„Die NATO ist ein Angriffspakt“
Der Westen sichert mittels „humanitärer Interventionen“ Freiheit, Demokratie und Menschenrechte überall auf der Welt? Ganz sicher nicht, meint der Friedensforscher Werner Ruf anlässlich des am Wochenende in Kassel stattfindenden „22. Friedenspolitischen Ratschlages“ und warnt im Gespräch mit Jens Wernicke insbesondere vor den Entwicklungen der NATO, die er als undemokratisches und Völkerrecht verletzendes Kriegsbündnis skizziert.
Herr Ruf, Sie kritisieren seit Langem die NATO und ihre Politik, haben dieselbe im Neuen Deutschland einmal als „Angriffsbündnis“ kritisiert und Ihre Analyse nun im Rahmen eines Vortrages [PDF] auf der Tagung „60 Jahre BRD in der NATO – 60 Jahre Herausforderung für Friedenspolitik und Friedensbewegung“ weiter vertieft. Was ist die NATO für Sie – und warum ist das ein Problem?
Die Gründung der NATO muss im Kontext der Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg gesehen werden. Da war zunächst der Wechsel von Roosevelt zu Truman, der eine schnelle Entfremdung zwischen den beiden wichtigsten Alliierten gegen den deutschen Faschismus mit sich brachte. Dann waren da der Bruch des Potsdamer Abkommens durch die Bi-Zone 1947 und die Einführung der D-Mark in den West-Zonen, beantwortet von der Sowjetunion durch die Berlin-Blockade. Diese einseitige Entscheidung der Westmächte verstieß gegen den in Potsdam vereinbarten Grundsatz, das besetzte Deutschland gemeinsam zu verwalten.
Und 1947 verkündete der US-Präsident dann die sogenannte Truman-Doktrin, mit der er die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder – gemeint war damals vor allem Griechenland, wo die aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangene Befreiungsbewegung vor allem unter kommunistischer Führung weiter für die Unabhängigkeit des Landes kämpfte – mit der Plicht der Vereinigten Staaten, „freien Ländern“ bei der Verteidigung ihrer Freiheit gegen die kommunistische Bedrohung beizustehen, begründete. 1948 schließlich wurde der Marshallplan initiiert, der den Wiederaufbau Europas unter kapitalistischen Vorzeichen und ökonomischer Dominanz der USA vorsah – auch das, zumindest in Bezug auf Deutschland, eine Verletzung des Potsdamer Abkommens.
Angesichts der damaligen Stärke der kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien darf man mutmaßen, dass dieser Wiederaufbau, der auf die Eingemeindung unter US-amerikanische Interessen hinauslief, auch nach einer militärischen Absicherung rief.
Das erscheint auch insofern logisch als die Sowjetunion als Folge auf all diese Provokationen natürlich nicht untätig blieb: Am 29. August 1949 zündete sie ihre 1. Atombombe, gewissermaßen als Akt der „Nachrüstung“. Am 4. April 1949, also 4 Monate zuvor, war jedoch bereits die NATO gegründet worden.
Die NATO ist Ihrer Einschätzung nach also nie ein Bündnis „für Freiheit und Demokratie“ gewesen? Wie sind Sie zu dieser Einschätzung gelangt?
Bedenken Sie, dass das faschistische Portugal unter Salazar Gründungsmitglied dieses „Bündnisses für Freiheit und Demokratie“ war, ja, dass sogar ernsthaft darüber verhandelt wurde, auch Franco-Spanien in dieses Bündnis aufzunehmen; dass es die NATO nicht störte, als in Griechenland die Obristen putschten und ihre proto-faschistische Herrschaft einrichteten – und dass auch die Türkei zum damaligen Zeitpunkt keine Demokratie war. Sie verdankte ihre Mitgliedschaft vor allem ihrer geo-strategischen Lage und ihrer Beteiligung am Korea-Krieg.
