Die Kinder der Philosophen

Es ist kein Zufall, dass zwei der bekanntesten zeitgenössischen Philosophen aus Frankreich und Deutschland fast gleichzeitig Werke publizierten, die sich mit den realen und sinnbildlichen «Kindern der Neuzeit» (und der Gegenwart) beschäftigen. Michel Serres schrieb mit Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation einen knappen Essay, Peter Sloterdijk ein umfangreiches Buch über Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Serres beschreibt die Chancen der neuen Jugend, die «in einer vollen Welt leben», Sloterdijk sieht in der Neuzeit die Verheerungen eines «voraussetzungslosen Lebens». Was für Serres die Möglichkeit eines neuen Denkens verkörpert, bedeutet für Sloterdijk die Abkoppelung von «vererbten Traditionen». Die Pressemeldung der dpa (Mitte) berichtet von einem alltäglichen, einfachen Beispiel solcher Abkoppelung; es gäbe ihrer Tausende. Würden die beiden Starphilosophen solche Meldungen wirklich analysieren, kämen sie wohl zu anderen Schlüssen als in ihrer beängstigenden Abgehobenheit.
Ein Plädoyer für eine Philosophie mit Bodenhaftung ist angesagt.

Michel Serres nennt die jungen Heranwachsenden «Däumlinge», da sie in grösster Geschwindigkeit ihre SMS verschicken und einem permanenten Schreibprozess huldigen, sich mit Gleichgesinnten vernetzen und Zugriff auf Datenmengen besitzen, von dem die Altvorderen nur zu träumen wagten. Sie verfügen kraft ihrer informationstheoretischen Apparate über ein potentielles Know-how, das sich mit altgedienten Formen der Wissensvermittlung nicht mehr verträgt. Wenn die Däumlinge ihre Notebooks öffnen, sehen sie sich mit ihrem (zweiten) Kopf konfrontiert: Sie sind vom mühsamen Wissenserwerb befreit, sie brauchen nur ihre «erfinderische Intelligenz» einzusetzen, um den Reichtum des Wissens zu nutzen. Die für Serres damit verbundene geistige Emanzipation verlangt nach einer Neuorientierung der Lehre, da die Däumelinge nicht mehr nur stillsitzen wollen; sie schwätzen, «umbrandet vom Getöse ihrer schwätzenden Mitschüler», «weil alle Welt das Wissen, das da verbreitet wird, bereits hat». Der beklagte Interessensverlust der kleinen Däumlinge, so Serres, ist nichts anderes als eine logische Reaktion der «Studenten» auf ein Expertentum seitens der Lehrenden, das einem «Angebot ohne Nachfrage» gleicht. Wenig Nachfrage gibt es nach «Abstraktionen», nach der Arbeit des abstrakten Begriffs, die unterlaufen wird von der Geschwindigkeit «der Maschinen», die das Besondere unbegrenzt aufzählen «und bei der Originalität innehalten können». Serres bringt dies auf die bedenkenswerte Formel:
«Die Abstraktion dient als Korken.» Denn alle Welt will sprechen, «alle Welt kommuniziert mit aller Welt in zahllosen Netzwerken».

Zu Ende geht es mit der alten Verwaltungs-, Unterhaltungs- und Wissensgesellschaft, die von der Imkompetenz ihrer Kunden ausgeht und die die Züge einer Top-down-Kultur trägt.
Serres’ kritischer Ton wendet sich aber vor allem gegen das idealistische Konzept der «Philosophen» und den mit ihnen verbundenen Wissenschaften, die hierarchische Begriffspyramiden einem codifizierten Wissen vorziehen. Unter dem Titel «Lob des Codes» schreibt er: «Wir leben seit kurzem in einer Kultur des Zugangs. Die sprachliche und kognitive Entsprechung dieser Kultur ist der Code, der den Zugang erlaubt oder untersagt.» Der Mensch selbst wird für ihn zu einem Code, «zu einer unbestimmten Chiffre, entzifferbar, unentzifferbar, offen und verschlossen…». Der Code erfasst nicht alles, aber er lässt sich in die Datenströme und deren freie Zirkulation integrieren. Der Schmerz eines Patienten ist beispielsweise einzigartig und seine Wahrnehmung auch, aber er ist, sprachlich vermittelt, wie eine Landschaft, «offen dem ärztlichen Blick dargeboten».
Serres skizziert zuweilen euphorisch die Möglichkeiten einer umfassend vernetzten Welt. Alles steht bereit. Die blinden Flecken Serres᾽ zeigen sich in der Ausklammerung der Frage, ob Datenmengen und Wissensverarbeitung, «verstehen» also, überhaupt identisch sein können. Serres will seinen Enkeln nichts vermiesen. Das Suchtpotential im andauernden Angeschlossen-Sein an die Datenmaschinen ist für ihn kein Thema. Die Wohltat des vorübergehend «freien» Denkens auch nicht. Sein «Däumelinchen» ist eben schon angeschlossen. Kritik wäre althergebrachte Besserwisserei. Auch wenn randalierende Heranwachsende ihre Urgrossmütter drangsalieren …

