Du verhältst dich, wie ich dich sehe
Über die Auswirkungen selbsterfüllender Prophezeiungen im Bildungswesen
Neulich hatte ich ein Telefongespräch mit einer Lehrerin. Anstatt mich zu fragen, wie ich den Jungen in der Psychotherapie erlebe, begann Sie das Gespräch folgendermassen: «Thomas ist sehr auffällig in der Schule. Er findet keinen Kontakt zu anderen Kindern, aber er ist schliesslich ein Autist, da ist das wohl normal.» Die Etikettierung des Jungen mit dieser schwerwiegenden Diagnose, die bisher von niemandem gestellt worden war, überraschte mich unangenehm – und animierte mich neben einigen anderen Erlebnissen zu nachfolgendem Artikel.
Zunächst stellt sich die Frage, wie solche Spontandiagnosen auf die Entwicklung und den schulischen Erfolg eines Kindes wirken. Mehrere Experimente haben sich mit dem Einfluss der Meinung einer Lehrperson auf die Leistungen eines Schülers oder gar einer ganzen Klasse befasst. Die bekannteste wurde 1965 von Rosenthal und Jacobson durchgeführt. Dabei wurde Lehrern einer Grundschule mitgeteilt, man habe bei 20 Prozent ihrer Schüler nach einem IQ-Test ein enormes Entwicklungspotential festgestellt. Tatsächlich wurden diese Schüler aber völlig willkürlich ausgewählt. Bei einem erneuten Test am Ende des Schuljahres steigerte beinahe die Hälfte dieser zufällig bestimmten Schüler ihren IQ um 20 Punkte, ein Fünftel gar um 30 Punkte. Viele weitere Untersuchungen, die mit unterschiedlichsten Settings repliziert wurden, gelangten mehr oder weniger zum gleichen Resultat: Die Erwartung von Lehrern hat entscheidenden Einfluss auf die Leistung der Schüler.
Dieser Effekt wird auch als selbsterfüllende Prophezeiung bezeichnet: Annahmen über andere Menschen bewahrheiten sich sehr oft, da wir unser Verhalten nach diesen Erwartungen richten. Konkret begegnen wir Menschen, von denen wir Positives erwarten, verständnisvoll, empathisch und mit Vertrauen. Genau umgekehrt verhält es sich, wenn wir negative Vorstellungen haben: Wir engagieren uns kaum und trauen dem anderen wenig zu. Die meisten von uns kennen diesen Effekt, der allerdings meist unbewusst abläuft. Er bezieht sich auch nicht spezifisch auf Lehrer-Schüler-Beziehungen, kann in diesen aber besonders starke Auswirkungen zeigen.
Wenn ich auf das anfangs beschriebene Telefonat unter dem Aspekt der selbsterfüllenden Prophezeiung zurückkomme, wird verständlich, warum es aus Sicht der Lehrerin das Sinnvollste gewesen wäre, Thomas in eine heilpädagogische Schule zu schicken, um seine Behinderung dort optimal anzugehen. Sie traute ihm nicht nur sozial, sondern auch leistungsmässig kaum mehr etwas zu, und dies, obschon der Junge keine geistige Behinderung hatte und durchaus lernfähig war.
Pathologisierende Spontandiagnosen haben in unserer gesamten Gesellschaft – und damit natürlich auch in den Schulen – stark zugenommen. Entspricht ein Kind nicht den gängigen Erwartungen, wird schnell ein passendes Etikett dafür gefunden. Derzeitige Renner sind ADHS bei unruhigen und ADS bei langsamen, verträumten Kindern, aber auch Autismus-Diagnosen sind im Vormarsch. Da sich heute viele Laien kompetent fühlen, empfehlen sie Eltern oder auch Fachpersonen gleich noch Ritalin. So würde das Kind wieder besser funktionieren!