Mal ganz abgesehen davon, dass zu den vor einigen Jahren durch den Historiker Daniele Ganser aufgedeckten Stay-Behind-Geheimarmeen der NATO inzwischen belegen, dass dieselbe im Kampf gegen Linke und ihre Gesinnung, ja, womöglich gegen alles, was den freien Markt und dessen Akkumulationsprozesse zu bedrohen scheint, zumindest früher auch keinerlei Berührungsängste mit Terroristen und Faschisten, die Todeslisten führen und notfalls auch gegen demokratische Regierungen zu putschen bereit sind, hatte. So viel zum Gründungsmythos.
Und an diesem Setting hat sich dem Grunde nach bis heute auch nichts geändert: Noch immer sprechen sie nach außen von „Freiheit, Faschisten, stürzen missliebige Regierungen, erobern Ressourcen und betreiben Geopolitik.
Dann handelt es sich bei der aktuellen Militarisierung der NATO Ihrer Einschätzung nach also um .. ja, einen systemimmanenten Prozess zuzeiten einer Krise des uns umgebenden Gesellschaftssystems? Rohstoffe werden knapper und müssen militärisch erobert respektive gesichert werden; unliebsame Regierungen in anderen Staaten stehen der bedingungslosen Freiheit des Westens, die entsprechenden Länder auszubeuten im Weg; und in Summe geht es auch, wenn nicht vor allem, darum, die „Unterdrückten dieser Erde“ daran zu hindern, die Verhältnisse, an denen sie leiden, umzuwerfen – verstehe ich recht?
Sie verstehen durchaus recht, auch wenn ich die Zuspitzungen in Ihrer Frage doch ein wenig relativieren möchte. Unser Gesellschaftssystem befindet sich in vielerlei Hinsicht in der Krise oder auch in Krisen, die nicht alle Mitgliedstaaten der NATO in gleicher Weise betreffen. Bereits hier müsste man also differenzieren. Richtig ist allerdings, dass es in der „internationalen Ordnung“ eben nicht oder zumindest nicht primär um Verteidigung oder den Export von Werten wie Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit etc. geht, sondern um die Durchsetzung von Interessen. Alle Kriege, die spätestens seit Ende der Ost-West-Bipolarität von den USA respektive der NATO geführt wurden – Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen – trugen zwar stets die Fahne der Demokratie vor sich her, tatsächlich ging es jedoch um ganz etwas anderes.
Wichtiger erscheint mir in diesem Zusammenhang aber vor allem: Klammheimlich und von der medialen Öffentlichkeit so gut wie nicht thematisiert hat sich die NATO inzwischen ganz offiziell vom Verteidigungsbündnis – so sie ein solches denn überhaupt jemals war – zu einem Angriffsbündnis gewandelt: Da der Artikel 5 des NATO-Vertrages, sein eigentlicher Kernpunkt, ausschließlich das Verhalten der Mitgliedstaaten im Falle eines Angriffs auf einen von ihnen und die infolge dessen legitimierte Verteidigungspraxis beschreibt, taugt er nämlich nichts für Angriffskriege! Klammheimlich hat sich das Bündnis daher hiervon verabschiedet. Um dennoch weiter Kriege führen zu können, hat es die so genannten Nicht-Artikel-5-Interventionen eingeführt, die erstmals im NATO-Logistik-Handbuch vom Oktober 1997 erwähnt wurden, und auf dem NATO-Gipfel 1999 in das Aufgabenspektrum des Bündnisses aufgenommen worden sind.
Dieser neuen Doktrin vorausgegangen war bereits das Konzept des Host Nation Supports, das noch mit Artikel 5 in Einklang zu bringen war: Es sah vor, mit Staaten Abkommen zu schließen, die die Stationierung und das Agieren von NATO-Truppen beziehungsweise von Truppen einzelner NATO-Staaten auf ihrem Territorium oder von ihrem Territorium aus ermöglichen. Soweit so gut.