Peter Sloterdijks Rede von den «schrecklichen Kindern» hat keine direkt pädagogische Ausrichtung. Sie beschreibt vielmehr das «schädliche Intervall zwischen den Generationen». Schädlich bedeutet hier die Überforderung der kultivierenden Bindekräfte im Zivilisationsprozess. Die Abfolge der Generationen kann nur gelingen, wenn das «Erbe» sichtbar und wirkungsvoll bleibt. Eine (globale) Kultur, die sich allein am Hier und Jetzt und am postmodernen Schema des Ich orientiert, driftet orientierungslos vor sich hin. Madame de Pompadours Satz Après nous le déluge ist für Sloterdijk kennzeichnend. In einer buchstäblich enterbten Welt regieren Bastarde, abgeschnitten von ihren kulturellen Nabelschnüren, mit einem verkürzten Blick auf die Vergangenheit und mit keinem Gespür für eine überdauernde, längere Zukunft.

Die neuen Verfügbarkeiten überlagern die alten Lebensmaximen. Es entsteht «ein nicht mehr beherrschbares Missverhältnis». Politik wird in diesen Zusammenhängen zu einer Reparaturwerkstatt, der keine grossen Würfe mehr gelingen. Der Lauf der Dinge gleicht,«optimistisch gedeutet, dem kon-trollierten Sturz nach vorn, der unter Piloten Fliegen heisst. Die paradoxen Flüge der Gegenwart zeichnen sich durch das seltsame Merkmal aus, dass ihnen der Gedanke an Landung verboten ist».
Der Flug soll weitergehen. Die Passagiere, «Endverbraucher von Chancen, Gütern und Beziehungen», können sich ja auch keine Landung wünschen, denn dann müssten sie an die Enkel denken. Sloterdijk bringt es auf die Formel: «Ja, wer behauptet noch, auf unserem Schiff gebe es eine Kommandobrücke?»
Was aber bleibt ausser dem katastrophalen Blick auf die «schrecklichen Kinder der Neuzeit»? Unter dem Schlagwort «Im Copy-Shop der Evolution» lässt sich der Autor in die Karten blicken. «An den wenigen Kulturen, die bis heute wieder erkennbar durch die Jahrtausende drifteten, namentlich an der chinesischen und der jüdischen, in eingeschränkter Form auch an der katholischen Kirche, die ja kein Fortpflanzungs- sondern ein Rekrutierungssystem darstellt, lässt sich beobachten, was ein elastischer Konservativismus zu leisten vermag.» Für Sloterdijk ist dies die success story von streng überwachten Nachbildungen kultureller Originale. Dazu wünscht er sich das Herausarbeiten «konzeptueller Gewissheiten in reflexiven Spätphasen». Nur: Was sind solche Gewissheiten in der globalisierten Welt?

Sloterdijk leidet offensichtlich an der vaterlosen Gesellschaft mit ihren Überhängen und Weglosigkeiten. Brillant spielt er auf seiner ureigenen und mitunter etwas zufällig anmutenden Klaviatur des Wissens. Erstaunlich sind die dabei grossen Ausklammerungen (neue Völkerwanderungen, gefährdeter Laizismus, Wissensgesellschaft, Bedingungen des Aufwachsens, pädagogische Overprotection).  Bestimmend ist der geradezu inhumane Ansatz: Die Anstrengungen von Hundertausenden im politischen, wissenschaftlichen, therapeutischen und alltäglichen Leben um Entwicklung, Bewahrung und Versöhnung gelten in der verlorenen Welt der Bastarde nichts. Das ist peinlich und angesichts der realen Problemlagen unhaltbar. Michel Serres und Peter Sloterdijk verbindet eine grossartige Kleinmütigkeit. Beide scheuen davor zurück, in der codifizierten resp. vermeintlichen Bastardenwelt kühlen Kopf zu bewahren und schlicht das philosophische Handwerk auszuüben. Dieses bemisst sich an der Arbeit mit Bodenhaftung. Dafür sind nicht nur Urgrossmütter dankbar. Auch die Däumlinge würden davon profitieren.
    
Markus Waldvogel (*1952), Germanist und Philosoph, freischaffender Autor; Leiter der Beratungsfirma Pantaris (www.pantaris.ch). Mitbegründer der Bieler Philosophietage; lebt in Evilard bei Biel.
05. Juni 2017
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