Die öko-neoliberale Republik
… und die Entsorgung der sozialen Frage. Ist das Ergebnis der Baden–Württemberg-Wahl wirklich ein Grund zur Freude? (Roland Rottenfußer)
Selbstverständlich unterscheiden sich die Grünen in manchen Nuancen von CDU und FDP. Einer Untersuchung der Albert-Schweitzer-Stiftung bescheinigte ihnen etwa, im Tierschutz weit besser aufgestellt zu sein als die „Altparteien“. Auch was die Basisdemokratie betrifft, darf zumindest etwas Hoffnung gehegt werden. Sollte tatsächlich über ein profitträchtiges Großprojekt wie Stuttgart 21 das Volk abstimmen, und sollte dessen Votum tatsächlich respektiert werden, wäre das eine Sensation. Denn was normalerweise in der repräsentativen Demokratie das Volk zu melden? Auch in puncto Obrigkeitsstaat sind die Grünen angenehmer. Sie haben nicht, wie die CSU, grundsätzlich ein gestörtes Verhältnis zum Demonstrationsrecht.
Es bleiben jedoch mindestens zwei Politikfelder, in denen die Grünen absolut unzuverlässig sind: Kriegspolitik und Soziales. Ich lasse die Kriegspolitik hier einmal beiseite, weil ich diesem Thema einen eigenen Artikel widmen will. In der Kürze sei aber daran erinnert: Joschka Fischer hat unter dem Vorwand „Nie wieder Auschwitz“ den Pazifismus bei der ehemaligen Partei Petra Kellys wirksam entsorgt. Er ist auch nicht mehr zurückgekehrt, wie die Haltung von Künast & Co. zum Libyen-Krieg zeigt. Zum Thema Soziales nur zwei Beispiele: Beim Thema Hartz IV fordern die Grünen nur eine milde Erhöhnung der Almosen, keinen Systemwechsel. In der Nachbereitung der Finanzkrise fordern sie keine wirklich wirksamen Maßnahmen zur Verhütung weiterer Krisen, etwa die Zerschlagung der Großbanken.
Diese Haltung ist ein Spiegel der Einkommenssituation der Grünen-Wählerschaft, gut betuchte, „bildungsnahe“ Schichten, viele davon „Lohas“ (Lifestyle of Health and Sustainibility“. Überspitzt gesagt, brannten die Grünen der ersten Generation für die Gerechtigkeit und wollen das politische System grundlegend reformieren. Moderne Grüne setzten ihre finanziellen Privilegien zur Bewahrung ihrer Körpergesundheit ein. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Es ist besser als ein dumpfes Leben, das die Umwelt und zugleich den eigenen Körper schädigt. Aber es fehlt das Gefühl für die Bedürfnisse derer, die nicht dem eigenen „Milieu“ angehören. „Als sie die Hartz IV-Empfänger demütigten, habe ich geschwiegen. Ich war ja kein Hartz IV-Empfänger. Es gibt eine Form des sozial-blinden Ökosnobismus, der z.B. ökologischen Fortschritt stets über Preise und Strafen erzwingen will: Beispiel: Müllentsorgungspreise, Benzinpreise, höhere Strafen für Geschwindigkeitsüberschreitung. Das belastet Arme überproportional und motiviert Reiche nur ungenügend. Eine solche Politik ist Spiegel einer Klientel, bei der es auf 100 Euro mehr oder weniger pro Monat nicht ankommt.
Der enorme Mobilisierungseffekt beim Thema „Atomkraft“ ist erfreulich, zeigt aber auch: Im Wettstreit fortschrittlicher Ideen um die Aufmerksamkeit möglicher Aktivisten, gewinnt das Thema, das den Egoismus am meisten anspricht. Ein Atomunfall wie Fukushima würde, fände er in Deutschland statt, auch mich berühren. Hartz IV ist dagegen etwas, das andere betrifft, womöglich Leute, die für ihr Elend selbst verantwortlich sind. Mitgefühl würde hier nur die motivierende Funktion menschlichen Leidens verwässern. Engagement gegen Atomkraft schützt mich und meine Kinder. Engagement für Soziales hätte womöglich zur Folge, dass eine Umverteilung zu meinen Ungunsten stattfinde, dass meine Anlagegewinne abgeschöpft werden usw.