Diese Praxis wurde nun aber erweitert und im Rahmen der Nicht-Artikel-5-Interventionen als reguläre Praxis kodifiziert. Und genau da offenbart sich ein massives Problem. Sind derlei Aktionen nämlich nicht praktikabel, weil ein solches Abkommen mit der Gast-Nation nicht geschlossen werden kann, so können nunmehr auch zwischen dem NATO-Kommando und zivilen Akteuren Vereinbarungen getroffen werden. Das aber öffnet Tür und Tor für praktisch jede Art von Intervention – man braucht sich den entsprechend genehmen „zivilen Akteur“ hier nur noch auszusuchen…
Ich vermag nicht ganz zu folgen. Könnten Sie eine solche Nicht-Artikel-5-Interventionen vielleicht einmal skizzieren? Gibt es Beispiele dafür? Wie genau läuft so etwas ab und was ist das Problem damit?
Im aktuellen NATO-Selbstverständnis, das nachweislich [PDF] auf jede irgend mögliche Art von „Krise“ reagieren können zu müssen meint, sind praktisch alle denkbaren Formen der Intervention enthalten wie etwa, ich zitiere: Bekämpfung des Terrorismus, Durchsetzung von Sanktionen, Abfangen von Schiffen, Durchsetzung von Verbotszonen, Humanitäre Hilfe, Unterstützung bei der Aufstandsbekämpfung, Unterstützung von Aufständischen, Luftschläge und Angriffe, Friedensoperationen, Evakuierung von Zivilisten, militärische Unterstützung ziviler Autoritäten.
Festgestellt wird lediglich, dass alle diese Operationen „in derselben umfassenden Weise durchgeführt werden können, weil NATO-Streitkräfte in der Lage sein müssen, ein breites Spektrum möglicherweise gleichzeitiger Aktivitäten in einem Konfliktrahmen durchführen zu müssen, der von Kampfhandlungen bis zu humanitärer Hilfe reicht und innerhalb eines kurzen Zeitrahmens liegt“.
Und in diesem Kontext werden die Nicht-Artikel-5-Interventionen als „Krisen-Reaktions-Operationen“ zudem klar unterschieden und abgegrenzt von der kollektiven Verteidigung nach Artikel 5 des Nord-Atlantik-Vertrags. Sie sollen zwar „im Allgemeinen“ auf der Grundlage eines Mandats der Vereinten Nationen unter Kapitel VI oder Kapitel VII der UN-Charta geführt werden, müssen dies aber nicht. Konkret: Gegebenenfalls wird Krieg auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats geführt, wie das beispielsweise ja bereits beim Krieg gegen Jugoslawien der Fall war.
Eine vollständige Blaupause also – für alles, was dem Bündnis gerade … passt?
Sozusagen, ja.
Und der Kosovo-Krieg ist hier ein Beispiel für Sie?
Ja, er ist geradezu ein Parade-Beispiel: Er fand außerhalb des Bündnisgebiets statt. Und Jugoslawien hatte keinen Mitgliedsstaat der NATO angegriffen. Also kein Bündnisfall.
Begründet wurde der Angriff mit humanitären Argumenten: Die Bewohner des Kosovo müssten vor Menschenrechtsverletzungen durch die serbischen respektive jugoslawischen Sicherheitskräfte geschützt werden. Dafür wurde dann ein Luftkrieg mit allen Mitteln unterhalb der Nuklearschwelle geführt, dessen wahres Ziel der Sturz Milosevics und die Zerstörung Rest-Jugoslawiens war.
Diese Entwicklung der NATO hat nichts, aber auch gar nichts mehr mit „Verteidigung“ zu tun. Vielmehr wird hier unmissverständlich ein Welt-Ordnungsanspruch formuliert.
Genau dieser mag übrigens auch den Zusammenhalt des Bündnisses sicherstellen: Denn wer beim Durchsetzen dieser weltweiten Ordnung nicht beteiligt ist, schießt sich schließlich selbst ins Aus.
Eine andere Frage ist, ob ein solcher weltweiter, gegebenenfalls militärisch durchzusetzender Ordnungsanspruch mit dem Völkerrecht vereinbar ist, vor allem aber: Was hat es mit Demokratie zu tun, wenn weder die Parlamente der Mitgliedsstaaten beteiligt sind noch die Länder gefragt oder respektiert werden, in denen die NATO „ordnungsschaffend“ eingreift, Aufständische bekämpft oder unterstützt – je nachdem, wie es in die vom Bündnis angestrebte „Ordnung“ gerade passt.