Die Auswirkungen solcher Pathologisierungen sind oft dramatisch. Wenn sich Kinder mit ihren Schwierigkeiten nicht verstanden, sondern abgewertet fühlen, beginnen sie an sich und ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Meist führt dies zu weiterem auffälligem Verhalten, das wiederum negativ wahrgenommen und kommentiert wird. Hilf- und Hoffnungslosigkeit steigen sowohl auf Seite der Schule, der Eltern wie auch der Schüler und am Schluss sind kaum mehr konstruktive Lösungen möglich. So beginnen viele schulische und berufliche Laufbahnen, die schliesslich mit einer frühzeitigen IV-Berentung enden. Diese haben bei den 18- bis 24-Jährigen zwischen 2008-2012 um 13 Prozent zugenommen und sind meist psychisch begründet. Dadurch erhalten die Betroffenen ein weiteres Mal die Bestätigung, dass sie für unsere Gesellschaft keinen Wert mehr haben und ihnen niemand mehr etwas zutraut. Den Staat kommt es ebenfalls teuer zu stehen, da Menschen mit früher Berentung kaum mehr beruflich integrierbar sind und lebenslänglich finanziell unterstützt werden müssen. Leider dürften aufgrund des neuen Manuals der Psychiatrie (DSM-V) bei Kindern Diagnosen psychischer Krankheiten eher noch zunehmen. So gelten nun auch leichte Vergesslichkeit, Aufmüpfigkeit bei kleinen Kindern oder eine mehr als 14-tägige Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen als psychische Krankheiten. So ist zu befürchten, dass in nächster Zeit noch mehr junge Menschen als krank eingestuft und gesellschaftlich ausgegrenzt werden.
Dass es auch anders geht, belegt ein eindrucksvolles Schul-Experiment in Schweden, das über mehrere Monate vom Fernsehen begleitet wurde. Die Klasse 9a der Johannes-Schule in Malmö schnitt in Vergleichstests als eine der schlechtesten Klassen ganz Schwedens ab. Das ebenso einfache wie umstrittene Experiment bestand nun darin, die alten Lehrer der 9a durch acht Pädagogen zu ersetzen, deren Schüler regelmässig weit überdurchschnittliche Ziele erreichten und die Entwicklung zu beobachten. Trotz grösster Bedenken vieler Experten und der Schüler selbst, die längst nicht mehr an sich und ihre Leistungsfähigkeit glaubten, entwickelte sich die Klasse in einem halben Jahr zu einer der besten des Landes. In den nächsten landesweiten Tests erreichte die Klasse den dritten Platz, in Mathematik sogar mit Abstand den ersten.
Welche Faktoren bewirkten dieses fulminante Ergebnis? Die Antwort verbirgt sich vielleicht im Unterricht des Mathelehrers Stavros Louca, des herausragendsten Pädagogen: Er ist von der Kraft des Respekts und der positiven Verstärkung überzeugt – und davon, dass jeder (!) Schüler Spitzenleistungen erbringen kann. Er weigert sich strikt, auch nur einen seiner Schüler als Problemfall zu sehen. Er nennt seine Methode Liebe und er fordert viel, sowohl von sich und seinem Unterricht, wie auch von den Kindern.
Sicher ist nicht jeder Lehrer pädagogisch so begabt wie Stavros Louca; aber sein Glaube an die Möglichkeiten jedes Schülers und seine liebevolle Grundhaltung würden jene Menschlichkeit ins Schulzimmer bringen, die für freudvolles und erfolgreiches Lernen essenziell sind. So zeigt auch die aktuelle Psychologieforschung immer deutlicher, dass Kinder sich besser entwickeln, wenn ihre individuellen Stärken unterstützt werden. Wer sich mehr zutraut, ist auch zu mehr fähig.
Auch in unseren Schulen habe ich sehr gute und engagierte Lehrpersonen getroffen, die ressourcenorientiert und individuell unterrichten, die Schüler mit Problemen in erster Linie als Menschen sehen und ihre Stärken mehr gewichten als ihre Schwierigkeiten. Leider wird aber in der heutigen Lehrerausbildung immer noch wesentlich mehr Wert auf Didaktik als auf die soziale Kompetenz gelegt. Wenn Lehrer besser darauf vorbereitet würden, die Fähigkeiten und individuellen Stärken ihrer Schüler zu sehen und ihre Meinung über schwierige Kinder immer wieder zu hinterfragen, wäre bereits viel erreicht. Sehr viel.