Die Wahlentscheidung für die Grünen ist für viele Ex-Idealisten ein nostalgisches Relikt, das ihren Verspießerungsprozess überlebt hat. Ein Feigenblatt, das überdeckt, dass man sich längst mit dem System arrangiert hat. Im Prozess des „Erwachsenwerdens“ ist man „in der Realität angekommen, aber so schlimm wie die CDU-Wähler ist man denn doch noch nicht. So entsteht eine modernisierte Form des Spießertums. Man liest Süddeutsche oder taz, hört Grönemeyer oder Westernhagen, leistet sich im Bioladen nur die edelsten Lebensmittel und Pflegemittel, fordert strenge Tempolimits und harte Strafen für Mülltrennungssünder. Diese Mentalität wird von vielen (wohlhabenden und intelligenten) Maistream-Journalisten geteilt. Dies ist wohl die Erklärung dafür, dass die Grünen von ihnen gehätschelt und geradezu nach oben geschrieben werden.
Heiner Geissler, Oswald Metzger und andere fordern mittlerweile recht unverblümt eine schwarz-grüne Republik. Implizit ist damit die Austreibung der Farbe Rot sowie aller anderen Farbtupfer in der politischen Landschaft verbunden. Die ständig stattfindende massive Umverteilung von unten nach oben und die Verelendung der Systemverlierer wird dabei wirksam verdrängt. Die soziale Frage wird die Republik natürlich einholen. Die Dynamik des Zinssystems, die galoppierende Staatsverschuldung und die Gier-Amokläufe der noch immer unregulierten Finanzmärkte werden Krisen produzieren, die die soziale Frage in der Öffentlichkeit wieder nach oben spülen werden. Der Grünen-Boom ist insofern nur eine raffinierte Verdrängungsstrategie, die die kommende soziale Explosion zwar nicht verhindern kann aber für ein paar Jahre aus dem Blickfeld rückt. Wertvolle Zeit, in der an einem Systemwechsel gearbeitet werden könnte, wird so vertan.
Ein Großteil der an alternativen, nachhaltigen Lebensentwürfen interessierten Menschen besäuft sich derzeit an der Grünen-Renaissance, nicht begreifend, dass auch auf den Feldern Soziales und Finanzen Nachhaltigkeit überlebenswichtig für eine Gesellschaft ist. Viele Fragen bleiben so in gefährlicher Weise ungelöst, Fragen, die, würde man sie endlich stellen, eher auf eine Wahlentscheidung für die Linken hinauslaufen würde. Natürlich haben auch die ihre blinden Flecke. Eigentlich wären also zusätzlich zur Partei von Klaus Ernst neue starke Parteien nötig, die die in der Gesellschaft schon vorhandenen kreativen Ideen in die politische Diskussion einspeisen würden: Gemeinwohlökonomie, Bedingungsloses Grundeinkommen, mehr direkte Demokratie, zinsfreies Geld, die Verstaatlichung des Energiesektors, die Zerschlagung der Großbanken, Freiheit im Internet und Überwachungsabbau, Aufwertung des Tierschutzes, Förderung der biologischen Landwirtschaft und alternativer Medizin, Höchstlöhne, progressive Vermögenssteuer, Abschaffung leistungsloser Einkommen aus Spekulation und Aktienbesitz.
All diese Konzepte gibt es schon, und sie sind durchdacht. Sie müssten weder neu erfunden werden, noch bin ich selbst ihr Schöpfer. Nicht alle wären vielleicht sofort und ohne Einschränkungen umsetzbar. Manche von ihnen überschneiden sich vielleicht oder widersprechen einander. Aber alle gehören ganz oben auf die politische Tagesordnung, dort wo gestern der Guttenberg-Skandal herum spukte und morgen vielleicht die Prinzenhochzeit oder die Fußball-WM der Frauen. Bei Rot-Grün und Rot-Rot-Grün sehe ich da nur ganz wenig Licht.