Und noch etwas, ich vergaß: Mit dem Anspruch, weltweit Ordnung schaffen zu wollen, hat die NATO auch insofern ihren Verteidigungscharakter aufgegeben, als sie sich nunmehr nicht mehr als Verteidigungsbündnis ihrer Mitgliedstaaten versteht, das ganz klar auf den Nordatlantischen Raum beschränkt ist, der ja im NATO-Vertrag auch präzise als das Territorium der Mitgliedsländer benannt wird.
Vor diesem Hintergrund fordern Vertreter der Friedensbewegung, aber auch Teile der Linkspartei ja immer wieder den Austritt aus der NATO. Ginge das denn überhaupt – und wenn ja, wie?
Das geht sogar ganz einfach, denn Artikel 13 des NATO-Vertrags lautet: „Nach zwanzigjähriger Geltungsdauer des Vertrags kann jede Partei aus dem Vertrag ausscheiden, und zwar ein Jahr, nachdem sie der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika die Kündigung mitgeteilt hat; diese unterrichtet die Regierungen der anderen Parteien von der Hinterlegung jeder Kündigungsmitteilung.“
Abgesehen von der Tatsache, dass ein solcher Austritt unter den herrschenden politischen Verhältnissen zumindest mittelfristig kaum realistisch erscheint und einseitig durchgeführt auch wenig Veränderung der Weltpolitik bewirken wird, steht aber die Frage im Raum, ob es nicht andere Wege gibt, die NATO und vor allem ihren von den USA bestimmten Weltherrschaftsanspruch gewissermaßen „von innen“ zu demontieren.
Ja, da die NATO längst eine Praxis entwickelt hat, die durch den Vertragstext in keiner Weise mehr gedeckt ist, scheint es geradezu geboten, dass Deutschland sich baldigst zumindest aus den integrierten militärischen Stäben des Bündnisses zurückzieht, wie Frankreich dies 1966 einmal unter de Gaulle getan hat. Mit dem damaligen Rückzug Frankreichs aus den Militärstrukturen der NATO war auch die Schließung der ausländischen Einrichtungen und Stützpunkte auf französischen Territorium verbunden. Im Falle eines solchen Schrittes durch die Bundesregierung würde das also gleichermaßen das Ende der von Deutschland aus gesteuerten elektronischen Kriegführung der USA in Afrika und im Mittleren Osten als auch dasjenige der Stationierung von US-Atomwaffen auf deutschem Territorium bedeuten.
Deutschland würde zwar im NATO-Rat, dem obersten Beschlussgremium des Bündnisses, verbleiben, könnte dort aber mit anderen friedlich gesinnten Regierungen – ich denke da etwa an die Entwicklungen in Griechenland, Portugal und vielleicht auch Spanien – eine wichtige Minderheitsposition entwickeln.
Vielleicht würden sich ja dann auch die Hoffnungen realisieren, die gerade Linke mit dem Regierungsantritt des vorgeblich sozialistischen französischen Präsidenten Hollande verbanden, nämlich, dass er sich von der Politik seines erzkonservativen Vorgängers Sarkozy abwenden und zur weisen Position des Generals de Gaulle zurückkehren wird.
Ein solcher Schritt könnte auch dazu führen, dass im NATO-Rat endlich abgestimmt würde, denn dieser trifft seine Entscheidungen bisher ausschließlich „im Konsens“. Dann würden auch konträre Positionen innerhalb des Bündnisses, wie sie beispielsweise im Falle des Krieges gegen Libyen existierten, einmal sichtbar: An diesem Krieg nahmen 14 Mitgliedstaaten, also genau die Hälfte – darunter auch Deutschland – nämlich nicht teil.
Noch ein letztes Wort?
Wer wirklich Frieden will, sollte sich des Dritten Präliminarartikel aus Immanuel Kants Schrift Zum Ewigen Frieden erinnern, wo der große Aufklärer schrieb:
So die NATO denn je ein Verteidigungsbündnis war: Seit Ende des Kalten Krieges, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Selbstauflösung der Warschauer Vertragsorganisation ist sie endgültig zum Angriffsbündnis geworden.
