligen Verderbtheit des Menschen – eine Lehre, die, wenn man sich einmal mit ihr befasst, recht anziehend, ja gar unwiderstehlich ist. Im Buddhismus nimmt dieselbe Glaubenslehre eine andere Form an: die demütigende Erkenntnis, wie sehr das eigene Leben vom Ego bestimmt ist – sogar und vor allem unsere Versuche, das Ego zu überwinden!

Im Krieg gegen die Natur, im Krieg gegen das Selbst und im Krieg aller gegen alle, wie Steiner es nannte, beginnen wir, der Erschöpfung zu erliegen. 

Die Frage, die sich uns angesichts dessen stellt, ist: Wie erschaffen wir die schönere Welt, von der unser Herz sagt, dass sie möglich ist? Wie können wir im Angesicht einer monströsen Maschine ihr Gegenteil erschaffen, wenn doch der Kampf gegen sie nur noch mehr Kämpfe in die Welt bringt?

Wir sind des Kämpfens müde. Nach fünftausend Jahren Kreuzzug im Namen des Guten ist alles um uns herum ruiniert, billig und hässlich; aufgeblähter Überfluss neben schreiendem Elend, aussterbende Sprachen, aussterbende Kulturen, sterbende Wälder, sterbende Meere, schrumpfende Insekten-, Fisch- und Amphibienbestände, radioaktiver Müll, PCB in allen lebenden Zellen, Betonkrusten, die sich über die weiche Erde ausbreiten. 

Kein normaler Mensch wünscht sich so eine Welt. Darum nennen wir das, was geschieht, anormal, unbegreiflich, abscheulich, und suchen nach der endgültigen Erklärung für alles, was verkehrt ist: das Böse.

c


Übersetzt von Janet Klünder, korrekturgelesen von Kristina Kanders und
Christoph Peterseil. Die englische Originalfassung dieses Textes wurde am
8. Dezember 2022 veröffentlicht und ist hier zu finden.

26. März 2023
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