War das Ergebnis der Baden-Württemberg-Wahl also überhaupt eine gute Nachricht? Teilweise sicher. So wie die Wahl eines Schwarzen zum US-Präsidenten eine gute Nachrichte war. Und die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um 8 Euro. Und die Tatsache, dass die CSU in Bayern ihre absolute Mehrheit verloren hat. Und die Tatsache, dass Guttenberg gehen musste. Wann haben Sie sich in den letzten Wochen über eines dieser Ereignisse so richtig herzhaft gefreut? Es wäre kein Wunder, wenn die Freude sich in Grenzen hielte. Guantanomo steht noch. Die Hartz-IV-Empfänger werden weiter schikaniert. In Bayern regieren jetzt die neoliberalen Hardliner von der FDP mit. Und statt Guttenberg haben wir jetzt De Maizière. Wie lange wird die Freude über den ersten grünen Ministerpräsidenten andauern? Zumindest die Älteren unter uns sollten durch Enttäuschung zu klug geworden sein, um sich noch in eine Grüneneuphorie hinein zu steigern. Oder sich gar nach einer Regierung Gabriel-Trittin zu verzehren.
Aus Baden-Württemberg kommen – neben positiven – auch eine ganze Reihe von negativen Signalen:
- Die Linke wurde ins Abseits gedrängt. Der gepushte Erfolg der Grünen war zugleich ein strategischer Hebel, um das Protestpotenzial im Volk in ein ungefährliches Endlager zu entsorgen. Ungefährlich für die eigentlichen Machtkartelle der Republik. Nach Meinung von Jens Schmid und anderen braven „Mitspielern“ soll das Land damit in die bleierne Zeit der 90er zurückkatapultiert werden, als die neoliberale Monokultur weitgehend unbehelligt schalten konnte.
- Ohne Fukoshima hätte Mappus gewonnen. Das heißt, er wäre mit dem brutalen Polizeieinsatz vom 13. September 2010 durchgekommen. Er wäre mit der Farce der Stuttgart 21-Schlichtung durch Heiner Geissler durchgekommen, mit der die Protestbewegung gespalten wurde. Dies kommt einer nachträglichen Verhöhnung der Opfer des Polizeiterrors gleich, etwa des erblindeten … Es ist der schlagende Beweis dafür, dass die Mehrheit der Bevölkerung noch immer nahezu beliebig manipulierbar ist. Es ist eine Ermutigung für alle, die in Zukunft ähnliche Manöver planen wollen. Denn ein Fukushima wird den Akteuren kein zweites Mal in die Quere kommen. Man stelle sich vor seinem inneren Auge das Bild eines triumphierenden, breit grinsenden Mappus vor. Um Haaresbreite wäre diese Vision Realität geworden.
Die Aussichten, die sich aus der Wahl für die weiteren Geschicke des Landes ergeben, sind bei genauerem Hinsehen düster. Durch die rot-grünen Erfolge und die gleichzeitige Verdrängung der Linken ist der Boden bereitet für weitere neoliberale Angriffe nach dem Vorbild von Schröders Agenda 21. Die Gabriel-Mission, also der Versuch, die SPD wieder zur Regierungspartei zu machen, ohne im geringsten vom neoliberalen Kurs abzuweichen, ist mit Hilfe der Grünen auf der Siegerstraße. Neoliberale Seelen in den Körpern einer ehemaligen Arbeiter- und einer Protestpartei. Und CDU/CSU/FDP als einzige realpolitische Machtalternative – eines solche Konstellation bedeutet politische Verzweiflung und treibt Menschen in lähmende Resignation. Bei einigen löst sie vielleicht ungerichtete Wut aus.
So lange bis der zu erwartende Finanz-Tsunami über uns herein bricht und sich die sozialen Spannungen entladen. Das wird mit viel Leid, mit Geldverlusten für die „kleinen Leute“, mit Opfern, zumindest mit Verletzten bei den anstehenden Straßenkämpfen verbunden sein, bevor sich – vielleicht! – Ansätze einer besseren Wirtschafts- und Sozialordnung zeigen. Schade, denn mit ein bisschen politischer Intelligenz und Weitsicht seitens der Wähler wäre ein sanfterer Wandel denkbar gewesen. In einer schwarz-grünen Republik, die ihr soziales Gewissen entsorgt hat, wird die Freude jedenfalls nicht von langer Dauer sein.
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