Damit verstößt sie nicht nur gegen das Völkerrecht, sie gefährdet in zunehmendem Maße auch den Weltfrieden – und damit die Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Werner Ruf ist emeritierter Professor mit den Arbeitsschwerpunkten Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik.
Die Gründung der NATO muss im Kontext der Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg gesehen werden. Da war zunächst der Wechsel von Roosevelt zu Truman, der eine schnelle Entfremdung zwischen den beiden wichtigsten Alliierten gegen den deutschen Faschismus mit sich brachte. Dann waren da der Bruch des Potsdamer Abkommens durch die Bi-Zone 1947 und die Einführung der D-Mark in den West-Zonen, beantwortet von der Sowjetunion durch die Berlin-Blockade. Diese einseitige Entscheidung der Westmächte verstieß gegen den in Potsdam vereinbarten Grundsatz, das besetzte Deutschland gemeinsam zu verwalten.
Und 1947 verkündete der US-Präsident dann die sogenannte Truman-Doktrin, mit der er die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder – gemeint war damals vor allem Griechenland, wo die aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangene Befreiungsbewegung vor allem unter kommunistischer Führung weiter für die Unabhängigkeit des Landes kämpfte – mit der Plicht der Vereinigten Staaten, „freien Ländern“ bei der Verteidigung ihrer Freiheit gegen die kommunistische Bedrohung beizustehen, begründete. 1948 schließlich wurde der Marshallplan initiiert, der den Wiederaufbau Europas unter kapitalistischen Vorzeichen und ökonomischer Dominanz der USA vorsah – auch das, zumindest in Bezug auf Deutschland, eine Verletzung des Potsdamer Abkommens.
Angesichts der damaligen Stärke der kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien darf man mutmaßen, dass dieser Wiederaufbau, der auf die Eingemeindung unter US-amerikanische Interessen hinauslief, auch nach einer militärischen Absicherung rief.
Das erscheint auch insofern logisch als die Sowjetunion als Folge auf all diese Provokationen natürlich nicht untätig blieb: Am 29. August 1949 zündete sie ihre 1. Atombombe, gewissermaßen als Akt der „Nachrüstung“. Am 4. April 1949, also 4 Monate zuvor, war jedoch bereits die NATO gegründet worden.
Die NATO ist Ihrer Einschätzung nach also nie ein Bündnis „für Freiheit und Demokratie“ gewesen? Wie sind Sie zu dieser Einschätzung gelangt?
Bedenken Sie, dass das faschistische Portugal unter Salazar Gründungsmitglied dieses „Bündnisses für Freiheit und Demokratie“ war, ja, dass sogar ernsthaft darüber verhandelt wurde, auch Franco-Spanien in dieses Bündnis aufzunehmen; dass es die NATO nicht störte, als in Griechenland die Obristen putschten und ihre proto-faschistische Herrschaft einrichteten – und dass auch die Türkei zum damaligen Zeitpunkt keine Demokratie war. Sie verdankte ihre Mitgliedschaft vor allem ihrer geo-strategischen Lage und ihrer Beteiligung am Korea-Krieg.
Mal ganz abgesehen davon, dass zu den vor einigen Jahren durch den Historiker Daniele Ganser aufgedeckten Stay-Behind-Geheimarmeen der NATO inzwischen belegen, dass dieselbe im Kampf gegen Linke und ihre Gesinnung, ja, womöglich gegen alles, was den freien Markt und dessen Akkumulationsprozesse zu bedrohen scheint, zumindest früher auch keinerlei Berührungsängste mit Terroristen und Faschisten, die Todeslisten führen und notfalls auch gegen demokratische Regierungen zu putschen bereit sind, hatte. So viel zum Gründungsmythos.
Und an diesem Setting hat sich dem Grunde nach bis heute auch nichts geändert: Noch immer sprechen sie nach außen von „Freiheit, Faschisten, stürzen missliebige Regierungen, erobern Ressourcen und betreiben Geopolitik.