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Dr. phil. Martina Degonda führt eine psychotherapeutische Praxis in Brugg und schreibt regelmässig für den Zeitpunkt.
Mehr zum Thema Bildung im Schwerpunktheft «Missbildung» (Zeitpunkt 133)
Zunächst stellt sich die Frage, wie solche Spontandiagnosen auf die Entwicklung und den schulischen Erfolg eines Kindes wirken. Mehrere Experimente haben sich mit dem Einfluss der Meinung einer Lehrperson auf die Leistungen eines Schülers oder gar einer ganzen Klasse befasst. Die bekannteste wurde 1965 von Rosenthal und Jacobson durchgeführt. Dabei wurde Lehrern einer Grundschule mitgeteilt, man habe bei 20 Prozent ihrer Schüler nach einem IQ-Test ein enormes Entwicklungspotential festgestellt. Tatsächlich wurden diese Schüler aber völlig willkürlich ausgewählt. Bei einem erneuten Test am Ende des Schuljahres steigerte beinahe die Hälfte dieser zufällig bestimmten Schüler ihren IQ um 20 Punkte, ein Fünftel gar um 30 Punkte. Viele weitere Untersuchungen, die mit unterschiedlichsten Settings repliziert wurden, gelangten mehr oder weniger zum gleichen Resultat: Die Erwartung von Lehrern hat entscheidenden Einfluss auf die Leistung der Schüler.
Dieser Effekt wird auch als selbsterfüllende Prophezeiung bezeichnet: Annahmen über andere Menschen bewahrheiten sich sehr oft, da wir unser Verhalten nach diesen Erwartungen richten. Konkret begegnen wir Menschen, von denen wir Positives erwarten, verständnisvoll, empathisch und mit Vertrauen. Genau umgekehrt verhält es sich, wenn wir negative Vorstellungen haben: Wir engagieren uns kaum und trauen dem anderen wenig zu. Die meisten von uns kennen diesen Effekt, der allerdings meist unbewusst abläuft. Er bezieht sich auch nicht spezifisch auf Lehrer-Schüler-Beziehungen, kann in diesen aber besonders starke Auswirkungen zeigen.
Wenn ich auf das anfangs beschriebene Telefonat unter dem Aspekt der selbsterfüllenden Prophezeiung zurückkomme, wird verständlich, warum es aus Sicht der Lehrerin das Sinnvollste gewesen wäre, Thomas in eine heilpädagogische Schule zu schicken, um seine Behinderung dort optimal anzugehen. Sie traute ihm nicht nur sozial, sondern auch leistungsmässig kaum mehr etwas zu, und dies, obschon der Junge keine geistige Behinderung hatte und durchaus lernfähig war.
Pathologisierende Spontandiagnosen haben in unserer gesamten Gesellschaft – und damit natürlich auch in den Schulen – stark zugenommen. Entspricht ein Kind nicht den gängigen Erwartungen, wird schnell ein passendes Etikett dafür gefunden. Derzeitige Renner sind ADHS bei unruhigen und ADS bei langsamen, verträumten Kindern, aber auch Autismus-Diagnosen sind im Vormarsch. Da sich heute viele Laien kompetent fühlen, empfehlen sie Eltern oder auch Fachpersonen gleich noch Ritalin. So würde das Kind wieder besser funktionieren!