Dann handelt es sich bei der aktuellen Militarisierung der NATO Ihrer Einschätzung nach also um .. ja, einen systemimmanenten Prozess zuzeiten einer Krise des uns umgebenden Gesellschaftssystems? Rohstoffe werden knapper und müssen militärisch erobert respektive gesichert werden; unliebsame Regierungen in anderen Staaten stehen der bedingungslosen Freiheit des Westens, die entsprechenden Länder auszubeuten im Weg; und in Summe geht es auch, wenn nicht vor allem, darum, die „Unterdrückten dieser Erde“ daran zu hindern, die Verhältnisse, an denen sie leiden, umzuwerfen – verstehe ich recht?
Sie verstehen durchaus recht, auch wenn ich die Zuspitzungen in Ihrer Frage doch ein wenig relativieren möchte. Unser Gesellschaftssystem befindet sich in vielerlei Hinsicht in der Krise oder auch in Krisen, die nicht alle Mitgliedstaaten der NATO in gleicher Weise betreffen. Bereits hier müsste man also differenzieren. Richtig ist allerdings, dass es in der „internationalen Ordnung“ eben nicht oder zumindest nicht primär um Verteidigung oder den Export von Werten wie Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit etc. geht, sondern um die Durchsetzung von Interessen. Alle Kriege, die spätestens seit Ende der Ost-West-Bipolarität von den USA respektive der NATO geführt wurden – Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen – trugen zwar stets die Fahne der Demokratie vor sich her, tatsächlich ging es jedoch um ganz etwas anderes.
Wichtiger erscheint mir in diesem Zusammenhang aber vor allem: Klammheimlich und von der medialen Öffentlichkeit so gut wie nicht thematisiert hat sich die NATO inzwischen ganz offiziell vom Verteidigungsbündnis – so sie ein solches denn überhaupt jemals war – zu einem Angriffsbündnis gewandelt: Da der Artikel 5 des NATO-Vertrages, sein eigentlicher Kernpunkt, ausschließlich das Verhalten der Mitgliedstaaten im Falle eines Angriffs auf einen von ihnen und die infolge dessen legitimierte Verteidigungspraxis beschreibt, taugt er nämlich nichts für Angriffskriege! Klammheimlich hat sich das Bündnis daher hiervon verabschiedet. Um dennoch weiter Kriege führen zu können, hat es die so genannten Nicht-Artikel-5-Interventionen eingeführt, die erstmals im NATO-Logistik-Handbuch vom Oktober 1997 erwähnt wurden, und auf dem NATO-Gipfel 1999 in das Aufgabenspektrum des Bündnisses aufgenommen worden sind.
Dieser neuen Doktrin vorausgegangen war bereits das Konzept des Host Nation Supports, das noch mit Artikel 5 in Einklang zu bringen war: Es sah vor, mit Staaten Abkommen zu schließen, die die Stationierung und das Agieren von NATO-Truppen beziehungsweise von Truppen einzelner NATO-Staaten auf ihrem Territorium oder von ihrem Territorium aus ermöglichen. Soweit so gut.
Diese Praxis wurde nun aber erweitert und im Rahmen der Nicht-Artikel-5-Interventionen als reguläre Praxis kodifiziert. Und genau da offenbart sich ein massives Problem. Sind derlei Aktionen nämlich nicht praktikabel, weil ein solches Abkommen mit der Gast-Nation nicht geschlossen werden kann, so können nunmehr auch zwischen dem NATO-Kommando und zivilen Akteuren Vereinbarungen getroffen werden. Das aber öffnet Tür und Tor für praktisch jede Art von Intervention – man braucht sich den entsprechend genehmen „zivilen Akteur“ hier nur noch auszusuchen…
Ich vermag nicht ganz zu folgen. Könnten Sie eine solche Nicht-Artikel-5-Interventionen vielleicht einmal skizzieren? Gibt es Beispiele dafür? Wie genau läuft so etwas ab und was ist das Problem damit?