Die Auswirkungen solcher Pathologisierungen sind oft dramatisch. Wenn sich Kinder mit ihren Schwierigkeiten nicht verstanden, sondern abgewertet fühlen, beginnen sie an sich und ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Meist führt dies zu weiterem auffälligem Verhalten, das wiederum negativ wahrgenommen und kommentiert wird. Hilf- und Hoffnungslosigkeit steigen sowohl auf Seite der Schule, der Eltern wie auch der Schüler und am Schluss sind kaum mehr konstruktive Lösungen möglich. So beginnen viele schulische und berufliche Laufbahnen, die schliesslich mit einer frühzeitigen IV-Berentung enden. Diese haben bei den 18- bis 24-Jährigen zwischen 2008-2012 um 13 Prozent zugenommen und sind meist psychisch begründet. Dadurch erhalten die Betroffenen ein weiteres Mal die Bestätigung, dass sie für unsere Gesellschaft keinen Wert mehr haben und ihnen niemand mehr etwas zutraut. Den Staat kommt es ebenfalls teuer zu stehen, da Menschen mit früher Berentung kaum mehr beruflich integrierbar sind und lebenslänglich finanziell unterstützt werden müssen. Leider dürften aufgrund des neuen Manuals der Psychiatrie (DSM-V) bei Kindern Diagnosen psychischer Krankheiten eher noch zunehmen. So gelten nun auch leichte Vergesslichkeit, Aufmüpfigkeit bei kleinen Kindern oder eine mehr als 14-tägige Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen als psychische Krankheiten. So ist zu befürchten, dass in nächster Zeit noch mehr junge Menschen als krank eingestuft und gesellschaftlich ausgegrenzt werden.
Dass es auch anders geht, belegt ein eindrucksvolles Schul-Experiment in Schweden, das über mehrere Monate vom Fernsehen begleitet wurde. Die Klasse 9a der Johannes-Schule in Malmö schnitt in Vergleichstests als eine der schlechtesten Klassen ganz Schwedens ab. Das ebenso einfache wie umstrittene Experiment bestand nun darin, die alten Lehrer der 9a durch acht Pädagogen zu ersetzen, deren Schüler regelmässig weit überdurchschnittliche Ziele erreichten und die Entwicklung zu beobachten. Trotz grösster Bedenken vieler Experten und der Schüler selbst, die längst nicht mehr an sich und ihre Leistungsfähigkeit glaubten, entwickelte sich die Klasse in einem halben Jahr zu einer der besten des Landes. In den nächsten landesweiten Tests erreichte die Klasse den dritten Platz, in Mathematik sogar mit Abstand den ersten.
Welche Faktoren bewirkten dieses fulminante Ergebnis? Die Antwort verbirgt sich vielleicht im Unterricht des Mathelehrers Stavros Louca, des herausragendsten Pädagogen: Er ist von der Kraft des Respekts und der positiven Verstärkung überzeugt – und davon, dass jeder (!) Schüler Spitzenleistungen erbringen kann. Er weigert sich strikt, auch nur einen seiner Schüler als Problemfall zu sehen. Er nennt seine Methode Liebe und er fordert viel, sowohl von sich und seinem Unterricht, wie auch von den Kindern.
Sicher ist nicht jeder Lehrer pädagogisch so begabt wie Stavros Louca; aber sein Glaube an die Möglichkeiten jedes Schülers und seine liebevolle Grundhaltung würden jene Menschlichkeit ins Schulzimmer bringen, die für freudvolles und erfolgreiches Lernen essenziell sind. So zeigt auch die aktuelle Psychologieforschung immer deutlicher, dass Kinder sich besser entwickeln, wenn ihre individuellen Stärken unterstützt werden. Wer sich mehr zutraut, ist auch zu mehr fähig.
Auch in unseren Schulen habe ich sehr gute und engagierte Lehrpersonen getroffen, die ressourcenorientiert und individuell unterrichten, die Schüler mit Problemen in erster Linie als Menschen sehen und ihre Stärken mehr gewichten als ihre Schwierigkeiten. Leider wird aber in der heutigen Lehrerausbildung immer noch wesentlich mehr Wert auf Didaktik als auf die soziale Kompetenz gelegt. Wenn Lehrer besser darauf vorbereitet würden, die Fähigkeiten und individuellen Stärken ihrer Schüler zu sehen und ihre Meinung über schwierige Kinder immer wieder zu hinterfragen, wäre bereits viel erreicht. Sehr viel.
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Dr. phil. Martina Degonda führt eine psychotherapeutische Praxis in Brugg und schreibt regelmässig für den Zeitpunkt.
Mehr zum Thema Bildung im Schwerpunktheft «Missbildung» (Zeitpunkt 133)
18. September 2014
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