Im aktuellen NATO-Selbstverständnis, das nachweislich [PDF] auf jede irgend mögliche Art von „Krise“ reagieren können zu müssen meint, sind praktisch alle denkbaren Formen der Intervention enthalten wie etwa, ich zitiere: Bekämpfung des Terrorismus, Durchsetzung von Sanktionen, Abfangen von Schiffen, Durchsetzung von Verbotszonen, Humanitäre Hilfe, Unterstützung bei der Aufstandsbekämpfung, Unterstützung von Aufständischen, Luftschläge und Angriffe, Friedensoperationen, Evakuierung von Zivilisten, militärische Unterstützung ziviler Autoritäten.
Festgestellt wird lediglich, dass alle diese Operationen „in derselben umfassenden Weise durchgeführt werden können, weil NATO-Streitkräfte in der Lage sein müssen, ein breites Spektrum möglicherweise gleichzeitiger Aktivitäten in einem Konfliktrahmen durchführen zu müssen, der von Kampfhandlungen bis zu humanitärer Hilfe reicht und innerhalb eines kurzen Zeitrahmens liegt“.
Und in diesem Kontext werden die Nicht-Artikel-5-Interventionen als „Krisen-Reaktions-Operationen“ zudem klar unterschieden und abgegrenzt von der kollektiven Verteidigung nach Artikel 5 des Nord-Atlantik-Vertrags. Sie sollen zwar „im Allgemeinen“ auf der Grundlage eines Mandats der Vereinten Nationen unter Kapitel VI oder Kapitel VII der UN-Charta geführt werden, müssen dies aber nicht. Konkret: Gegebenenfalls wird Krieg auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats geführt, wie das beispielsweise ja bereits beim Krieg gegen Jugoslawien der Fall war.
Eine vollständige Blaupause also – für alles, was dem Bündnis gerade … passt?
Sozusagen, ja.
Und der Kosovo-Krieg ist hier ein Beispiel für Sie?
Ja, er ist geradezu ein Parade-Beispiel: Er fand außerhalb des Bündnisgebiets statt. Und Jugoslawien hatte keinen Mitgliedsstaat der NATO angegriffen. Also kein Bündnisfall.
Begründet wurde der Angriff mit humanitären Argumenten: Die Bewohner des Kosovo müssten vor Menschenrechtsverletzungen durch die serbischen respektive jugoslawischen Sicherheitskräfte geschützt werden. Dafür wurde dann ein Luftkrieg mit allen Mitteln unterhalb der Nuklearschwelle geführt, dessen wahres Ziel der Sturz Milosevics und die Zerstörung Rest-Jugoslawiens war.
Diese Entwicklung der NATO hat nichts, aber auch gar nichts mehr mit „Verteidigung“ zu tun. Vielmehr wird hier unmissverständlich ein Welt-Ordnungsanspruch formuliert.
Genau dieser mag übrigens auch den Zusammenhalt des Bündnisses sicherstellen: Denn wer beim Durchsetzen dieser weltweiten Ordnung nicht beteiligt ist, schießt sich schließlich selbst ins Aus.
Eine andere Frage ist, ob ein solcher weltweiter, gegebenenfalls militärisch durchzusetzender Ordnungsanspruch mit dem Völkerrecht vereinbar ist, vor allem aber: Was hat es mit Demokratie zu tun, wenn weder die Parlamente der Mitgliedsstaaten beteiligt sind noch die Länder gefragt oder respektiert werden, in denen die NATO „ordnungsschaffend“ eingreift, Aufständische bekämpft oder unterstützt – je nachdem, wie es in die vom Bündnis angestrebte „Ordnung“ gerade passt.
Und noch etwas, ich vergaß: Mit dem Anspruch, weltweit Ordnung schaffen zu wollen, hat die NATO auch insofern ihren Verteidigungscharakter aufgegeben, als sie sich nunmehr nicht mehr als Verteidigungsbündnis ihrer Mitgliedstaaten versteht, das ganz klar auf den Nordatlantischen Raum beschränkt ist, der ja im NATO-Vertrag auch präzise als das Territorium der Mitgliedsländer benannt wird.
Vor diesem Hintergrund fordern Vertreter der Friedensbewegung, aber auch Teile der Linkspartei ja immer wieder den Austritt aus der NATO. Ginge das denn überhaupt – und wenn ja, wie?
Das geht sogar ganz einfach, denn Artikel 13 des NATO-Vertrags lautet: „Nach zwanzigjähriger Geltungsdauer des Vertrags kann jede Partei aus dem Vertrag ausscheiden, und zwar ein Jahr, nachdem sie der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika die Kündigung mitgeteilt hat; diese unterrichtet die Regierungen der anderen Parteien von der Hinterlegung jeder Kündigungsmitteilung.“
Abgesehen von der Tatsache, dass ein solcher Austritt unter den herrschenden politischen Verhältnissen zumindest mittelfristig kaum realistisch erscheint und einseitig durchgeführt auch wenig Veränderung der Weltpolitik bewirken wird, steht aber die Frage im Raum, ob es nicht andere Wege gibt, die NATO und vor allem ihren von den USA bestimmten Weltherrschaftsanspruch gewissermaßen „von innen“ zu demontieren.
Ja, da die NATO längst eine Praxis entwickelt hat, die durch den Vertragstext in keiner Weise mehr gedeckt ist, scheint es geradezu geboten, dass Deutschland sich baldigst zumindest aus den integrierten militärischen Stäben des Bündnisses zurückzieht, wie Frankreich dies 1966 einmal unter de Gaulle getan hat. Mit dem damaligen Rückzug Frankreichs aus den Militärstrukturen der NATO war auch die Schließung der ausländischen Einrichtungen und Stützpunkte auf französischen Territorium verbunden. Im Falle eines solchen Schrittes durch die Bundesregierung würde das also gleichermaßen das Ende der von Deutschland aus gesteuerten elektronischen Kriegführung der USA in Afrika und im Mittleren Osten als auch dasjenige der Stationierung von US-Atomwaffen auf deutschem Territorium bedeuten.
Deutschland würde zwar im NATO-Rat, dem obersten Beschlussgremium des Bündnisses, verbleiben, könnte dort aber mit anderen friedlich gesinnten Regierungen – ich denke da etwa an die Entwicklungen in Griechenland, Portugal und vielleicht auch Spanien – eine wichtige Minderheitsposition entwickeln.
Vielleicht würden sich ja dann auch die Hoffnungen realisieren, die gerade Linke mit dem Regierungsantritt des vorgeblich sozialistischen französischen Präsidenten Hollande verbanden, nämlich, dass er sich von der Politik seines erzkonservativen Vorgängers Sarkozy abwenden und zur weisen Position des Generals de Gaulle zurückkehren wird.
Ein solcher Schritt könnte auch dazu führen, dass im NATO-Rat endlich abgestimmt würde, denn dieser trifft seine Entscheidungen bisher ausschließlich „im Konsens“. Dann würden auch konträre Positionen innerhalb des Bündnisses, wie sie beispielsweise im Falle des Krieges gegen Libyen existierten, einmal sichtbar: An diesem Krieg nahmen 14 Mitgliedstaaten, also genau die Hälfte – darunter auch Deutschland – nämlich nicht teil.
Noch ein letztes Wort?
Wer wirklich Frieden will, sollte sich des Dritten Präliminarartikel aus Immanuel Kants Schrift Zum Ewigen Frieden erinnern, wo der große Aufklärer schrieb:
„Stehende Heere sollten mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen…“
So die NATO denn je ein Verteidigungsbündnis war: Seit Ende des Kalten Krieges, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Selbstauflösung der Warschauer Vertragsorganisation ist sie endgültig zum Angriffsbündnis geworden.
Damit verstößt sie nicht nur gegen das Völkerrecht, sie gefährdet in zunehmendem Maße auch den Weltfrieden – und damit die Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Werner Ruf ist emeritierter Professor mit den Arbeitsschwerpunkten Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik.
Dieser Text erschien zuerst auf den "NachDenkSeiten - die kritische Website". Die Verwertung durch uns erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial, unter welcher er publiziert wurde.
08. Dezember 2015
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